Da liefen jene Männer eilig herbei und fanden Daniel betend und flehend vor seinem Gott. Dann traten sie hinzu und sprachen vor dem König bezüglich des königlichen Verbots: Hast du nicht ein Verbot aufzeichnen lassen, dass jedermann, der innerhalb von dreißig Tagen von irgendeinem Gott oder Menschen etwas erbitten würde außer von dir, o König, in die Löwengrube geworfen werden sollte? Der König antwortete und sprach: Die Sache steht fest nach dem Gesetz der Meder und Perser, das unwiderruflich ist. Hierauf antworteten sie und sprachen vor dem König: Daniel, einer der Weggeführten aus Juda, achtet weder auf dich, o König, noch auf das Verbot, das du hast aufzeichnen lassen; sondern er verrichtet dreimal am Tag sein Gebet“ (Daniel 6,12–14).

Nachdem der König die Schrift unterzeichnet hat, liefen diese Feinde Daniels sofort zum Haus Daniels, um sich davon zu überzeugen, dass er bei seiner Gewohnheit blieb. Wieder wird von ihrer Eile berichtet; doch als sie dann festgestellt hatten, dass sich die Schlinge zugezogen hatte, treten sie im nächsten Vers in aller Ruhe vor den König hin. Nun war in ihren Augen keine Eile mehr nötig, denn ihr Plan war aufgegangen. Aber als sie dann mitbekommen, dass der König Darius auf einen Ausweg aus dieser Schlinge sucht, eilen sie in Vers 16 wieder, um ihn an die Unumkehrbarkeit seiner Verordnung zu erinnern.

Bevor diese Männer von Daniels treuer Gebetshaltung berichten, binden sie den König praktisch durch ihre scheinheilige Frage nach dem königlichen Verbot. Sie schreiben dem König die Urheberschaft davon vor. Natürlich hatte letztlich Darius das Verbot unterzeichnet, aber sie selbst waren doch der Anlass dafür gewesen, von ihnen war doch der Vorschlag erst gekommen! Sie fangen ihn regelrecht in ihrer fein gesponnenen Schlinge; denn als der König diese Verordnung bestätigt, schwärzen sie den Daniel vor ihm an. Sie tun das mit fast den gleichen Worten, mit denen in Daniel 3,12 die drei Freunde Daniels vor dem Nebukadnezar angeschwärzt wurden. Aber die letzten Worte ihrer Anklage sind gleichzeitig auch eine gewaltige Auszeichnung für Daniel!

Merkwürdig, dass sie den Daniel nicht mit seiner offiziellen Amtsbezeichnung erwähnen, sondern als einen der Weggeführten aus Juda. Dadurch möchten sie Daniel herabwürdigen und die Distanz zwischen dem König und Daniel noch größer machen.

Da wurde der König, als er die Sache hörte, sehr betrübt, und er sann darauf, Daniel zu retten; und bis zum Untergang der Sonne bemühte er sich, ihn zu befreien. Da liefen jene Männer eilig zum König und sprachen zum König: Wisse, o König, dass die Meder und Perser ein Gesetz haben, dass kein Verbot und keine Verordnung, die der König aufgestellt hat, abgeändert werden darf. Dann befahl der König, und man brachte Daniel und warf ihn in die Löwengrube“ (Daniel 6,15–17a).

Jetzt werden die Satrapen also wieder eilig, als sie merken, dass der König einen Ausweg aus dieser Lage sucht. Sie hatten sich in ihrer Einschätzung bezüglich der Treue Daniel nicht geirrt, aber sie hatten sich in dem König Darius und seiner Reaktion geirrt. Sie hatten nicht damit gerechnet, dass Darius einen Weg zur Rettung Daniels suchen würde. Eine ganz ähnliche Situation finden wir in dem Verhältnis von Pilatus zu den Juden im Blick auf die Verurteilung des Herrn Jesus. Wie hier Darius den Daniel so suchte Pilatus den Herrn freizulassen. Aber dann kommt die heftige Reaktion der Juden darauf, und Pilatus überlieferte Ihn an sie (Joh 19,12–16).

Der König war in der listig gelegten Schlinge gefangen und musste nun gegen alle seine eigenen Empfindungen diesen von ihm verehrten Mann Daniel in die Löwengrube werfen. Die Empfindungen Darius’ sind anders als seine Handlungsweise, er ist trotz seiner anziehenden Art ein Bild des Antichristen. In ihrer Persönlichkeit werden sowohl der Antichrist als auch das Haupt des Römischen Reiches sehr attraktive Menschen sein, sonst würde ihnen diese Macht nicht zugesprochen werden.

Der König hob an und sprach zu Daniel: Dein Gott, dem du ohne Unterlass dienst, er möge dich retten! Und ein Stein wurde gebracht und auf die Öffnung der Grube gelegt; und der König versiegelte ihn mit seinem Siegelring und mit dem Siegelring seiner Gewaltigen, damit in Bezug auf Daniel nichts verändert würde“ (Daniel 6,17b.18).

Von Daniel hören wir in dieser Situation überhaupt nichts, kein Wort über seine Empfindungen! Ein über 80 Jahre alter Mann Gottes wird diesen Raubtieren zum Fraß vorgeworfen (vgl. Ps 57,5). Prophetisch gesehen muss auch der gläubige Überrest durch die große Drangsal gehen. Hier die Löwengrube als Todesstrafe der Meder und Perser und in Kapitel 3 der Feuerofen als Todesstrafe der Babylonier zeigen doch jeder auf seine Weise das Höchstmaß an Leiden, die erduldet werden müssen (Mt 24,21.22). Diese furchtbare Zeit wird in dieser Löwengrube vorgeschattet.

Daniel ist in diesem ganzen Kapitel ein Bild des gläubigen Überrestes späterer Tage. Der Überrest hat eine Beziehung zu Gott, der Überrest ist treu, der Überrest betet, der Überrest wird angefeindet, der Überrest setzt sich nicht zur Wehr. Und in dem Moment, wo der König sich an die Stelle Gottes setzt, beginnt die große Drangsal des Überrestes. Aber in dieser Drangsal gibt es für den Überrest auch ein Wort des Trostes: „Dein Gott, dem du ohne Unterlass dienst, er möge dich retten.“

Wir müssen in unseren Anwendungen, die wir aus diesem Kapitel machen, unterscheiden zwischen dem Bild für den gläubigen Überrest späterer Tage und den Anwendungen für den einzelnen Gläubigen, der in seinem Leben durch Drangsale und Verfolgungen und vielleicht sogar durch den Märtyrertod zu gehen hat. Der treue gläubige Überrest wird gerettet werden; auch die gläubigen Märtyrer waren treu bis zum Tod (Off 2,10) und sind doch nicht gerettet worden. Wir dürfen daraus nicht den Schluss ziehen, dass sie etwa nicht treu gewesen wären.

Die Begründung für die Versiegelung der Löwengrube in diesem Vers ist eine sehr passende Erklärung grundsätzlich für die Anwendung eines Siegels. Bei einer Versiegelung geht es um Endgültigkeit, nichts soll mehr verändert werden, wenn einmal ein Siegel auf eine Sache gedrückt wird.