Nachdem Gott diese beiden Grundsätze festgestellt hat, – einerseits Seine Liebe und Seine Wahl der Gnade, anderseits Seine Gerechtigkeit und Heiligkeit, die das Böse nicht ungestraft lassen kann, – geht Er nun auf den gegenwärtigen Zustand des Volkes, das Er geliebt hatte, ein. Hatte Israel sich dieser Liebe entsprechend verhalten, oder hatte es vielmehr Gericht verdient? Das werden wir in Kapitel 1,6 – 2 sehen

Der einzige Unterschied zwischen Israel und Edom ist der, dass es in Israel einen Überrest nach Wahl der Gnade geben wird. Dieser Überrest wird ein Beispiel davon sein, wie Gott seinen Hass gegen die Sünde und Seine Liebe zu dem Sünder zu vereinbaren weiß. Nun, wir wissen, dass das Kreuz Christi der einzige Ort ist, wo die Gerechtigkeit Gottes sich darin offenbart, dass sie den Sünder rechtfertigt, anstatt ihn zu verdammen.

Wenden wir uns jetzt wieder dem Propheten Maleachi zu. Wir wollen zunächst den sittlichen Zustand Israels, das so viele Vorrechte besaß untersuchen. Kapitel 1,6 – 2,9 beschreibt den Zustand des Priestertum dann finden wir in Kapitel 2,10 – 17 den des Volkes.

Der Priester war zugleich der Mittler zwischen Gott und dem Volk und der Vertreter des Volkes vor Gott; aber hier hat er mehr den Charakter eines Menschen, der Gottesdienst ausübt. Wenn das Volk aufmerksam auf die Stimme des HERRN gehört hätte, wäre es insgesamt ein „Königreich von Priestern und eine heilige Nation“ geworden. (2. Mose 19,6). Statt dessen aber hat Israel am Fuß des Sinai mit seiner ersten Tat unter Verantwortung, der Errichtung des goldenen Kalbes, jedes Recht verloren, diesen Dienst auszuüben.

Gott prüfte Sein Volk dann mit großer Geduld. Aber es stellte sich nun heraus, dass es seine verloren gegangenen Vorrechte auf dem Boden der Verantwortung nicht zurückgewinnen konnte. Darauf schuf Gott ein neues allgemeines Priestertum, indem Er Seine Versammlung für Sich absonderte. Hat nun deren praktische Offenbarung dem ihr anvertrauten Priestertum entsprochen? Die Geschichte der bekennenden Christenheit gibt darauf eine eindeutig negative Antwort. Trotzdem behauptet sie, durch ihren Gottesdienst in Verbindung mit Gott zu stehen. Sie führt zwar den Namen Gottesdienst im Munde, hat dessen Bedeutung aber völlig vergessen. Selbst die Gläubigen in ihrer Mitte legen dieselbe Unkenntnis an den Tag. Ohne Zweifel sind sie in den Augen Gottes tatsächlich alle Priester, aber sie verwirklichen das nicht mehr in der Praxis. Israel ist also nicht das einzige Beispiel von Unwissenheit über die Verehrung, die Gott rechtmäßigerweise von Seinem Volk erwarten kann.

„Ein Sohn soll den Vater ehren, und ein Knecht seinen Herrn. Wenn ich denn Vater bin, wo ist meine Ehre? und wenn ich Herr bin, wo ist meine Furcht? spricht der HERR der Heerscharen zu euch, ihr Priester, die ihr meinen Namen verachtet“ (Vers 6).

Wenn auch die hier erwähnten familiären Beziehungen damals wie heute lockerer wurden, ließ man es doch noch gelten, dass der Sohn seinen Vater ehren und der Knecht seinen Herrn fürchten sollte. Nun, Gott war Vater und Herr zugleich. Aber die Priester verachteten Seinen Namen und fragten dabei noch: „Womit haben wir deinen Namen verachtet?“ Gott antwortet ihnen: „Ihr bringt unreines Brot auf meinem Altar dar und doch sprecht ihr: Womit haben wir dich verunreinigt? Damit, dass ihr sagt: der Tisch des HERRN ist verächtlich.“ Ihre Frage war symptomatisch für die Unkenntnis, die wir soeben erwähnt haben: Unkenntnis des Charakters Gottes, dessen, was sie Ihm schuldig waren, und Unkenntnis der Schuld, die sie auf sich geladen hatten.

Wenden wir diese Verse auf das an, was in der bekennenden Christenheit geschieht! Sie gibt vor, Gottesdienst auszuüben und das Abendmahl zum Gedächtnis an das Opfer Christi zu feiern. Was wird aber damit verbunden – Reinheit oder Verunreinigung? Sind es Sünder oder von ihren Sünden gereinigte Heilige, die sich dort einfinden? Und dort sagt man: Womit haben wir Deinen Namen verunreinigt, oder womit haben wir Dich entweiht? Haben wir damit Böses getan? Haben wir nicht unsere religiösen Pflichten genau erfüllt? „Damit, dass ihr sagt“, antwortet Gott, „Der Tisch des HERRN ist verächtlich!“ Das will nicht sagen, dass diese Worte tatsächlich ausgesprochen werden; aber ihre Taten beweisen, welchen Wert sie dem HERRN und Seinem Tisch beimessen. „Und wenn ihr Blindes darbringt, um es zu opfern, so ist es nichts Böses; und wenn ihr Lahmes und Krankes darbringt, so ist es nichts Böses. Bringe es doch deinem Landpfleger dar: wird er dich wohlgefällig annehmen, oder Rücksicht auf dich nehmen? spricht der HERR der Heerscharen“ (Vers 8). Was bietet der religiöse Mensch aller Zeiten Gott an, und was tut er für Ihn? Er tut in der Öffentlichkeit Werke, die ihn in der Augen der Menschen ehren. Das Pharisäertum, sei es jüdisch oder christlich, hat nur diesen Beweggrund. Die Menschen reden aufgrund der guten Werke über ihn – aber was kann jemand, der Gott nicht kennt, Ihm im Verborgenen anderes darbringen als „ein krankes Tier“?

Was sollen wir denn tun, um Gott zu gefallen?, fragt man dann. Dieses „und nun, fleht doch Gott an, dass er uns gnädig sei! – von eurer Hand ist das geschehen, – wird er um euretwillen Rücksicht haben? spricht der HERR der Heerscharen“ (Vers 9).

Tut Buße, verlasst eure Wege, fleht zu Gott, ruft Seine Gnade an! Das ist eure einzige Rettung, das einzige Mittel, um Ihm Sein Wohlgefallen zu erlangen. Ihr könnt keine guten Werke tun, euer Verhalten beweist es. Was in euren Augen Wert hat, sind für Gott nur tote Werke, von denen euer Gewissen gereinigt werden muss (Heb 9,14).

„Wäre doch nur einer unter euch, der die Türen verschlösse, damit ihr nicht vergeblich auf meinem Altar Feuer anzündet! Ich habe keine Lust an euch, spricht der HERR der Heerscharen, und eine Opfergabe nehme ich nicht wohlgefällig aus eurer Hand an“ (Vers 10).

Wir finden hier einen weiteren Charakterzug des gefallenen Priestertums: den Eigennutz, der den Menschen beim Gottesdienst leitet. Er kann gar nicht anders handeln, weil er Gott nicht kennt. Darum kündigt Gott ein vollständiges Gericht über dieses leblose Bekenntnis an, zu dem er nicht die geringste innere Beziehung hat: „Ich habe keine Lust an euch, und eine Opfergabe nehme ich nicht wohlgefällig aus eurer Hand an!“

„Denn vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang wird mein Name groß sein unter den Nationen; und an jedem Orte wird geräuchert, dargebracht werden meinem Namen, und zwar reine Opfergaben. Denn mein Name wird groß sein unter den Nationen, spricht der HERR der Heerscharen“ (Vers11).

Der Prophet erklärt hier, dass Gott Sich zu den Nationen wenden will. Das ist in der Tat eingetreten. Gott überließ Sein Volk dem Gericht, und das Evangelium wurde den Nationen verkündigt. Eine große Menge bekehrte sich, um dem lebendigen und wahren Gott zu dienen und ihre Hoffnung auf Christus zu setzen. Dieses prophetische Wort kann also unmittelbar auf die Segnung der Nationen durch das Evangelium angewandt werden, aber es reicht noch weiter. Der Heilige Geist lenkt unsere Gedanken auf eine zukünftige Zeit, wenn die Nationen dem Gott Israels eine reine Opfergabe darbringen werden. Diese Tatsache finden wir in allen Prophezeiungen des Alten Testaments. Sie wird aber erst nach dem endgültigen Gericht über das abtrünnige Israel und seine Unterdrücker in Erfüllung gehen. Dann wird eine unzählbare Menge aus den Nationen vor dem Thron und vor dem Lamm stehen (Off 7). An jedem Ort, nicht nur im Tempel von Jerusalem, wird dem großen Namen des HERRN geräuchert werden.

„Ihr aber entweiht ihn, indem ihr sprecht: Der Tisch des Herrn ist verunreinigt, und sein Einkommen, seine Speise ist verächtlich. Und ihr sprecht: Siehe, welch eine Mühsal“ (Verse 12–13)! Gott sah, was in den Herzen der Priester in Israel vorging. Die bekennende Christenheit bietet dasselbe Schauspiel. Die Freude der Gegenwart Gottes, die Gemeinschaft mit Ihm und die Wertschätzung des Opfers Christi sind ihr unbekannt und entlocken ihr nur ein Wort: Welch eine Mühsal! Kann sie das Glück fassen, das die Gläubigen in der Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn genießen? Kann sie sich an dem Worte Gottes erfreuen, dessen Verständnis allein durch den Heiligen Geist möglich ist?

„Und ihr blast ihn an, spricht der HERR der Heerscharen“ (Vers 13). Die Offenbarung Gottes und Christi ist für den Menschen nur eine unbequeme Last, deren er sich zu entledigen sucht. Sie bringt für sein Herz und Gewissen keinen Gewinn, weil weder sein Herz noch sein Gewissen vor Gott geübt sind. Die Welt ist der Meinung, dass Zerstreuung und Vergnügen dem wahren Gottesdienst vorzuziehen sind. Kann der Herr Opfer annehmen, die Ihm unter solchen Bedingungen dargebracht werden? Sogar das, was sie als Gelübde, also als eine freiwillige Gabe opferten, war nur „ein Verdorbenes“ (Vers14). Der Anschein äußeren Eifers genügte ihnen.

Fassen wir nun die Charakterzüge des gefallenen Priestertums, wie sie uns in diesem ersten Kapitel vorgestellt werden, zusammen. Zunächst finden wir eine völlige Unkenntnis der Liebe Gottes, dann Seiner Heiligkeit und schließlich einen großen Mangel an Gottesfurcht. Der Tisch des HERRN wird verunreinigt. Wertlose Gaben werden wegen des äußeren Scheins dargebracht. Egoismus ist der Beweggrund jedes Gottesdienstes Ein solcher Mangel an innerer Wirklichkeit des religiösen Lebens ruft schließlich Überdruss und Widerwillen gegen göttliche Dinge hervor.

Möchte Gott uns vor diesem Geist und diesen religiösen Neigungen bewahren, denen unsere natürlichen Herzen nur zu gerne erliegen! Gott fordert von uns keinen eitlen Schein, sondern Wahrheit im Herzen. Unsere Werke müssen unseren Worten, die Worte unserem Herzenszustand entsprechen. Glücklich derjenige, von dem der Herr Jesus sagen kann: „Siehe, wahrhaftig ein Israelit, in welchem kein Trug ist!“