Der Fall Babels. Vers 1–2

Vor allem der neunte Vers macht deutlich, dass es an dieser Stelle um Babel geht. Schon vorher hatte der Prophet das Gericht über Babel ausgesprochen (Kapitel 13). Aber in dieser zweiten Prophetie geht es mehr um Ereignisse, die den Fall Babels verursachen.

Warum wird von Babel hier als der „Wüste des Meeres“ gesprochen? Weil Babel, geistlich betrachtet, ausgetrocknet war. Dieses Reich war noch immer das goldene Haupt von dem Bild in Daniel 2,32. Babel bot und bietet dem natürlichen Menschen, der sich von Gott entfernt hat, alles, was dieser sucht, und das ist nach 1. Johannes 2,16–17 die Lust des Fleisches, die Lust der Augen und der Hochmut des Lebens. Was Höher- und Besseres bietet diese Welt nicht. Geistlich gesehen ist diese Welt nichts anderes als eine große dürre Wüste. Der Gläubige in Christus kann in solch einer Welt nichts finden, und er braucht aus ihr auch nichts zu erhalten. Diese Welt ist einzig und allein nur eine traurig misslungene Reproduktion des verloren gegangenen Paradieses.

Die Stadt Babel lag an dem großen Fluss Euphrat, der ein „Meer“ an Wasser mit sich führte. Aber wenn wir weiterdenken, ist diese Andeutung mehr als eine bloße Anspielung auf die örtliche Lage. Wir können hier auch an das Völkermeer, an Wassermassen denken, bei denen keine Ruhe einkehrt und keine Beständigkeit zu finden ist. Nach Offenbarung 17,15 sind die „Wasser“ ein Bild von sich im Aufruhr befindlichen Nationen. Um das „Babel“ der Endzeit zu sehen, wird Johannes in die Wüste geführt, wo er Babel auf vielen Wassern sitzen sieht, was ein Bild davon ist, dass Babel viele Völker beherrscht.

In Vers 1 wird der bevorstehende Fall Babels angekündigt, indem das Bild eines alles zerstörenden Wüstensturms benutzt wird. Es ist ein sehr treffendes Bild von Heeren Mediens, die nichts und niemand verschonen und aus Prinzip keine Kriegsgefangenschaft zulassen. In Vers 2 wird von einem „hartem Gesicht“ gesprochen, d. h. eine erschreckende Vision, in der der Prophet sah, dass der König von Babel heimtückisch handelte und überall Verwüstung anrichtete.

Zwei verbündete feindliche Mächte sollten den Fall Babels dann besiegeln. Als Jesaja diese Visionen sah und mitbekam, wie der König von Babel auftrat und überall Verwüstung anrichtete, sagt er: „Zieh hinauf, Elam! Belagere, Medien!“ Elam ist Persien. Elam war ein Sohn Sems (1. Mose 10,22). Kedor-Laomer war der König von Elam (1. Mose 14,1). Der Name „Elam“ kommt mehrmals in der Schrift vor. Bei der Ausgießung des Heiligen Geistes am Pfingsttag waren in Jerusalem auch Elamiten anwesend (Apg 2,9). Der König von Persien, Kores, war der Vollstrecker von dem Urteil des HERRN über Babel. Eine der ersten Taten Kores, dem Herrscher des zweiten Weltreichs, bestand darin, den Juden die Erlaubnis zu erteilen, wieder in ihr Land zurückzukehren. Die letzten Worte aus Vers 2: „All ihrem Seufzen mache ich ein Ende“ weisen auf die Errettung der Juden aus der babylonischen Gefangenschaft hin.

Das Mitgefühl Jesajas – Verse 3–4

Der Gedanke an die vielen grausamen und entsetzlichen Taten, die sich bei der Einnahme Babels ereignen sollten, nimmt den Propheten stark mit. Er hört sozusagen das Geschrei, die Todeskämpfe etc. und hat das Blutbad vor seinen Augen. Sein Herz schlägt, Schrecken und Entsetzen überfällt ihn. Die Dämmerung, die er liebte, erschreckt ihn jetzt. Die Nacht der abstoßenden Prasserei durch Belsazar und seinen Genossen, geht in der Morgendämmerung in Tod, Entsetzen und Elend über. Immer wieder sehen wir, dass Jesaja kein engherziger Jude war, sondern nur ein Auge für Israel besaß. Und denken wir daran, dass sein Mitgefühl durch das Ansehen einer erschreckenden Vision erwachte, die auf Ereignisse Bezug nahm, die erst zweihundert Jahre später eintrafen. Als Jesaja diese Dinge prophezeite stand Babel noch nicht einmal auf dem Höhepunkt seiner Macht und Herrlichkeit.

Das entartete Fest Belsazars – Vers 5

In seinen Visionen sah der Prophet das abstoßende Schwelgen und Prassen. Niemand dachte an das vor der Tür stehende Unglück. Die Mauern Babels waren schließlich sehr fest, die Wächter auf ihren Posten. Zur Ehre der babylonischen Götzen wird der Gott Israels verspottet, als plötzlich eine Hand auftaucht und mit einer geheimnisvollen Schrift auf die Mauer des Festsaals schreibt – die göttliche Ankündigung der Vollstreckung des Urteils über Babel. Daniel 5,29 erweckt den Eindruck, dass Belsazar, als er erkannte, was die Bedeutung des Geschriebenen auf der Mauer war, aufatmete und die Angst von ihm wich. Er lässt Daniel noch mit Purpur bekleiden und eine goldene Kette um seinen Hals legen. Das ernste Wort dieses Semiten machte keinen besonderen Eindruck auf ihn. Aber wie bald danach erschollen bereits die Warnrufe der Wächter: „Steht auf, ihr Fürsten! Salbt den Schild!“, d. h. macht euch für den Kampf bereit (Dan 5; Jer 51).

Wir wiederholen an dieser Stelle der Klarheit halber noch einmal, was wir schon früher (in Kapitel 13) gesehen haben: dass es in der Schrift vorhergesagt war, welche Völker den Fall Babels verursachen würden (13,17; 21,2; Jer 51,11); dass die Zeit des Untergangs prophezeit wurde (Jer 25,11–12), dass der Name des Eroberers genannt wurde (44,28; 45,1); dass eine Andeutung auf die Art und Weise, in der die Stadt Babel eingenommen werden würde ebenfalls zu finden ist (44,27; Jer 50,38; 51,36). Die Geschichtsschreibung stimmt hiermit völlig überein. Sie berichtet, dass es den Feinden, die schon ein Jahr lang Babel belagert hatten, in der Nacht gelang in die Stadt einzudringen, während die ganze Stadt ein Fest feierte. Dem Euphrat, der bis dahin ein mächtiges Hindernis gewesen war, gaben sie durch einen Umleitungskanal einen anderen Verlauf und konnten anschließend durch das schnell trockene Flussbett in die Stadt gelangen. Die Palastwächter wurden überrumpelt und eine große Menge stürmte den königlichen Festsaal. Ein großes Blutbad folgte. Auch Belsazar kam in dieser Nacht ums Leben.

Jesaja hatte diesen Fall Babels schon zweihundert Jahre zuvor angekündigt (45,1–3; 46; 47,1). Diese wunderbare Tatsache lehrt uns, dass die Prophetie durch den Gott gegeben worden ist, der das Kommende überblickt und die damit verbundenen Geschehnisse sich genau in die Richtung entwickeln, die er bereits vorher bestimmt hat. Ob es sich dabei um eine oder 60 Epochen handelt, spielt keine Rolle. Es ist auch nicht so wichtig, wer das prophetische Wort im Hinblick auf andere Menschen ausgesprochen hat. Jeremia sprach später ebenfalls über den Fall Babels (Jer 50 – 51). Wenn wir das, was beide Propheten voraussagten mit dem historischen Bericht aus Daniel 5 vergleichen, dann sehen wir, dass die Schrift uns einen ausführlichen und übereinstimmenden Bericht über den Fall des geschichtlichen Babels, dem ersten Weltreich, gibt. Prophetisch betrachtet ist das schnelle und unerwartete Gericht über das damalige Babel von großer Bedeutung. Denn in der gleichen Art und Weise wird auch über das Babel der Endzeit ein schnelles und unerwartetes Gericht hereinbrechen, wenn es seine Bosheit und seinen Hohn gegenüber Gott auf die Spitze getrieben haben wird.

Jesaja als Wächter – Verse 6–10

Propheten werden in der Schrift häufig mit Wächtern verglichen, die in der Nacht die Stadt bewachen. Besonders oft begegnen wir diesem Vergleich im Buch Hesekiel. Vergleiche auch Habakuk 2,1. Aus Jes 21,6–10 geht deutlich hervor, dass Jesaja ebenfalls solch ein Wächter war. Er wachte Nacht und Tag, um zu erfahren, was der Herr ihm zu sagen hatte, und um zu sehen, was er ihm in seinen Visionen zeigen wollte. Sein ganzes Herz verlangte danach, denn beispielsweise sollte gerade der Fall Babels für Juda von großer Bedeutung sein. Zu diesem Zeitpunkt würde er schon lange nicht mehr leben, dennoch sollte das, was er ankündigte zum Trost und zur Ermutigung für Juda sein. In einer dieser Nächte sah Jesaja nun den Fall Babels. Er hatte ihn bereits mit erhobener Stimme bekannt gegeben (Vers 9). Ein Ausruf wie in Vers 9: Gefallen, gefallen ist Babel, und alle geschnitzten Bilder seiner Götzen hat er zu Boden geschmettert“ wird nicht geflüstert, sondern mit Nachdruck ausgerufen. Es ist immer so, dass die Botschaft der Vollstreckung des Gerichts in der Schrift laut ausgesprochen wird, damit es auch überall gehört wird. Luther übersetzt an dieser Stelle: „Und er (Jesaja) rief wie ein Löwe…“ (vgl. Off 10,3). Wir haben in der Offenbarung das Bild, dass der Ausführung der Gerichte des Herrn Posaunenschall vorangeht.

Vers 10 sollte man der Klarheit wegen wie folgt lesen: Oh, mein durstiges und geschlagenes Volk, was ich von dem HERRN der Heerscharen, dem  Gott Israels, gehört habe, das habe ich euch verkündigt“. Was Jesaja prophezeite stammte nicht aus seinem eigenen Seelenleben.

Prophezeiungen gegen Edom – Verse 11–12

Diese beiden Verse sprechen über Edom, das hier „Duma“ genannt wird. Nach einigen Auslegern ist „Duma“ die Abkürzung von „Idumäa“, die die südlichste Gegend Palästinas in den Tagen der römischen Besatzung war. Andere übersetzen „Duma“ durch: „Stille“, im Sinn von Totenstille. Sie führen dafür Psalm 94,17 an, wo wir lesen: „Wäre nicht der HERR mit eine Hilfe gewesen, wenig fehlte, so hätte im Schweigen (Stille, Duma) gewohnt meine Seele“. Wie dem auch sei lesen wir in Vers 11, dass jemand dem Propheten von Seir aus zuruft, woraus deutlich wird, dass es um Edom geht. „Seir“ bedeutet „haarig“, „rau“. Man wird dabei sofort an Esau erinnert (1. Mose 25,25.30; 36,1).

In der Schrift wird uns Edom stets als ein Feind des Herrn und Gottes Volk dargestellt. Edom verweigerte einmal Israel den friedlichen Durchzug durch sein Land (4. Mose 20,14–21). Als Israel litt und gefangen weggeführt wurde, freute Edom sich (Obadja 12). Dadurch zog Edom sich den Zorn Gottes zu und wird in der Nacht der Leiden seinen Lohn erhalten.

In Edom hatte man für den „Wächter“ Jesaja nichts als Spott übrig. Das durch den Propheten über viele Völker angekündigte Gericht traf ja schließlich doch nicht ein. Dass es hier um einen spöttischen Zuruf geht und nicht um ein interessiertes Nachfragen geht zum einen deutlich aus der Wiederholung der Frage hervor und zum anderen dadurch, dass man aus Seir zu ihm rief. Wir sollten nicht unbedingt daran denken, dass Edom tatsächlich Boten zu Jesaja geschickt hat. Es handelt sich hier nach wie vor um eine Vision. Vers 11 sagt auch, dass Jesaja einen Ruf aus Seir erhielt. Diesen Ruf hätte der Prophet, der sich in Jerusalem aufhielt, unter normalen Umständen überhaupt nicht hören können.

Die Antwort Jesajas ist einfach und ernst, denn er sagt: „Der Morgen kommt und auch die Nacht“. Er meinte damit, dass für Israel ein „Morgen“ anbrechen sollte, der ein Bild des Segens ist, ja es würde ein „Morgen ohne Wolken“ (2. Sam 23,4) sein. Für Edom würde jedoch die „Nacht“ des Gerichts hereinbrechen.

Man kann deutlich sehen, dass Jesaja bei diesem Ausspruch an die an dieser Stelle noch ferne Zukunft, die Endzeit, dachte. Dann wird Edom, mit Moab und Ammon, der Eroberung durch den prophetischen Assyrer, dem König des Nordens, entgegen (Dan 11,41, um später (in der Anfangszeit des Friedensreiches), durch das wiederhergestellte Israel selbst zusammen mit den beiden anderen Reichen bestraft zu werden (11,14). Edom, Moab und Ammon waren stets bittere Feinde Israels.

Aus historischer Sicht wich die „Nacht“ für Edom ebenso wenig. Als die Gefangenen Judas durch Kores die Erlaubnis bekamen in ihr Land zurückzukehren, brach für Juda ein neuer Morgen an. Ob es dagegen für Edom angemessen ist, seine Frage zu wiederholen, bleibt ihnen überlassen.

Prophzeiungen gegen Arabien – Verse 13–17

War die obige Prophetie an die Nachkommenschaft Esaus gerichtet, hat der göttliche Ausspruch in den Versen 13–17 das Geschlecht Ismaels, dem Sohn Hagars, im Blickfeld. Die umherschweifenden Dedaniter (Vers 13) bewohnten einen Landstrich in der Nähe Edoms. Sie waren im Kampf geschlagen worden und verbergen sich nun in den Wäldern, wo sie Hunger und Durst leiden. Die Bewohner Temans werden hier aufgerufen die Flüchtlinge mit dem Nötigen zu versorgen.

Aber es geht in dieser Prophtie besonders um Kedar. Sein Geschlecht war ein mächtiger arabischer Volksstamm. Durch Handel hatte es sich Reichtum und Ehre erworben (Hes 27,21). Jesaja sagt hier voraus, dass bereits „binnen Jahresfrist“ ihre Macht und ihr Ruhm zu einem Ende gekommen sein würde.

[übersetzt von Stephan Keune]