Vorwort

Bei einigen Lesern könnte die Frage aufkommen, welchen praktischen Nutzen es hat, sich in einzelne Vorschriften aus den Gesetzen Moses zu vertiefen, die auf Städte Bezug nehmen, die vor Tausenden von Jahren als Ausweg für Israeliten dienten, die sich des Totschlags schuldig gemacht hatten. Haben diese Gesetze für uns heute noch eine Bedeutung? Das Ziel dieser Studie ist es, aufzuzeigen, dass das in der Tat der Fall ist. Diese Vorschriften sind durchaus wertvoll für uns, denn sie haben eine weitreichende prophetische und geistliche Bedeutung, sowohl für Israel selbst als auch für die Versammlung Gottes in unserer Zeit.

Ein Andenken an diese alttestamentliche Einrichtung einer Anzahl Asylstätten lebt noch in unserer Rechtsprechung fort. Bis heute kommt es vor, dass Ausländer, die sich in ihrer Existenz bedroht fühlen, in den Gemäuern von Kirchen (d. h. Gotteshäusern) Schutz suchen, was durch die Justiz respektiert wird. Vielleicht kann man das als Relikt alttestamentlicher Vorschriften über die Zufluchtsstädte in Israel betrachten. In diesem Zusammenhang ist es interessant, zu wissen, dass in Holland bis vor einigen Jahrhunderten in Analogie der mosaischen Gesetzgebung sechs Zufluchtsstädte bestanden.

Es geht uns jedoch nicht so sehr um die Bedeutung einer irdischen Stadt oder eines fasslichen Heiligtums als Zufluchtsort für Ausländer, sondern vielmehr um den Wert der Versammlung Gottes als wahrer Zufluchtsstätte für jeden Glaubenden. Wir möchten aus den reichhaltigen Lektionen schöpfen, die in diesen alttestamentlichen Anordnungen für die Versammlung verborgen sind, die tatsächlich sowohl die Stadt als auch der Tempel des lebendigen Gottes ist.

Um die in Israel gebräuchliche Verfahrensweise in Bezug auf jemanden, der sich des Totschlags schuldig gemacht hatte und dann Zuflucht in einer dieser Asylstätten suchte, mehr vor Augen zu haben, folgt hier eine Übersicht über den praktischen Ablauf:

(1) Der Totschlag findet statt. Dabei werden zwei Möglichkeiten unterschieden: Totschlag mit oder ohne Absicht, was Gegenstand späterer Untersuchungen ist.
(2) Der Totschläger flieht in die nächstgelegene Zufluchtsstadt. Dadurch entkommt er zumindest vorläufig der Rache des „Bluträchers“, d. h. dem nächsten Verwandten des Opfers, der sich für dessen Sache einsetzt.
(3) Die Ältesten der Zufluchtsstadt empfangen den Totschläger und gewähren ihm vorläufig Asyl in ihrem Wohnort. Anschließend bereiten sie eine gerichtliche Untersuchung vor.
(4) Die Gerichtsverhandlung findet statt, und es wird klar, ob der Totschlag mit oder ohne Absicht geschehen ist. Geschah er absichtlich, handelt es sich um Mord, woraufhin der Mörder dem Bluträcher ausgeliefert werden muss.
(5) Im anderen Fall geht der Totschläger frei aus, was konkret bedeutet, dass er die Erlaubnis erhält, sich bleibend in der Stadt aufzuhalten, wobei seine Bewegungsfreiheit eingeschränkt bleibt. Er kann die Zufluchtsstadt nur dann verlassen und zu seinem früheren Erbteil zurückkehren, wenn der Hohepriester gestorben ist.

Kapitel 1

Zentrale Schriftstellen

Weil das Thema dieser Bibelstudie im Allgemeinen nicht so geläufig ist, kann es nicht schaden, die wesentlichen Schriftstellen kurz zu besprechen, die über die Einrichtung der Zufluchtsstädte handeln. Die Gesetze Moses bilden dabei den Ausgangspunkt. Darüber hinaus ist es für uns wichtig, die Berichte über die Eroberung und Verteilung des Landstrichs diesseits des Jordan sowie Kanaan selbst anzusehen. Schließlich gibt es dann noch den Rückblick auf die Inbesitznahme von Israels Erbteil, die der Chronikschreiber nach der Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft zu Papier brachte.

2. Mose
Die erste Erwähnung einer Zufluchtsstadt für den Totschläger begegnet uns schon ziemlich früh in der Schrift. Sie bildet einen Teil der Gesetzgebung vom Sinai. Hier wird noch nicht über eine bestimmte Anzahl von Städten gesprochen, die als Zufluchtsstätten in Israels zukünftigem Erbteil fungieren sollten. Stattdessen wird nur der Altar als Zufluchtsort für den Totschläger genannt: „Wer einen Menschen schlägt, dass er stirbt, soll gewiss getötet werden; hat er ihm aber nicht nachgestellt, und Gott hat es seiner Hand begegnen lassen, so werde ich dir einen Ort bestimmen, wohin er fliehen soll. Und wenn jemand gegen seinen Nächsten vermessen handelt, dass er ihn umbringt mit Hinterlist – von meinem Altar sollst du ihn wegnehmen, dass er sterbe“ (2. Mose 21,12–14).

Diese Vorschrift ist recht allgemein gehalten („einen Ort“), und aus dem Zusammenhang scheint es, dass wir hier an den Altar denken müssen, der sich an dem Ort befand, wo Gott bei seinem Volk wohnen wollte. Diese allgemeine Beschreibung lässt folglich die Möglichkeit einer späteren Ausweitung auf mehrere Zufluchtsstädte offen, die notwendig werden sollte, als das Volk im ganzen Land mit der Folge wohnen würde, dass der Abstand zum Altar (und zu Jerusalem) in vielen Fällen zu groß sein sollte. Die Strecke, die der Totschläger ablegen müsste, um der Rache des Bluträchers zu entfliehen, wäre zu lang und würde ihn in unmittelbare Lebensgefahr bringen (5. Mose 19,6).

Es ist bezeichnend, dass der Totschläger einen sicheren Schutzort beim Altar finden konnte, d. h. dem Ort, wo die stellvertretenden Opfer das Todesurteil erreichte. Die vier Hörner des Brandopferaltars im Vorhof der Stiftshütte sprechen von der Kraft der Versöhnung: Das Gnadenangebot geht gewissermaßen in alle Himmelsrichtungen aus. Somit ist es zu Recht der Ort, wo man vor dem Urteil in Sicherheit ist. Es ist der Ort bei Gottes Wohnung, wo man sich auf ein vollbrachtes Versöhnungswerk berufen kann. Diesem Altar werden beim Eintritt Israels ins Land noch weitere sechs Zufluchtsstädte hinzugefügt, sodass wir insgesamt auf sieben Ausweichstätten kommen, wohin der Totschläger Zuflucht nehmen konnte.

Dass der Altar in Jerusalem auch wirklich als Zufluchtsort benutzt wurde, wird allein aus den beiden Fällen in 1. Könige 1 und 2 deutlich, die dort erwähnt werden. Als Adonija vergeblich nach der Macht greift, flieht er anschließend ins Heiligtum Gottes und ergreift die Hörner des Altars. Vorläufig geht er frei aus, doch später wird er dennoch zu Tode gebracht, da er offensichtlich erneut eine Verschwörung gegen den gesetzlich amtierenden König schmiedet. Daraufhin flieht Joab, einer seiner Mitverschwörer, ebenfalls ins Zelt des HERRN. Der Tempel bestand damals noch nicht, doch hatte David für die Lade ein Zelt aufstellen lassen, wo sich auch der Brandopferaltar befand. Joab hält sich also an den Hörnern des Altars fest – doch vergebens. Er wird an Ort und Stelle getötet, weil er vorher unschuldiges Blut vergossen hat. Er war ein Mörder, da er absichtlich zwei Menschen umgebracht hatte.

Nebenbei möchten wir darauf hinweisen, dass es bei Adonija nicht um einen typischen Fall von Totschlag ging, sondern um einen Aufstand gegen den gesetzlich amtierenden König. Dennoch flieht er zum Altar, genauso wie es für einen Totschläger bestimmt war. Hieraus können wir schließen, dass das Antasten der Autorität des von Gott gegebenen Königs auf einer Stufe mit einem Angriff auf seine Person steht! Für die vorbildliche Auslegung unseres Themas ist das von Bedeutung, wie wir in Kapitel 2 sehen werden.

In den ersten Kapiteln des ersten Buches der Könige haben wir eigentlich noch einen dritten Fall, wobei dort Jerusalem selbst als Zufluchtsstadt auftritt. Simei, der dem gesalbten König geflucht hatte, ist nur so lange sicher, wie er sich innerhalb der Stadtmauern aufhält. Sobald er sich außerhalb derselben begibt, ist er ein Kind des Todes.

4. Mose
Am Ende des vierten Buches Mose, das die Wüstenreise beschreibt, finden wir ausführliche Anweisungen mit Bezug auf die Zufluchtsstädte. Das geschieht hinsichtlich des Einzugs ins Land Kanaan. Der Zug durch die Wüste mit Gottes Heiligtum in ihrer Mitte liegt nun fast hinter ihnen, und für das Volk ist es nun angebracht, sich auf die Inbesitznahme des Landes vorzubereiten.

4. Mose 35 spricht zunächst allgemein über die Städte, die die Israeliten den Leviten zur Wohnung geben sollten. Der Stamm Levi empfing kein Erbteil im Land (der HERR selbst war sein Erbteil), sondern wird über das ganze Land verstreut, um das Volk überall im Gesetz Gottes unterweisen zu können. Den Leviten werden insgesamt 48 Städte zugewiesen, d. h. die sechs Zufluchtsstädte plus 42 andere Städte, mit den zugehörigen Weideplätzen (V. 1–8).

Dieser eingeschränkte Landbesitz war scheinbar ausreichend, um ihren Bedürfnissen zu entsprechen. Es erinnerte die Leviten daran, dass ihr eigentliches Erbteil über alle irdischen Besitztümer weit hinausging. Die Größe ihrer Weideplätze scheint auf den ersten Blick etwas unklar zu sein. In Vers 4 wird von 1.000 Ellen gesprochen, wohingegen in Vers 5 von 2.000 Ellen die Rede ist. Eine mögliche Erklärung ist diese: Im ersten Fall geht es um die Länge, die von der Stadtmauer aus gerechnet wird, während es im zweiten Fall um die gesamte Länge der Weideplätze an jeder Seite der Stadt geht (dabei wird dann die Länge der Stadt selbst nicht mit eingerechnet).

Die Fortsetzung von Kapitel 35 enthält dann nähere Vorschriften bezüglich der sechs Zufluchtsstädte. Sie werden in 2 x 3 aufgeteilt, d. h. drei Städte im Gebiet diesseits des Jordan und drei in Kanaan selbst: „Und der HERR redete zu Mose und sprach: Rede zu den Kindern Israel und sprich zu ihnen: Wenn ihr über den Jordan in das Land Kanaan zieht, so sollt ihr euch Städte bestimmen: Zufluchtsstädte sollen sie für euch sein, dass ein Totschläger dahin fliehe, der einen Menschen aus Versehen erschlagen hat. Und die Städte sollen euch zur Zuflucht sein vor dem Bluträcher, dass der Totschläger nicht sterbe, bis er vor der Gemeinde gestanden hat zum Gericht. Und die Städte, die ihr geben sollt, sollen sechs Zufluchtsstädte für euch sein. Drei Städte sollt ihr geben diesseits des Jordan, und drei Städte sollt ihr geben im Land Kanaan; Zufluchtsstädte sollen sie sein. Den Kindern Israel und dem Fremden und dem Beisassen in ihrer Mitte sollen diese sechs Städte zur Zuflucht sein, dass jeder dahin fliehe, der einen Menschen aus Versehen erschlagen hat“ (4. Mose 35,9–14).

Nach einer ausführlichen Abhandlung des Unterschieds zwischen Totschlag mit und ohne Tötungsabsicht (das erste ist Mord) finden wir hier noch eine interessante Anordnung im Zusammenhang mit der Aufenthaltszeit des Totschlägers in der Zufluchtsstadt. Wenn sich herausgestellt hat, dass er jemanden unabsichtlich getötet hat, muss er „bis zum Tod des Hohenpriesters, den man mit dem heiligen Öl gesalbt hat“, in der Stadt bleiben. „Und nach dem Tod des Hohenpriesters darf der Totschläger in das Land seines Eigentums zurückkehren“ (V. 25.28). Erst nach dem Wechsel der Hohenpriesterschaft kommt der Totschläger zu einer vollständigen Begnadigung und kann zu seinem eigenen Erbteil zurück. Bis dahin gewährt Gottes Gnade ihm einen Platz in der Zufluchtsstadt und er braucht nicht um sein Leben bangen. Auch hier werden wir in Kapitel 2 sehen, welche vorbildliche Bedeutung mit dieser Anweisung verknüpft ist.

5. Mose
In 5. Mose 4,41–43 werden die drei Zufluchtsstädte diesseits des Jordan zum ersten Mal mit Namen genannt: „Damals sonderte Mose drei Städte diesseits des Jordan aus, gegen Sonnenaufgang, damit ein Totschläger dahin fliehe, der seinen Nächsten unabsichtlich erschlagen hat, und er hasste ihn vorher nicht – damit er in eine von diesen Städten fliehe und am Leben bleibe:
- Bezer in der Wüste, im Land der Ebene, für die Rubeniter,
- Ramot in Gilead für die Gaditer,
- Golan in Basan für die Manassiter“.
5. Mose 19 spricht über die drei Zufluchtsstädte im Land selbst. Hier sagt Mose, dass das Gebiet in drei Teile unterteilt werden sollte, damit der Totschläger so schnell wie möglich eine dieser Städte erreichen konnte, um nicht vorzeitig durch den Bluträcher umgebracht zu werden. In der Zufluchtsstadt war er vorläufig sicher, sodass sein Fall untersucht werden konnte. Ergab sich, dass er seinen Nächsten nicht in böser Absicht getötet hatte, konnte er in der Zufluchtsstadt bleiben. Hatte er ihn jedoch absichtlich getötet, so handelte es sich klar um Mord, wofür er mit seinem Leben bezahlen musste.

In diesem Kapitel begegnen wir noch einer wichtigen Anordnung, der soweit wir wissen, nie Folge geleistet worden ist: „Und wenn der HERR, dein Gott, deine Grenzen erweitert, so wie er deinen Vätern geschworen hat, und dir das ganze Land gibt, das er deinen Vätern zu geben verheißen hat (wenn du darauf achtest, dieses ganze Gebot zu tun, das ich dir heute gebiete, indem du den HERRN, deinen Gott, liebst und auf seinen Wegen wandelst alle Tage), so sollst du dir zu diesen dreien noch drei Städte hinzufügen, damit nicht unschuldiges Blut vergossen werde inmitten deines Landes, das der HERR, dein Gott, dir als Erbteil gibt, und Blutschuld auf dir sei“ (V. 8–10). Die Erweiterung des Gebietes, von dem hier die Rede ist, beruhte auf Gottes Verheißungen an die Erzväter. Abraham war verheißen worden, dass das Land sich „vom Strom Ägyptens bis an den großen Strom, den Strom Euphrat“ (1. Mose 15,18) ausdehnen sollte. Dieser Umfang wurde in gewisser Weise nur zur Zeit Salomos, des Friedefürsten, erreicht (1. Kön 5,1). Die endgültige Erfüllung dieser Verheißung steht jedoch noch aus, wenn der wahre Friedefürst gekommen sein wird, dessen Herrschaft sich „von Meer zu Meer und vom Strom bis an die Enden der Erde“ (Sach 9,9–10) ausdehnen wird.

Josua
Wir kommen jetzt zum Bericht der Eroberung Kanaans, so wie er uns im Buch Josua überliefert worden ist. In Josua 20 wird erneut betont, dass der Totschläger nur dann in der Zufluchtsstadt sicher ist, wenn er seinen Nächsten unabsichtlich ums Leben gebracht hat. Er erhält Asyl in der Stadt – die Ältesten nehmen (wörtlich „versammeln“) ihn zu sich in die Stadt auf (V. 4) – bis seine Sache vorgebracht wird. Wird seine Unschuld festgestellt, wird er dem Bluträcher nicht ausgeliefert und er muss bis zum Tod des Hohenpriesters in der Stadt bleiben. Erst danach darf er zu seinem Erbteil zurückkehren.

Die Übersetzung von Vers 6 ist verwirrend, weil der Eindruck erweckt wird, dass der Totschläger zwei Möglichkeiten hatte: Entweder bis zu seiner Gerichtsverhandlung in der Stadt bleiben zu müssen oder bis zum Tod des Hohenpriesters. Dieses „oder“ steht dort in Anführungszeichen, wäre allerdings am besten direkt weggelassen worden. Der Text ist hier tatsächlich sehr kurz gefasst, doch wird die Bedeutung klar, wenn man 4. Mose 35 hinzunimmt: Der Totschläger musste in jedem Fall solange in der Stadt bleiben, bis sein Fall behandelt worden war. Wurde er dann des Mordes für schuldig erachtet, wurde er dem Bluträcher ausgeliefert. War er unschuldig kam das zweite „bis“ von Vers 6 zum Tragen, indem er nämlich bis zum Tod des Hohenpriesters in der Zufluchtsstadt bleiben musste.


Hier in Josua 20 werden alle sechs Zufluchtsstädte aufgelistet, wobei mit den Städten im Land begonnen wird, bevor die Städte jenseits des Jordan erwähnt werden (vgl. V. 7–8):
(1) Kedes in Galiläa, im Gebirge Naphtali,
(2) Sichem im Gebirge Ephraim, und
(3) Kirjat-Arba, das ist Hebron, im Gebirge Juda,
(4) Bezer in der Wüste, in der Ebene, vom Stamm Ruben,
(5) Ramot in Gilead, vom Stamm Gad, und
(6) Golan in Basan, vom Stamm Manasse.
Wir sehen, dass immer der entsprechende Stamm genannt wird, in dessen Gebiet die Zufluchtsstadt „geheiligt“, d. h. abgesondert werden sollte. Bei den Zufluchtsstädten in Kanaan fällt auf, dass sich alle „im Gebirge“ befanden. Der Totschläger betrat also erhöhtes Gebiet, wenn er sich der Zufluchtsstadt näherte. Diese Städte im Gebirge bildeten leicht erkennbare Zufluchtsorte, die sich auf markanten Punkten in der Landschaft befanden.

In Josua 21 folgt dann die Verteilung der 48 Levitenstädte und damit auch der sechs Zufluchtsstädte. Der Stamm Levi bestand aus drei Familien (Geschlechtern), auf welche die Städte verteilt werden mussten: Die Kehatiter, Gersoniter sowie Merariter. Jede dieser Familien erhielt zwei Zufluchtsstädte. Zur ersten Familie gehörten die Nachkommen Aarons, des Priesters, und sie erhielten Hebron zugeteilt (eine bedeutsame Stadt, die bereits in den Geschichten der Erzväter vorkommt und in der David zum König gesalbt werden würde). Die übrigen Kehatiter erhielten Sichem zur Wohnstätte zugewiesen (eine ebenfalls bekannte Stadt aus der Zeit der Erzväter sowie der späteren Geschichte Israels).

Die Gersoniter konnten unter ihren Städten gleichermaßen zwei Zufluchtsstädte zählen: Golan in Basan, nördlich des Gebiets jenseits des Jordan sowie Kedes in Galiläa im Norden Kanaans. Die Merariter bekamen die übrigen zwei Zufluchtsstädte, die sich beide jenseits des Jordan befanden: Bezer in der Wüste und Ramot in Gilead. Diese Städte bestanden jeweils aus einer Stadt inklusive den umliegenden Weideplätzen (in der SV steht „Vorstädte“; 4. Mose 35,3 zeigt jedoch deutlich, dass dieses Gebiet für die Tiere bestimmt war).

1. Chronika
Schließlich haben wir, neben anderen Stellen, in 1. Chronika noch einzelne Angaben zur Verteilung des Landes unter Josua. Inzwischen sind Jahrhunderte ins Land gegangen. Israel ist unter die Nationen zerstreut worden und nur ein Überrest ist aus Babel zurückgekehrt. Dennoch lebt die Erinnerung an die ursprünglichen Segnungen des Volkes fort. In diesem Buch werden alle Zufluchtsstädte genannt, obwohl nur bei den zwei auffälligsten Zufluchtsstädten (Hebron und Sichem) erwähnt wird, dass sie Zufluchtsstädte waren (1. Chr 6,39–66).

Diese Erinnerung an die Geschichte ist wichtig in Zeiten der Wiederherstellung und Rückkehr zum alten Erbteil. 1. und 2. Chronika bilden eigentlich ein Ganzes mit Esra und Nehemia, welche die Rückkehr eines Überrests aus der babylonischen Gefangenschaft beschreiben. Es war eine durch Gott bewirkte Wiederherstellung, die auf eine Zeit großen Verfalls folgte. Wir können aus mehreren Stellen entnehmen, dass die Levitenstädte durch diesen Überrest wieder bewohnt wurden (1. Chr 9,1–2; Esra 2,70; Neh 11,3.20.25), was wir von den Städten jenseits des Jordan wohl nicht sagen können. Doch Hebron wird namentlich erwähnt (wenn auch mit seinem alten Namen Kirjat-Arba, vgl. Neh 11,25).

Zumindest ein Teil der ursprünglichen Vorrechte, mit denen Gott sie gesegnet hatte, wurde also durch diesen Überrest wieder genossen. Das gleiche gilt für diejenigen, die aus der Verwirrung (Babel = Verwirrung), wohinein das christliche Zeugnis geraten ist, zu den göttlichen Grundsätzen zurückkehren, worauf die Versammlung ursprünglich gegründet wurde und zu den Prinzipien, die ihr von Anfang an durch das Wort Gottes anvertraut worden sind. Sie dürfen die Segnungen des „verheißenen Landes“, d. h. das uns von Gott geschenkte Erbteil, wieder in Besitz nehmen. Auch die „Zufluchtsstädte“ stehen ihnen wieder offen, auch wenn sie vielleicht bekennen müssen, dass sie sich unwissend des Totschlags schuldig gemacht haben. Diese typologische Bedeutung der Zufluchtsstädte möchten wir uns jetzt näher anschauen.

Kapitel 2
Die vorbildliche Bedeutung der Zufluchtsstädte

Ausgangspunkt
Beim lesen des Alten Testaments dürfen wir stets davon ausgehen, dass alles „zu unserer Belehrung“ geschrieben worden ist (Röm 15,4). Das Alte Testament enthält bilderreiche Belehrungen für die Gläubigen der neuen Zeitepoche, die mit der Ankunft Christi im Fleisch begann und bis zu seiner Wiederkunft andauern wird. In diesen Belehrungen erfahren wir nicht nur viele Lektionen über Christus, sondern auch über uns selbst. Viele alttestamentliche Bilder finden ihre Erfüllung in der Tat in Christus (Er ist das vollkommene Opfer, der große Hohepriester, usw.), doch können wir auch in der Geschichte des Volkes Israels Bilder für die Gemeinde Gottes sehen.

In Israel wird uns, als Gemeinde Christi, ein Spiegel vorgehalten. So stellt der Apostel Paulus im ersten Korintherbrief fest, dass die Begebenheiten der Wüstenreise Israels „als Vorbilder für uns geschehen“ sind (1. Kor 10,6.11). In 1. Korinther 9 bemerkt er selbst in Bezug auf ein unauffälliges Detail der mosaischen Gesetzgebung, dass es eigentlich unsertwegen geschrieben wurde (1. Kor 9,9.10). Und in Galater 4 heißt es von einem Vorfall im Leben Abrahams, dem Vater aller Gläubigen, dass diese Dinge einen „bildlichen Sinn“ haben (Gal 4,24).
Deswegen ist es nicht zu weit hergeholt Lehren aus den alttestamentlichen Vorschriften über die Zufluchtsstädte zu ziehen. Natürlich ist das kein Freifahrtschein, um in unzulässiger Art und Weise zu allegorisieren, sondern wir möchten einfach von dem schriftgemäßen Grundsatz ausgehen, dass alles, was Israel widerfahren ist, als Vorbilder für uns geschrieben wurde. Man kann also eine Parallele zwischen Israel einerseits und der Versammlung andererseits ziehen. Im Alten Testament hat Gottes Reden nicht nur Israel, sondern auch uns im Auge. Und die Sprache der alttestamentlichen Bilder dürfen wir im Licht des Neuen Testaments interpretieren. Das Neue Testament wirft Licht auf das Alte Testament und macht es uns lebendig.

Die Stadt Gottes
Um uns nun konkret ein Bild davon zu machen, was die alttestamentlichen Zufluchtsstädte uns sagen möchten, müssen wir uns zuerst vor Augen halten, was die Bedeutung einer Stadt im Allgemeinen in der Schrift ist. Dabei müssen wir unsere Aufmerksamkeit vor allem auf die Bedeutung der Stadt schlechthin, d. h. der heiligen Stadt Jerusalem, der Stadt des großen Königs, richten. Diese Stadt ist nicht nur eine bestimmte Gesellschaft von Menschen, die dort zusammen wohnen, sondern vor allem:
- der Wohnort von Gott selbst, sowie
- der Sitz von Gottes Regierung.
Diese beiden Gedanken sind vorherrschend, wenn es in der Schrift um die Stadt Gottes geht (vgl. u.a. Ps 46, 48 und 87). Sie ist sowohl der Ort von Gottes Tempel als auch von Gottes Thron. Dort besteht Gottes Heiligtum und dort wohnt er, umgeben von seinem Volk, dass ihm in seiner Wohnung Huldigung darbringt (1). Gleichzeitig besteht dort auch Gottes Thron, denn Jerusalem ist die Stadt des großen Königs, sein Regierungssitz auf dieser Erde (2).

Im Neuen Testament finden wir diese beiden Kennzeichen in ihrem himmlischen und geistlichen Charakter wieder. Offenbarung 21 und 22 zeigen uns die verherrlichte Versammlung als das neue Jerusalem, die Stadt göttlichen Ursprungs, die aus dem Himmel herniederkommt. Sie ist Gottes Wohnort, Gott selbst ist ihr Tempel und das Lamm. Eine Trennung zwischen dem Heiligtum und dem übrigen Teil der Stadt ist hier überflüssig, weil alles vollkommen mit Gottes Gedanken in Übereinstimmung ist (Off 21,22). Darüber hinaus bildet diese Stadt das himmlische Zentrum der Regierung Gottes, denn in ihr sehen wir den Thron Gottes und des Lammes (Off 22,1.3).

Doch was dann einmal in Vollkommenheit gesehen werden wird, gilt grundsätzlich bereits jetzt: Die Versammlung ist Gottes Lichtträger und verbreitet auf der Erde göttliches Licht, d. h. die Kenntnis seiner Gedanken. Bereits zu Beginn des Neuen Testaments begegnen wir dem Bild einer Stadt als Andeutung der Ganzheit der Gläubigen. In Matthäus 5 spricht Christus zu seinen Jüngern: „Ihr seid das Licht der Welt; eine Stadt, die oben auf einem Berg liegt, kann nicht verborgen sein ... lasst euer Licht leuchten vor den Menschen“ (V. 14–16).

Deshalb heißt es in Epheser 2,19 als eines unserer heutigen Vorrechte, dass wir „Mitbürger der Heiligen und Hausgenossen Gottes“ geworden sind. Gott sieht seine Kinder bereits jetzt als Bürger seiner Stadt und Angehörige seines Hauses. Hieraus geht einmal mehr hervor, wie eng der Gedanke der Stadt Gottes mit dem des Tempels verbunden ist. Die Stadt Gottes ist tatsächlich eine „Tempelstadt“, wo das ganze Leben durch den Dienst Gottes geprägt ist. Vergleiche dazu auch Galater 4,26 und Hebräer 12,22 (dort im Gegensatz zum Judentum).


Bei den alttestamentlichen Bildern, mit denen wir uns jetzt beschäftigen, begegnen wir jedoch mehreren Städten. Wie müssen wir das verstehen? Es ist so, dass wir es in der Praxis meistens nicht mit der Versammlung Gottes als Ganzem zu tun haben, sondern mit mehreren örtlichen Versammlungen. Jede örtliche Versammlung ist dabei eigentlich der Ausdruck, bzw. die Reflektion der ganzen Versammlung Gottes. Die ganze Versammlung ist das Haus Gottes – auch die örtliche Versammlung trägt diesen Charakter. Die ganze Versammlung ist der Leib Christi – gleichermaßen ist die örtliche Versammlung „Leib Christi“. Die ganze Versammlung ist die Braut Christi – auch für die örtliche Versammlung hat dies seine Gültigkeit (vgl. 1. Kor 3,9.16; 12.27; 2. Kor 11,2–3).

Genauso lässt sich dieser Grundsatz auf die Versammlung als Stadt Gottes anwenden. Die ganze Versammlung ist Gottes Lichtträger, der Sitz seiner Regierung, die Stadt, welche himmlisches Licht über die Erde verbreitet (was bald in Vollkommenheit im neuen Jerusalem gesehen werden wird). Ebenso verhält es sich mit jeder örtlichen Versammlung, die ein „Erhaltungsort“ des Lichtes Gottes ist, ein Ort, wo Gott regiert, eine Stadt, die auf einem Berg liegt und einen deutlichen Lichtpunkt inmitten einer dunklen Welt ausmacht.

Wir kommen nun zur Bedeutung einer „levitischen Zufluchtsstadt“. So wie die Stadt allgemein von der Versammlung Gottes als seinem Regierungssitz redet, gibt die levitische Zufluchtsstadt diesem Gedanken einen speziellen Charakter. Die levitische Zufluchtsstadt war keine „gewöhnliche“ Stadt, sondern diente in erster Linie als Wohnort für die Leviten. In dieser Stadt war die Erkenntnis von Gottes Gedanken zu finden, d. h. göttliches Licht. Denn eine Aufgabe der Leviten bestand darin, das Volk Gottes über das Gesetz zu belehren (Neh 8,7). Genauso gibt es heute Diener in der Versammlung Gottes und jeder örtlichen Versammlung, die die Gläubigen aus dem Wort Gottes unterrichten. Wir haben hier die Versammlung als „Pfeiler und Grundfeste der Wahrheit“ vor uns.
Das zweite Kennzeichen einer levitischen Zufluchtsstadt bestand darin, als Zufluchtsort für Totschläger zu dienen. Welche Bedeutung hatte diese Funktion für Israel und welche Belehrung ist damit für die Versammlung Gottes heute verbunden?

Die prophetische Bedeutung der Zufluchtsstädte für Israel
Schon in den Büchern Mose enthält der Text oft nicht nur eine strikt buchstäbliche, sondern auch zukünftige, prophetische Reichweite für Israel (und darüber hinaus dann noch eine dritte, geistliche Bedeutung für die Gemeinde Gottes). Es sind nicht allein die sogenannten prophetischen Bücher, sondern das ganze Alte Testament, das auf das Kommen des Messias und die Errichtung seines Friedensreiches hinweist. Selbst bei den zeremoniellen Gesetzen Moses können wir das feststellen. So weisen beispielsweise die Vorschriften des Sabbat- und Jubeljahres letztlich auf die Zeit der Sabbatsruhe hin, die dann für die Erde anbrechen wird.

Genauso verhält es sich mit den Gesetzen der Zufluchtsstädte: Sie weisen prophetisch auf die Endzeit hin, wenn der Überrest Israels in das Land seines Erbteils zurückkehren wird, um es in Besitz zu nehmen. Ebenso wie Kain am Anfang der Menschheitsgeschichte hat sich auch Israel des Totschlags schuldig gemacht. Die Sünde Adams und Evas richtete sich gegen Gott, wogegen sich die Kains gegen seinen Nächsten richtete, seinen Bruder Abel. So hat Israel den wahren Nächsten, der an Blut und Fleisch teilnahm, um seinen Brüdern gleich zu werden (Heb 2,14) und ihnen zu helfen, ums Leben gebracht. Christus wurde durch die Seinen, d. h. sein eigenes Volk Israel, nicht angenommen. Die Seinen verwarfen ihn (übrigens zusammen mit den Nationen, namentlich den Römern, die durch ihren Anteil an dieser Verwerfung noch ein besonderer Gegenstand der endzeitlichen Gerichte darstellen, wie uns das Buch der Offenbarung zeigt).

Fand der Totschlag des Messias nun ohne Absicht statt, sodass Gott in seiner Gnade eine Regelung für den Totschläger finden konnte, oder ging es um einen bewussten Brudermord, der eine gerechte Vergeltung forderte? Die Antwort ist, dass sowohl das eine als auch das andere wahr ist!

Einerseits gab es Gnade für Israel und wurde der Tod Christi ihnen nicht als Mord mit Tötungsabsicht angerechnet. Das geschah durch die Fürbitte Christi, der am Kreuz ausrief: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“ (Lk 23,34). Dadurch konnte Petrus später sagen: „Und jetzt, Brüder, ich weiß, dass ihr in Unwissenheit gehandelt habt, so wie eure Obersten“ (Apg 3,17). Die Kreuzigung Christi wird deshalb als ein unabsichtlicher Totschlag angesehen mit der Folge, dass ein Ausweg vorgestellt wird. Die Zufluchtsstadt wird für sie geöffnet und Petrus ruft sie auf, dorthin Zuflucht zu nehmen und sich von diesem verkehrten Geschlecht retten zu lassen. Daraufhin werden alleine 3.000 Seelen gerettet und der Versammlung hinzugefügt, die kurz vorher am selben Tag durch die Ausgießung des Heiligen Geistes gebildet worden war.

Auf der anderen Seite scheint es später in der Apostelgeschichte so zu sein, dass die Führer der Juden nicht nur als Totschläger, sondern auch als Mörder bezeichnet werden. In Apostelgeschichte 2 wird nur von Totschlag gesprochen (V. 23.36). Ebenso in Kapitel 3, wo Petrus hinzufügt, dass es in Unwissenheit geschah (V. 15.17). Dagegen unterscheidet sich die Rede Stephanus in Kapitel 7 deutlich von der Ansprache Petrus, denn inzwischen hatte sich herausgestellt, dass sich das Volk als Ganzes nicht bekehrt hatte und vor allem die ungläubigen Führer ihre Herzen verhärtet hatten. Da die Botschaft der Gnade durch sie nicht angenommen worden war, musste Stephanus im Namen Gottes als Ankläger auftreten. Die Zeit der Ermittlungen, die der Gerichtsverhandlung vorausgehen, war verstrichen und das Urteil wurde gefällt: „Ihr Halsstarrigen und Unbeschnittenen an Herz und Ohren! Ihr widerstreitet allezeit dem Heiligen Geist; wie eure Väter, so auch ihr. Welchen der Propheten haben eure Väter nicht verfolgt? Und sie haben die getötet, die die Ankunft des Gerechten zuvor verkündigten, dessen Verräter und Mörder ihr jetzt geworden seid.“ (Apg 7,51.52).
Wir müssen deshalb einen Unterschied zwischen dem bekehrten und dem unbekehrten Teil des Volkes machen. Für die gläubigen Israeliten galt, dass der Tod Christi ihnen nicht zugerechnet wurde. Sie gingen den angewiesenen Weg zur Zufluchtsstadt und waren dort in Sicherheit vor dem Zorn des Bluträchers, d. h. Gott selbst, denn im Fall von Christus ist Gott der Nächststehende, der für die Rechte des Erschlagenen eintritt.

Was allerdings den unbekehrbaren Teil Israels angeht, der sich selbst verhärtete und das Gnadenangebot von sich wies, wird er sehr wohl (als Volk, nicht als Einzelpersonen) für den Mord des Messias verantwortlich gemacht. Sie weigerten sich, sich von dieser Blutschuld retten zu lassen, weshalb die Schuld auf ihnen blieb. Der Zorn Gottes bleibt auf ihnen, so wie er übrigens auf jedem bleibt, der dem Sohn Gottes ungehorsam ist. Ebenso wie Kain damals ist das Volk auf dieser Erde ein unsteter Vertriebener geworden, der von Gottes Angesicht weg aus seinem Erbteil flüchtete.

Nachdem das Urteil ausgesprochen worden ist folgt aber noch ein zweites „bis“, wie wir in 4. Mose 35 und Josua 20 gesehen haben. Es wird eine Zeit der Wiederherstellung anbrechen, ein Zeitpunkt an dem der Totschläger zu seinem Erbteil zurückkehren wird. Dieser Augenblick wird in Erfüllung gehen, wenn Christus wiederkommt, nachdem er seine Aufgabe als der wahre Aaron beendet hat und als Melchisedek erscheint, um den Überrest seines Volkes zu segnen und ihnen das Erbteil zu geben.

Der Totschläger musste sich solange in der Zufluchtsstadt aufhalten bis die Hohenpriesterschaft in andere Hände kam. So ist der momentan bestehende Überrest Israels (ein Überrest nach Wahl der Gnade, wie ihn Paulus in Römer 11,5 nennt) innerhalb der Versammlung vor dem Gericht sicher. Die Versammlung des lebendigen Gottes ist ihr Zufluchtsort und darin gibt es weder Jude noch Grieche, sondern besitzen alle ein und dasselbe himmlische Bürgerrecht. Währenddessen ist Christus als Hoherpriester im Himmel beschäftigt und erfüllt in vollkommener Weise die Tätigkeiten Aarons. Doch wird eine Zeit kommen, wenn die Versammlung in den Himmel aufgenommen sowie Christus in einem anderen Charakter aus dem himmlischen Heiligtum heraustreten wird. Denn Er ist nicht nur als Person ein viel größerer Priester als Aaron, sondern auch Kraft einer anderen Ordnung, nämlich die Ordnung Melchisedeks. Und als solcher wird er bald den Himmel verlassen, um dem künftigen gläubigen Überrest Israels segnend zu begegnen und um ihn wieder in den Besitz seines früheren Erbteils zu stellen (vgl. 1. Mose 14,18–20; Psalm 110; Hebräer 3 – 10).

Die geistliche Bedeutung der Zufluchtsstädte für uns
Neben der Analogie dieser Bedeutung der Zufluchtsstädte für Israel gibt es darüber hinaus eine Anwendung für die Gemeinde Gottes heute. Diese Auslegung hat einen mehr übertragenen und geistlichen Charakter, wodurch sie sich von der direkteren prophetischen Bedeutung für Israel unterscheidet.

Wenn wir jetzt diese geistliche Bedeutung der Zufluchtsstädte vor uns haben möchten tun wir das, ohne eine allzu scharfe Trennung zwischen der prophetischen und geistlichen Tragweite der alttestamentlichen Bestimmungen bezüglich der Zufluchtsstädte zu ziehen. Die Anwendung auf die Versammlung liegt schlicht in der Ausweitung der Bedeutung, die diese Gesetze für Israel haben. Der Kernpunkt dieser Anwendung auf uns ist der, dass in der Versammlung Gottes (gesehen in ihrer Verantwortung auf der Erde), ebenso wie seinerzeit in Israel, „Totschlag“ begangen wird! Dieser Gedanke scheint auf den ersten Blick nicht auf der Hand zu liegen, doch haben wir es hierbei mit einer ernsten Realität zu tun. Was ist nämlich der Fall? Wie Israel damals einen Anschlag auf Christus verübt hat, als er auf der Erde war, so hat die Versammlung ihn jetzt als ihr himmlisches Haupt verleugnet.

Wir können die Versammlung von zwei (schriftgemäßen) Blickwinkeln her betrachten. Einmal nach dem, was sie gemäß den Ratschlüssen Gottes ist. Hier ist alles vollkommen und kein Fehlen möglich. Auf diese Weise wird die Gemeinde bald in Vollkommenheit bei der Wiederkunft Christi gesehen werden, als Wohnort Gottes und Leib sowie Braut Christi. Was wir allerdings momentan davon sehen ist nicht ausschließlich das Werk von Gott und von Christus. Es ist vermengt mit Menschenwerk, das manchmal gut und manchmal auch nicht gut ist. Nach 1. Korinther 3 besteht die Gefahr, dass mit untauglichem Material an Gottes Haus gebaut wird. Und wenn wir Offenbarung 2 und 3 lesen stellen wir fest, dass die Versammlung ihre erste Liebe verlassen hat, ihrem Herrn untreu geworden ist und mit der Welt Hurerei getrieben hat (vgl. 1. Kor 3,10–15; Off 2,4.14.20; 3,4).

Betrachten wir die Versammlung also in ihrer Verantwortlichkeit müssen wir feststellen, dass sie schwer gefehlt hat. In ihrer Praxis hat sie vergessen, dass sie vollständig abhängig von ihrem Haupt im Himmel ist. Sie hat sogar versucht sich seiner Gegenwart und Wirksamkeit in ihrer Mitte zu entledigen, indem sie ihn als Haupt verwirft und die Wirkung des Geistes aus ihrer Mitte verbannt. Sie hat einen menschlichen Stellvertreter sowie menschliche Einrichtungen vorgezogen, welche die freie Wirkung seines Geistes aufheben. Sie hat die Autorität Christi, die er durch sein Wort und seinen Geist unmittelbar ausüben möchte, größtenteils durch die Macht der Tradition, Regeln und Menschengebote, ersetzt. Ist das keine Form von Totschlag? Und denken wir dabei nicht nur an das Papsttum, das die Rechte Christi als Haupt seiner Versammlung in der Tat mit Füßen getreten hat, sondern denken wir an alle menschlichen Einrichtungen, die seine Autorität und die freie Wirksamkeit des Geistes Gottes in der Versammlung einschränken.

Im ersten Kapitel unserer Betrachtung haben wir bereits gesehen, dass der Aufstand Adonijas gegen den gesetzmäßig amtierenden König einem Totschlag gleichkam. Adonija floh deshalb zum Altar, um dort Zuflucht zu finden (1. Kön 1). Das Antasten der Autorität des Königs wurde ihm genauso schwer angerechnet wie ein Anschlag auf seine Person. Und so verhält es sich auch, wenn die Autorität von Christus als dem himmlischen Haupt der Versammlung angegriffen wird – es ist letztlich ein Anschlag auf ihn selbst! Wir haben uns nicht besser als Israel verhalten, das den Herrn auf der Erde verwarf, und darum benötigen wir ebenso sehr Gottes Vorsehung für Totschläger. Wir brauchen eine Zufluchtsstadt, wo die Rechte Christi anerkannt werden, seine Autorität geehrt und sein Geist nicht durch menschliche Regeln und Gebote ausgelöscht wird (vgl. 1. Thes 5,19).

Es ist ein ernster Gedanke, dass die Gemeinde durch ihre Untreue ihrem Haupt und ihrer Auflehnung dem Heiligen Geist gegenüber des „Totschlags“ schuldig geworden ist. Die Gemeinde hat genauso gut wie Israel gefehlt und wird hierfür von Gott zur Rechenschaft gezogen. Auch sie hat es mit dem Bluträcher zu tun, einem zürnenden Gott, der für die Rechte seines Sohnes eintritt. Gott verschonte die natürlichen Zweige des Olivenbaums nicht, und wird die Gemeinde ebenso wenig verschonen (Röm 11,21.22). Außerdem tritt der Sohn Gottes selbst als Richter in Bezug auf die bekennende Christenheit auf, wobei seinem prüfenden Blick nichts entgeht (Off 1 – 3).

Was müssen wir jetzt tun, wenn klar ist, dass die Gemeinde in ihrem Verfall so weit fortgeschritten ist, dass sie der Vergeltung des Bluträchers ausgesetzt ist? Gibt es noch eine Möglichkeit zu entkommen, wenn sie der Gegenstand des Gerichtes Gottes geworden ist und als sein Zeugnis auf dieser Erde zur Seite gestellt wird? Ja, denn es gibt noch eine Zufluchtsstadt, die nicht mit Holz, Heu oder Stroh erbaut worden ist und deshalb dem Feuer nicht zum Opfer fallen wird. Für uns steht noch eine Zufluchtsstadt offen, die mit beständigem Material gebaut und wohl zusammengefügt worden ist. Gott weist uns noch den Weg zu einem Zufluchtsort, wo wir uns auf göttlichem Boden befinden und uns nicht vor dem drohenden Gericht zu fürchten brauchen. Dieser Zufluchtsort steht jedem offen, der anerkennt, dass er sich unwissentlich des Totschlags an den Rechten Christi und des Geistes schuldig gemacht hat.

Den Weg dahin weist uns Gott selbst durch sein Wort. Einerseits müssen wir von der Ungerechtigkeit abstehen, die in der bekennenden Christenheit Fuß gefasst hat, andererseits ist es unsere Aufgabe nach Gerechtigkeit, Glauben, Liebe und Frieden mit denen zu streben, die den Herrn aus reinem Herzen anrufen (2. Tim 2,19–22). Dann werden wir gemeinsam eine „Zufluchtsstadt“ erreichen, d. h. einen Ort, wo wieder sichtbar wird, was die Gemeinde nach Gottes Gedanken ist. An diesem Platz anerkennen wir die Rechte Christi als himmlischem Haupt der Kirche, rufen seinen Namen in Absonderung vom Bösen an, sind wir Gegenstände der Leitung seines Geistes und kommen wir auf der Grundlage der Einheit der Gemeinde zusammen, in Übereinstimmung mit den Belehrungen, die uns von Anfang an im Wort Gottes mitgeteilt worden sind. Dort befinden wir uns dann sozusagen in einer „levitischen Zufluchtsstadt“, wo das Licht von Gottes Wort wieder auf den Leuchter gestellt worden ist und die Diener Gottes das Volk unterweisen. Wir sind dann an einem Ort, wo Christus der Mittelpunkt der Seinen ist und wo der Geist nicht ausgelöscht wird, sondern wo sich das geistliche Leben frisch entfalten kann.

Wir erinnern uns vielleicht, dass die Zufluchtsstädte im verheißenen Land alle im Gebirge lagen. Es waren Orte, die für den Totschläger auf seiner Flucht gut sichtbar waren. Diese Städte im Gebirge konnten nicht verborgen sein. Und so können wir selbst in einer Zeit des Verfalls, wo das Gericht über die bekennende Christenheit vor der Tür steht, ein sichtbares Zeugnis bilden von dem, was die Gemeinde nach Gottes offenbartem Willen wirklich ist. „Eine Stadt, die oben auf einem Berg liegt, kann nicht verborgen sein“, sagte der Herr Jesus in der Bergpredigt (Mt 5,14). Solch eine Stadt befindet sich auf einem Niveau in Übereinstimmung mit den Gedanken Gottes. Auf dem Berg empfingen die Jünger göttliche Belehrungen! Sie ist die Begegnungsstätte von Gott und seinem Volk, Gottes Wohnort und auch sein Lichtträger. Sie ist ein Hinweis auf die Stadt Gottes, dem himmlischen Jerusalem, die bald in Vollkommenheit das Licht Gottes über diese Erde verbreiten wird.

In den verschiedenen Zufluchtsstädten sehen wir verschiedene Aspekte und Kennzeichen der einen, wahren Gemeinde Gottes. Wir könnten uns jetzt die Frage stellen, wie lange wir in der „Zufluchtsstadt“ bleiben sollen, wenn wir unsere Zuflucht zu einem Zeugnis der Gemeinde Gottes genommen haben, wo Gläubige die Rechte des Herrn anerkennen. Der Totschläger musste schließlich immer bis zum Wechsel des Hohenpriesters bleiben. Die Antwort lautet: Bis zum Kommen des Herrn! Bis zur Wiederkunft des Herrn sind wir in der Zufluchtsstadt sicher, und dann erscheint er als der wahre Melchisedek und übt eine neue hohepriesterliche Aufgabe zugunsten seines irdischen Volkes aus (vgl. den vorherigen Abschnitt).

Das erste „bis“, d. h. der Zeitraum, wo richterliche Ermittlungen im Zusammenhang mit dem begangenen Totschlag laufen, ist bereits lange verstrichen. Dagegen liegt das zweite „bis“ auch für uns noch in der Zukunft. Wir erwarten Christus ebenfalls als Löser, und als Erlöser, um die Gemeinde in den vollen Genuss ihrer Beziehungen mit ihm und ihrem himmlischen Erbteil einzuführen, genauso wie es auf der Erde für Israel einmal der Fall sein wird!