Mit einem wahren Gefühl von der Größe Gottes vor seiner Seele erkennt Daniel in seinem Gebet den niedrigen Zustand des Volkes an. Gott ist seinem Bund treu gewesen, aber das Volk ist abgewichen von den Vorschriften und Geboten Gottes. Er erkennt an, dass dieser niedrige moralische Zustand die Wurzel ist für all die Trennung und Zerstreuung unter dem Volk. Er versucht nicht, den Tadel für die Trennung und Zersplitterung auf gewisse Einzelpersonen zu lenken, die vielleicht tatsächlich mit erhobener Hand gehandelt und die Wahrheit verdreht  und somit viele in den Irrtum geführt haben. Dies war, wie wir wissen, der Fall bei den Königen, Priestern und falschen Propheten. Aber er schaute über das Versagen von Einzelpersonen hinaus und erkennt das Versagen des Volkes als Ganzes an. Er sagt: „Wir haben gesündigt … unsere Könige, unsere Fürsten, unsere Väter, und … das ganze Volk des Landes.“

Persönlich hatte Daniel keinen direkten Anteil daran, dass die Zerstreuung gekommen war, die ungefähr 70 Jahre vorher stattgefunden hatte. Er konnte nur ein Kind gewesen sein, als Jerusalem zusammenbrach, und während seiner Gefangenschaft war wohl kaum jemand mehr dem HERRN hingegeben als er. Trotzdem, die Abwesenheit von persönlicher Verantwortlichkeit und viele Zeit, die verstrichen war, führten ihn nicht dazu, die Trennung und Zerstreuung zu ignorieren, noch die Schuld auf Einzelpersonen zu schieben, die schon lange nicht mehr da waren; im Gegenteil, er identifziert sich selbst mit dem Volk Gottes, und er erkennt an vor Gott, dass sie alle gesündigt haben. So ist es auch heute: Die Beschäftigung mit denen, die das Volk Gottes auseinandertreiben, kann uns blind machen für den wahren Grund der Trennungen: der niedrige Zustand, der unser hohes Bekenntnis begleitet hat.

Wir mögen keinen definitiven Anteil an der törichten vermessenen Handlung dieser wenigen gehabt haben, die  das direkte Zerstreuen des Volkes Gottes herbeigeführt haben, aber wir haben alle unser Teil gehabt an dem niedrigen Zustand, der diesen Zusammenbruch notwendig gemacht hat. Daniel versucht nicht, ihre Sünde abzuschwächen: Im Gegenteil, er erkennt an, dass sie ihre Sünden verschlimmert haben durch die Weigerung, auf die Propheten, die Gott gesandt hatte, zu hören. Nichts ist schlagender, als zu sehen, wie beständig das Volk Gottes zu jener Zeit, genau wie heute, die Propheten verfolgt hat. Wir lieben es nicht, dass unsere Gewissen aufgerüttelt werden, indem wir von unseren Fehlern hören. Einzugestehen, dass wir falsch sind oder etwas falsch gemacht haben (außer in sehr vagen und allgemeinen Formulierungen) ist zu demütigend für das „religiöse Fleisch“.

[Artikel entmommen aus: www.imglaubenleben.de – die Seite enthält eine Fülle von wertvollen Artikeln]