„Niemand erkennt den Sohn als nur der Vater“. Nur der Vater durchdringt das Geheimnis seines Sohnes – Gott und Mensch in einer Person. Der ewige Sohn im Schoß des Vaters und gleichzeitig Jesus, der Nazaräer, zwei Seiten seiner Person, die wir nie trennen dürfen, die unser menschlicher Verstand aber auch nie wirklich zusammenbringen kann.

Doch die Evangelien sind voll von Zeugnissen über diese Tatsache und wir wollen einige Situationen nennen, die uns diese zwei Seiten in unmittelbarer Nähe zueinander zeigen. Wo wir in einem Moment Gott, den Sohn, sehen und im allernächsten Augenblick Jesus, den gehorsamen, demütigen und vollkommenen Menschen sehen. Das wird uns zwar nicht helfen, dieses Wunder seiner Person völlig zu erfassen, aber wir lernen vielleicht neu, darüber zu staunen.

Wenn wir chronologisch vorgehen wollen, sehen wir ihn zu Anfang seines öffentlichen Dienstes im Gespräch mit zwei Jüngern Johannes' des Täufers. Auf die Frage: „Wo hältst du dich auf?“, kann er als der heimatlose Fremdling keinen Wohnort angeben. „Kommt und seht“, ist seine Antwort. Aber im nächsten Moment benutzt er als Gott, der Sohn, sein Recht dem Simon einen neuen Namen zu geben: „Du wirst Kephas heißen“ (Joh 1,38–42).

Bei der Hochzeit zu Kana ist er zunächst nur einer der geladenen Gäste, der sich äußerlich in nichts von den anderen Gästen unterscheidet. Dann aber offenbart er seine Gottheit, indem er sein erstes Wunder tut und Wasser in Wein verwandelt (Joh 2,2+9).

Dann finden wir ihn auf der Reise nach Galiläa. „Er musste aber durch Samaria ziehen.“ Gott muss gar nichts, aber der gehorsame Knecht Jesus „musste“. „Ermüdet von der Reise“ setzt sich der vollkommene Mensch an der Quelle Jakobs nieder. Doch dann sagt er der Frau in göttlicher Allwissenheit alles, was sie getan hatte (Joh 4,4+6+29).

Später sehen wir ihn in Nazareth in der Synagoge. Er lässt sich die Buchrolle Jesaja geben und „fand“ die Stelle, die er vorlesen wollte. Zeigt sich da nicht der Mensch Jesus? Könnte so über ihn gesprochen werden, wenn er als der göttliche Autor dieses Buches vor uns stände. Kurz darauf lässt er sich von ihnen bis zum Rand des Berges führen, von wo sie ihn hinabstürzen wollen. Aber weil seine Stunde noch nicht gekommen ist, geht er in göttlicher Souveränität durch ihre Mitte hindurch und geht weg (Lk 4,17+30).

Dann sehen wir ihn nach Sonnenuntergang in Kapernaum in göttlicher Allmacht Dämonen austreiben. Als sie ausfahren, schreien sie: „Du bist der Sohn Gottes.“ Und was lesen wir im nächsten Satz? Als es Tag wird, begibt er sich an einen öden Ort. Steht er da nicht wieder als der Mensch, als der Fremdling vor uns (Lk 4,41–42)?

Kurz darauf wird ein Aussätziger von ihm geheilt. Der Sohn Gottes rührt ihn an, ohne Ansteckung fürchten zu müssen. Doch als die Volksmengen ihn suchen, zieht er sich zurück und betet (Lk 5,15–16).

Wieder einige Zeit später finden wir ihn, wie er, der vollkommen gehorsame, abhängige Mensch, eine ganze Nacht im Gebet zu Gott zubringt. Als er dann mit seinen zwölf Jüngern morgens vom Berg herabsteigt, kommen wieder scharenweise Kranke zu ihm und er heilt sie alle. Er ist dabei nicht nur ein Werkzeug Gottes, sondern von ihm selbst geht göttliche Kraft aus (Lk 6,12+19).

Er ist der, der sagen kann: „Niemand erkennt den Sohn als nur der Vater“. Und im nächsten Augenblick stellt er sich als der vor, der „sanftmütig und von Herzen demütig“ ist (Mt 11,27+29).

Bei einer Überfahrt über den See finden wir ihn als den vollkommenen Menschen schlafend im Schiff liegen. Doch im nächsten Moment gebietet er und Winde und See müssen dem allmächtigen Schöpfer gehorchen (Mt 8,24+26).

Er konnte den Dämonen gebieten und sie mussten die beiden besessenen Gergesener verlassen. Doch ohne Widerrede lässt er sich kurz darauf von ihren Landsleuten aus ihrer Gegend wegscheuchen (Mt 8,32+34).

Bei der Speisung der Fünftausend „muss“ er auf die Brote und Fische eines Knaben zurückgreifen. Aber durch ein göttliches Wunder sind am Ende alle gesättigt (Joh 6,9+12).

Später verlassen ihn viele seiner Jünger und gehen nicht mehr mit ihm. Hören wir nicht die Stimme eines vollkommenen Menschen, der sich nach Gemeinschaft sehnt, wenn er seine zwölf Jünger fragt: „Wollt ihr etwa auch weggehen?“ Und im nächsten Moment offenbart er ihnen in göttlicher Allwissenheit, dass unter ihnen ein „Teufel“ ist (Joh 6,67+70).

In Kapernaum unterwirft er sich bereitwillig der Obrigkeit und bezahlt die Tempelsteuer. Doch es ist ihm ein Kleines, einem Fisch zu gebieten, das dafür benötigte Geld herbeizubringen (Mt 17,27).

Am Grab des Lazarus sehen wir ihn im tiefsten Mitgefühl weinen, obwohl er weiß, dass er im nächsten Moment mit göttlicher Vollmacht rufen würde: „Lazarus, komm heraus!“ (Joh 11,34+43).

Bei seinem Einzug in Jerusalem lässt er sich, auf einem Esel reitend, als König Israels begrüßen. Doch abends geht er nach Bethanien um dort zu übernachten. Am darauffolgenden Morgen verspürt er Hunger. Wie vollkommen ist er Mensch! Doch der verdorrte Feigenbaum zeugt davon, dass er ebenso vollkommen Gott ist (Mt 21,5+17–19).

Die Fangfragen der Jerusalemer Pharisäer erkennt der göttliche Herzenskenner sofort. Doch als er ihnen anhand der Steuermünze etwas verdeutlichen will, muss man ihm, dem mittellosen Menschen Jesus, erstmal einen Denar reichen (Mt 22,18–19).

Tagsüber empfangen die Menschen im Tempel göttliche Belehrung von ihm und nachts übernachtet der heimatlose Fremdling auf dem Ölberg (Lk 21,37).

Im Obersaal, wo der Herr Jesus mit seinen Jüngern versammelt ist, um das Passah zu essen, wird er zunächst als der vorgestellt, der alles wusste. Dann sehen wir ihn den geringen Dienst der Fußwaschung an seinen Jüngern ausüben. Kurze Zeit später offenbart er als der an Wissen vollkommene Gott, dass es Judas ist, der ihn überliefern wird (Joh 13,1+5+26).

Beeindruckend begegnen uns Gottheit und Menschheit dieser wunderbaren Person noch einmal im Garten Gethsemane. Mit Schwertern und Stöcken kommt die große Schar von Judas angeführt in den Garten, um ihn zu fangen. Würde man so wohl gegen einen einfachen Menschen ausrücken? Auf sein göttliches „Ich bin's“, weichen sie zurück und fallen zu Boden. Gott, der Sohn steht und die Feinde liegen scharenweise am Boden. Ein letztes Mal gebraucht er seine göttliche Kraft, um das Ohr des Malchus zu heilen. Dann lässt er sich als der gehorsame, dem Willen Gottes ergebene Mensch binden und wie ein Verbrecher abführen (Joh 18,1–13; Lk 22,51).

Und am Kreuz? Auch da sehen wir Strahlen göttlicher Herrlichkeit. Wer konnte dem reumütigen Schächer das Paradies versprechen außer Gott selbst, der Sohn? Wer konnte sagen: „Es ist vollbracht“, außer Gott, der Sohn, der sein eigenes göttliches Siegel unter sein vollbrachtes Werk setzte? Und wer konnte sagen: „Vater, in deine Hände übergebe ich meinen Geist“, und dann freiwillig seinen Geist aufgeben und sein Leben lassen, außer dem Sohn Gottes? Aber um leiden und sterben zu können, musste er wahrer Mensch sein.

Dass er vollkommen Gott ist und doch zu gleicher Zeit vollkommen Mensch, wird uns ewig unbegreiflich bleiben. Aber es wird uns auch ewig zur Anbetung dieser unergründlichen Person führen, die mit den Strahlen göttlicher Herrlichkeit einen Paulus zu Boden wirft und sich selbst vom Himmel aus doch „Jesus, den Nazaräer“ nennt.