Auch im finsteren Mittelalter leuchtete das Licht der Wahrheit, denn Gott hat zu allen Zeiten seine Zeugen. Dazu gehörten auch die sog. Waldenser, deren Wahlspruch bezeichnenderweise lautet: Lux lucet in tenebris („Das Licht leuchtet in der Finsternis“). Doch die Finsternis liebte das Licht nicht: Die Waldenser wurden als Ketzer verbannt, ihre Motive verkannt und ihre Schriften verbrannt.

Der Name „Waldenser“ geht zurück auf einen gewissen (Petrus) Waldus (ca. 1140–1218), einen reichen Kaufmann aus Lyon . Nachdem er sich bekehrt hatte, wünschte er, ganz dem Wort Gottes zu folgen. Er verkaufte seinen Besitz, organisierte Armenspeisungen und verkündigte mit seinen Gefolgsleuten das Evangelium. Waldus sorgte außerdem dafür, dass Teile der Bibel aus dem Lateinischen in verschiedene Sprachen und Dialekte übersetzt wurden.

Auch wenn Waldus Konfrontationen vermeiden wollte, musste die Predigt des Evangeliums unweigerlich zu Konflikten mit der Katholischen Kirche führen. Denn die Kirche behauptete, dass nur der eigene Klerus (Geistlichkeit) predigen dürfe und nicht ein Laie wie Waldus. Da Waldus und seine Freunde sich nicht an ein Predigtverbot hielten, wurden sie im Jahr 1183 aus der Gemeinschaft der Katholischen Kirche ausgeschlossen. Ein Jahr später wurde auf einem Konzil der Katholischen Kirche festgelegt, dass die Waldenser Häretiker (Irrlehrer) seien und energisch bekämpft werden müssten.

Waldus und seine Anhänger wurden aus der Gegend von Lyon verjagt. Die Waldenser verbreiteten sich zunächst im Süden Frankreichs und von dort aus in verschiedenen Gegenden Europas, auch in Deutschland. Sie missionierten überall eifrig. Schon Jugendliche hatten Abschriften von Bibelteilen bei sich und gaben sie an Interessierte weiter. Viele Waldenser lernten biblische Texte auswendig und zitierten sie bei passender Gelegenheit. In ihren Zusammenkünften wurde das Wort Gottes in den Mittelpunkt gestellt und das Abendmahl in einer schlichten Weise eingenommen. Ihre Gegner machten ihnen den Vorwurf (was in Wahrheit ein Kompliment war), dass sie sich ausschließlich an die Bibel halten und Traditionen verwerfen würden. Die Unterschiede zur Katholischen Kirche nahmen im Lauf der Zeit schärfere Konturen an: Die Waldenser lehnten entschieden den Gedanken eines Fegefeuers ab, sowie den Ablasshandel, die Heiligenverehrung und andere menschliche Lehren. Leider fand sich bei ihnen aber auch viel Werkgerechtigkeit.

Der Widerstand wächst

Der Widerstand der etablierten Kirche gegen die vermeintlichen Häretiker nahm zu. Unter dem Druck der Verfolgungen mussten die Waldenser ab der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts etliche Versammlungsstätten in Südfrankreich, Norditalien und Österreich aufgeben. In diesem Jahrhundert wurde die Inquisition ins Leben gerufen. Die Inquisition war eine Einrichtung, die direkt dem Papst unterstand, und die für ein schnelles Aufspüren und systematisches Beseitigen der Ketzer sorgen sollte. Viele Menschen wurden belauert, Verdächtige gefangen genommen und physisch und psychisch gefoltert. Hartnäckige oder rückfällige Ketzer wurden dem „weltlichen Arm“ übergeben, der sie zum Tod verurteilen konnte. Viele Waldenser wurden Opfer der Inquisitoren, die mit Regierungen und örtlichen Behörden eng kooperierten.

Verschiedene Märtyrer

Um den Glaubensmut der Waldenser in der Verfolgung fassbarer zu machen, braucht es Gesichter. Deshalb seien aus der großen Zahl der treuen Zeugen und Märtyrer an dieser Stelle einige genannt.

Ein junger, einfacher Mann mit Namen Stephan Brun wurde als Ketzer gefangen genommen. Um ihn dazu zu bringen, seinem Glauben abzuschwören, führte man seine Frau und seine fünf Kinder zu ihm und drohte damit, ihnen etwas anzutun. „Meine Familie sind die, die Gottes Willen tun“, meinte er daraufhin. „So, willst du also deine Frau zur Witwe und deine Kinder zu Waisen machen?“ Er antwortete: „Jesus Christus hat gesagt: ‚Ich werde euch nicht als Waisen lassen' ... Ein unsterblicher Erlöser ist besser als ein sterblicher Gatte.“ „Fürchtest du denn nicht die Todesqual, die dir bevorsteht?“ „Christus hat gesagt: ‚Fürchtet nicht die, die den Leib töten können, sondern den, der Leib und Seele zu verderben vermag in der Hölle.'“ „So bereite dich zum Tod!“ „Ich bereite mich zur Unsterblichkeit.“ Nachdem das Todesurteil verkündigt war, rief er: „Das ist meine Befreiung!“ Als der Scharfrichter sagte, dass der Augenblick des Todes gekommen sei, sagte er gefasst: „Du verkündest mir das Leben!“ Brun wurde auf dem Scheiterhaufen im Juni 1540 verbrannt. Es dauerte eine Stunde, bis seine Qualen in den Flammen beendet waren.

Baraille, ein eifriger Waldenser-Prediger, wurde einige Jahre später gefangen genommen und zum Tod verurteilt. Er sagte zu seinen Richtern: „Seid versichert, dass es eher an Holz für die Scheiterhaufen fehlen wird als an Dienern des Evangeliums, die für ihre Lehre zu sterben bereit sind; denn ihre Zahl wächst Tag für Tag und Gottes Wort besteht in Ewigkeit.“ Baraille wurde auf dem Schlossplatz in Turin am 29. März 1558 verbrannt. Sein Henker bat ihn, ihm seinen Tod zu verzeihen. „Nicht allein dir“, soll er kurz vor seinem Heimgang milde geantwortet haben, „sondern allen, die an diesem Tod Schuld sind, verzeihe ich.“

Im Jahr 1560 nahm man viele Waldenser gefangen, weil sie an verbotenen Versammlungen teilgenommen hatten. Weil sie nicht abschwören wollten, sollten sie hingerichtet werden. Unter den Gefangengen war ein Mann namens Mathurin, der als Erster in die Flammen kommen sollte. Er wünschte, seine Frau noch einmal zu sprechen. Und was tat diese treue Seele? Sie ermahnte ihren Mann eindringlich, standhaft zu bleiben. „Verfluchte Ketzerin“, riefen die Feinde des Evangeliums ihr zu, „wenn du nicht aufhörst, wirst du morgen lebendig verbrannt werden. Du bringst dich mit deinem Mann in den Tod.“ „Gott sei gelobt“, sprach sie, „der, der uns im Leben vereint hat, wird uns auch im Tod nicht trennen.“ Nichts vermochte die Standhaftigkeit der Frau zu brechen. Ihre einzige Bitte war, mit ihrem Mann sterben zu dürfen. Das gewährte man ihr: Am 2. März 1560 wurden beide Eheleute auf den Scheiterhaufen gebracht.

Das Piemontesische Ostern

Als die Reformation sich ihren Weg bahnte, nahmen die Waldenser mit Reformatoren Kontakt auf und konnten in vielen Punkten Übereinstimmung erzielen. In Ruhe lebten die Waldenser deshalb aber noch lange nicht. Während der Osterfeiertage des Jahres 1655 geschah etwas, was alles übertraf, was die Waldenser bisher erlebt hatten.

Am 24. April 1655 fielen 16.000 Soldaten über die waldensischen Bergbewohner in Piemont (Norditalien) her. Mit dem Ruf „Schlagt die Hunde tot!“ begann ein barbarisches Gemetzel. Säuglinge wurden vor den Augen der Mütter an Felsen zerschmettert, Männer von Berggipfeln herabgestürzt, Greise schonungslos gemordet. So schnell, so unerwartet brach das Verderben über die friedlichen Leute herein, dass ihre Dörfer und Städte ohne nennenswerte Gegenwehr geplündert, niedergebrannt und verheert wurden. Die, die flüchten konnten, wurden wie Wild gejagt und viele schafften es nicht, die schützenden Schlupfwinkel der Berge zu erreichen. In diesen bösen Tagen wurden 4.000 Waldenser ermordet; zudem sollen rund 2.000 durch Hunger, Kälte und Krankheit umgekommen sein. Das schreckliche Leid der Waldenser in diesem „Blutfrühling“ empörte ganz Europa und infolgedessen wurde ihnen vielfach Unterstützung und Asyl gewährt.

Unterschied zu den Albigensern

Die Albigenser werden gern in einem Atemzug mit den Waldensern genannt, weil sie ebenfalls im frühen Mittelalter auftraten und auch als Ketzer gebrandmarkt wurden. Dabei ist allerdings zu vermerken, dass die Waldenser und Albigenser lehrmäßig kaum etwas Gemeinsames hatten. Bei den Waldensern wurden viele biblische Überzeugungen vertreten, während unter den Albigensern grobe Irrtümer zu Hause waren, wie Seelenwanderung, Allversöhnung und Leugnung der Gottheit des Herrn. Schon Waldus stellte sich gegen die Albigenser und wollte mit ihnen nicht in einen Topf geworfen werden.

Es ist erwähnenswert, dass die Albigenser durch Verfolgung (besonders durch den Albigenser-Kreuzzug in den Jahren 1209–1229) völlig aufgerieben wurden und ihre Spur sich im 14. Jahrhundert verliert. Die Waldenser hingegen hielten dem Sturm der Verfolgung stand und existieren bis heute, wenn sie auch im Lauf der Zeit vielfach in kirchlichen Gemeinschaften aufgegangen sind und ihre frühere Identität verloren ging.

Große Hingabe

Natürlich gab es auch unter den Waldenser manche Unwissenheit. Wie sollte es anders sein, wenn man bedenkt, dass im 12. Jahrhundert die Bibel fast nur in lateinischer Sprache verfügbar war und viele nicht lesen konnten. Die Erkenntnis beschränkte sich somit oft auf das, was den Christen hier und da verkündigt wurde. Aber diese teilweise geringe Kenntnis der Gedanken Gottes minderte nicht ihre Hingabe.

Der bekannte Bibelausleger J. N. Darby, der über eine hervorragende Schriftkenntnis verfügte, schrieb über treue Zeugen im Mittelalter (und ich zweifle nicht daran, dass er dabei auch an die Waldenser dachte) folgende zu Herzen gehende Worte: „Wie haben die Trübsale, Leiden, Mühsale und die Aufopferung jener gehetzten, aber treu ausharrenden Zeugen des finsteren Mittelalters denkende Christen aller Zeiten beschäftigt! Nirgends findet sich vielleicht ein Bericht von tieferem Interesse, nirgends größeres und unermüdlicheres Ausharren, nirgends aufrichtigere oder auch nur ebenso aufrichtige Herzen gegenüber der Wahrheit, gegenüber Christus und diese Treue zu Ihm angesichts einer verderbten Kirche wie bei den Heiligen des Mittelalters. Sie gingen durch Mühsale und Plagen, Verfolgungen und Strafen seitens eines Systems, das die heidnischen Verfolgungen, so grausam diese auch eine Zeitlang geführt wurden, weit übertrafen durch ihre Beharrlichkeit und weitaus bessere Organisation. Diese Verfolgten empfingen keine neuen Wunder Offenbarungen, wurden nicht gestützt durch eine öffentliche Körperschaft oder durch das Bekenntnis der Gesamtkirche, die sie durch eine umfassende Anerkennung hätte decken und ihnen Zuversicht vermitteln können. Mit jedem Schimpfnamen belegt, den das Volk oder die Priester zu ihrer Verfolgung ersinnen konnten, gingen sie in göttlich gewirkter Standhaftigkeit ihren eingeengten, aber von ihnen nie aufgegebenen Pfad. Sie hielten fest an dem Zeugnis Gottes und an der Verheißung, dass die Pforten des Hades die Versammlung nicht überwältigen würden – und zwar auf Kosten ihrer Ruhe, ihrer Heimat, ihres Lebens und alles dessen, was die Erde bieten kann und was der Mensch von Natur aus schätzt. Doch Christus hatte ihren Weg vorausgesehen und sie nicht vergessen. Sie mögen mit Schwachheit behaftet gewesen sein, und viele ihrer Gedanken waren von Unwissenheit gekennzeichnet. Satan mag versucht haben, das Gute mit dem Bösen zu vermengen und dabei manchmal erfolgreich gewesen sein. Menschen unserer Tage, die heute keinerlei Drangsal mehr zu bestehen haben, gefallen sich darin, schwache Stellen und Irrtümer in dem Leben jener Heiligen zu finden, manchmal auch mit Erfolg. Doch ihr Lebenslauf ist im Himmel aufgezeichnet, und das Lob ihres Erlösers wird einst hell hervorleuchten, wenn die Bücher jener in Bequemlichkeit lebenden Kritiker ihres Wandels zu Staub zerfallen und zum Mottenfraß geworden sind. Wenn manche von ihnen droben einst vielleicht jenen Heiligen begegnen werden, die sie hier verachtet haben, wird ihr Angesicht wohl von Scham bedeckt werden, soweit dies dort noch möglich sein wird. Was der Herr in jenen Heiligen fand und anerkannte, zählte in der Kirche für die Menschen zu jener Zeit überhaupt nicht, ebenso wenig wie für viele kluge Leute unserer Tage. Für Christus aber war es von hohem Wert.“ (Zitiert aus: „Sendschreiben an die sieben Versammlungen“ von H. Smith)

Ein Appell zur Treue

Das Wort Gottes spielte im Leben der Waldenser eine große Rolle. Das sollte bei uns nicht anders sein. Wäre es nicht gut, wenn wir uns einen großen Schatz an auswendig gelernten Bibelworten anlegen würden? Und sollten wir nicht eifriger die Bibel erforschen und das, was wir verstehen durften, konsequenter ausbreiten? Das Ausleben und das Ausbreiten der Wahrheit wird jedoch nie ohne Widerspruch und Widerstand erfolgen können. Wir lernen von den Waldensern, was es heißt, treu, beharrlich und standfest zu sein.

Wer die Geschichte der Waldenser liest, denkt fast unwillkürlich an die Worte aus Hebräer 11: „Andere wurden durch Verhöhnung und Geißelung versucht und dazu durch Fesseln und Gefängnis. Sie wurden gesteinigt, zersägt, versucht, starben durch den Tod des Schwertes, gingen umher in Schafpelzen, in Ziegenfellen, hatten Drangsal, Mangel und Ungemach; sie, deren die Welt nicht wert war, irrten umher in Wüsten und Gebirgen und Höhlen und den Klüften der Erde“ (V. 36–38). Diese Aussage bezieht sich unmittelbar auf gläubige Juden, lässt sich aber auf die Waldenser anwenden. Die böse Welt war es nicht wert, dass solche schlichten, friedlichen und redlichen Menschen unter ihnen lebten und es war großes Unrecht, sie zu verhöhnen und zu verjagen. Aber die treuen Zeugen sind es wert, mit weißen Kleidern bekleidet zu werden und den Herrn Jesus in Herrlichkeit zu begleiten (Off 3,4).