Zu dir, HERR, habe ich jeden Tag gerufen (Ps 88,10).

In der Überschrift dieses Psalms lesen wir, dass es sich um ein Lied handelt. Wenn wir den Psalm insgesamt lesen, bekommen wir den Eindruck, dass es um einen Trauergesang geht. Es gibt wenige Lichtpunkte zu sehen. Es ist der Klagegesang von jemandem, der in bitterer Not verkehrt: Er fühlt sich wie jemand, der für den Tod bestimmt ist, der von Gott und Menschen verlassen ist und keinen Ausweg mehr sieht. Eigentlich würden wir erwarten, dass sich das Licht zum Ende des Psalms hin Bahn bricht, das scheint jedoch nicht der Fall zu sein. Der düstere Schluss fasst die Atmosphäre dieses Psalms trefflich zusammen: einsam und von allen verlassen.

Dennoch hat Heman, der Esrachiter, der diesen Psalm gedichtet hat, nicht die Absicht gehabt, uns depressiv zu machen. Er ordnet seinen Psalm als Lehrgedicht ein, d.h. als ein Gedicht, in dem er übersetzt, welche Lektionen er in diesen schwierigen Umständen gelernt hat. Seine Botschaft ist nicht die, dass nach Schwierigkeiten eine Zeit kommt, in der man endlich verstehen darf, wofür das alles gut gewesen ist. Wir bekommen vielmehr den Eindruck, dass die Lektionen in den Umständen selbst zu finden sind. Als ihm alles genommen wird und er keine einzige Hoffnung mehr hat, entdeckt er, dass er seine Zuflucht im Gebet suchen muss. Dieser Mann hat beten gelernt! Er hat Tag und Nacht gebetet, jeden Tag, sowohl morgens, zu Beginn des neuen Tages, als die alte Last die Seele mit verstärkter Intensität niederdrückte, als auch im Lauf des Tages. Und auf unerklärliche Weise ist in dem Gebetskampf etwas ans Tageslicht gekommen: das Bewusstsein, dass der Herr der „Gott meines Heils“ ist, der Gott, den man trotz allem loben möchte, weil Er ein Gott der Güte, Treue, Gerechtigkeit und Kraft ist.

Vielleicht gibt es jemanden, der das liest und sich selbst in diesem Psalm begegnet. Auch wenn du durchs Todestal gehst, Er – der Herr, dein Hirte – ist bei dir. Fasse wieder Mut und strecke deine Hände nach Ihm aus.