Der zweite Teil von Kapitel 2 behandelt einen neuen Gegenstand. Es geht nicht mehr um das Priestertum, sondern um das Volk.

Vers 10 scheint ein allgemeines Bekenntnis darzustellen: „Haben wir nicht alle einen Vater? Hat nicht ein Gott uns geschaffen? Warum handeln wir treulos einer gegen den anderen, indem wir den Bund unserer Väter entweihen?“ Es klingt wie ein Wort der Reue im Munde Judas, das sich später verwirklichen wird, wenn der Überrest seine Sünde erkennen wird. Wie die Priester den Bund Levis zerstört hatten (Vers8), so hatte das Volk den Bund seiner Väter entweiht. Waren sie denn nicht alle Kinder eines Vaters, Geschöpfe eines Gottes? Es handelt sich hier nicht um das Verhältnis zum Vater, das der Herr Jesus hier auf der Erde offenbart hat. Die Grundlage hierzu war das Werk am Kreuz, und erst bei Seiner Auferstehung konnte die neue Wahrheit verkündigt werden (Joh 20,17). An diesem Verhältnis haben nur die Christen teil. Im Alten Testament war es nicht offenbart, und das jüdische Volk als solches wird niemals in diese Beziehung zu Gott gelangen. Die vorliegende Stelle bezieht sich dagegen auf alle Menschen, seien es Juden oder Heiden, obwohl auch die Gläubigen darin eingeschlossen sind.

Darum heißt es in Epheser 4,6: „Da ist ein Gott und Vater aller, der da ist über allen und durch alle und in uns allen.“ Von diesem Verhältnis spricht auch unsere Stelle. Die Juden waren Brüder, von demselben Gott geschaffen. Handeln Brüder treulos gegeneinander? Sollte nicht ihr gemeinsamer Ursprung Gefühle der Liebe und des gegenseitigen Wohlwollens in ihren Herzen hervorrufen? Der Vorwurf, der in diesem Vers enthalten ist, entspricht dem an die Priester in Kap.1,6 „Wenn ich denn Vater bin, wo ist meine Ehre? und wenn ich Herr bin, wo ist meine Furcht?“ Nur legt der Geist Gottes diese Worte hier nicht in den Mund des HERRN, sondern in den Mund derer, die ein Bewusstsein des traurigen Zustandes hatten, in den Israel gefallen war.

Leider stellte dieser 10. Vers damals keineswegs den sittlichen Zustand des Volkes dar. Sie bekannten ihre Sünden nicht, sondern: „Juda hat treulos gehandelt, und ein Greuel ist verübt worden in Israel und in Jerusalem; denn Juda hat das Heiligtum des HERRN entweiht, welches er liebte, und ist mit der Tochter eines fremden Gottes vermählt“ (Vers11). Zwei Züge kennzeichnen hier den sittlichen Zustand des Volkes: Unheiligkeit und Treulosigkeit. Diese Beschuldigung erinnert uns an das Ende des Buches Nehemia. Trotz aller Ermahnungen Esras an das Volk und die Priester hatte das Volk nicht aufgehört, sich mit götzendienerischen Frauen zu verbinden, und die Priester waren ihm darin vorangegangen. Maleachi spielt auf diese geschichtliche Begebenheit an. Juda hatte nicht nur den Bund der Väter entweiht, sondern auch das Heiligtum des HERRN, das sie mit eigener Hand wiederaufgebaut hatten. Es hatte sich mit der Tochter eines fremden Gottes vermählt (Neh 13,23–31). Die aus der Gefangenschaft zurückgekehrten Juden übten keinen Götzendienst mehr aus. Aber die Verbindung mit dem Götzendienst war ebenso verwerflich wie die Götzen selbst, und das um so mehr, weil der Dienst des wahren Gottes damit verbunden wurde.

Gerade so verhält es sich auch mit Christen, die sich mit der Welt verbinden. Ob diese sich nun christlich nennt oder nicht – sie bleibt doch immer dieselbe Welt, die unseren Heiland gekreuzigt hat. Eine Verbindung von Gläubigen mit ihr kann keinen Bestand haben. Notwendigerweise muss ein Augenblick kommen, in dem das edle Metall von den Schlacken und das Unkraut von dem Weizen abgesondert wird, um verbrannt zu werden. Auch hier heißt es: „der HERR wird den Mann, der solches tut, aus den Zelten Jakobs ausrotten“ (Vers 12).

Weiterhin hatten sie, wahrscheinlich infolge ihrer sündigen Beziehungen zu den Götzendienern, treulos gegen ihre eigenen Frauen gehandelt: „Und zweitens tut ihr dieses: Ihr bedeckt den Altar des HERRN mit Tränen, mit Weinen und Seufzen, sodass er sich nicht mehr zu eure Opfergabe wendet, noch Wohlgefälliges aus eurer Hand annimmt. Und ihr sprecht: Warum? Weil der HERR Zeuge gewesen ist zwischen dir und der Frau deiner Jugend, an der du treulos gehandelt hast, da sie doch deine Genossin und die Frau deines Bundes ist“ (Vers13–14). Die Juden entließen ihre rechtmäßigen Frauen, um Götzendienerinnen heiraten zu können. Die bedauernswerten Verstoßenen bedeckten dann den Altar des HERRN mit Weinen und Seufzen, während ihre Männer am gleichen Ort ihre Opfer darbringen wollten. Diese säten so Schmerz und Verderben und übertraten den göttlichen Bund, der bei der Schöpfung zwischen Mann und Frau eingesetzt wurde. Am Anfang hatte Gott eine Gefährtin für Adam bereitet. „Und hat nicht einer sie gemacht? Und sein war der Überrest des Geistes. Und was wollte der eine? Er sucht einen Samen Gottes.“ Selbst wenn sie das, was Gott bei der Schöpfung eingesetzt hatte, gebrochen hatten, besaß dieses Volk nach Haggai 2, doch noch „den Überrest des Geistes“ in der Person einiger Treuer, die sich, wie wir in Kapitel 3 sehen werden, in ihrer Mitte befanden. Warum hatte dieser eine Gott die Ehe zwischen dem ersten Mann und der ersten Frau eingesetzt? Weil Er einen „Samen Gottes“ suchte. Nur auf diese Weise konnte Gott ein Volk für Sich besitzen, und nicht auf der Grundlage unheiliger Verbindungen, deren Urheber Satan war.

Der Prophet fügt hinzu: „So hütet euch in eurem Geist, und handle nicht treulos gegen die Frau deiner Jugend! Denn ich hasse Entlassung spricht der HERR, der Gott Israels; und er bedeckt mit Gewalttat sein Gewand, spricht der HERR der Heerscharen“ (Vers15–16). Die Priester hatten sich verunreinigt, das Volk hatte seine Kleider mit Gewalttat befleckt, indem es die geheiligten Bande der Ehe zerriss und so seiner Treulosigkeit eine weitere Sünde hinzufügte.

Alle Charakterzüge, die wir soeben beschrieben haben, sind moralisch auch diejenigen der Christenheit unserer Tage. Die Beziehungen zwischen den Kindern eines Vaters sind abgebrochen. Alle Bande, die Gott eingesetzt hat, sind gelockert. Dagegen ist die Verbindung mit der Welt zur Regel geworden. Götzen haben die Herzen eingenommen, Verderben und Gewalttat herrschen überall. Der christlichen Welt ist das Urteil Gottes über sie gleichgültig. Sie fragt nur nach der Meinung der Menschen. Wenn Gott ihr ihren Zustand vor Augen führt, um so ihr Gewissen zu erreichen, antwortet sie: Warum? Der Name des HERRN wird mit Bösem in Verbindung gebracht, als ob Gott es billigen oder ertragen könnte. „Ihr habt den HERRN mit euren Worten ermüdet; und ihr sprecht: Womit haben wir ihn ermüdet? Damit dass ihr sagt: Jeder Übeltäter ist gut in den Augen des HERRN, und an ihnen hat er Gefallen; oder wo ist der Gott des Gerichts“ (Vers17)?

Wenn wir abschließend einen Rückblick auf das zweite Kapitel werfen, müssen wir feststellen, dass es nichts Erfreuliches darin gibt. Alles ist, um mit Jesaja zu reden, „Wunden und Striemen und frische Schläge; sie sind nicht ausgedrückt und nicht verbunden“. Ein einziger Lichtstrahl glänzt in dieser Finsternis: die Treue des wahren Levi. Dieser entspricht allen Wünschen des Herzens Gottes. Auf dieser Grundlage wird Gott trotz allem Seine Absichten der Liebe gegenüber denjenigen, die Er in Seiner Gnade mit Levi in Verbindung bringt, zur Ausführung bringen.