Frage: Wie ist 1. Mose 4,7 zu verstehen? Ich habe schon mehrere Auslegungen dazu gehört.
Antwort:
Da es zu jedem Satzteil dieses Verses die verschiedensten Erklärungen gibt, will ich versuchen, darüber einen gewissen Überblick zu geben.
1. „Ist nicht, wenn du recht (o. wohl) tust ...“ (wörtlich)
a) Dies wird von den meisten so verstanden, dass Kains Gesinnung sich bessert und er sich vor Gott, ganz allgemein betrachtet, recht verhält.
b) Einige Ausleger wollen es aber speziell auf die Darbringung eines gottgemäßen Opfers (s. Vers 1–5) oder auf das Ertragen der erlittenen Zurechtweisung (durch die Nichtannahme seines Opfers) beziehen.
2. „Erhebung“ (wörtlich). In Anlehnung an Hiob 11,15 wird dies meistens so verstanden, dass Kain sein Angesicht dann frei zu Gott erheben kann, weil er ein gutes Gewissen hat.
3. „Und wenn du nicht recht (o. wohl) tust“
a) In Übereinstimmung mit Punkt 1a) wird dieser Satzteil meistens so ausgelegt, dass Kain hier von Gott davor gewarnt wird, in seiner bösen Gesinnung zu verharren oder es gar zu bösen Taten kommen zu lassen.
b) Entsprechend 1b) glauben manche Ausleger hierin jedoch eine spezielle Warnung sehen zu müssen: „Und wenn du die erlittene Zurücksetzung nicht erduldest“ oder: „Wenn du kein rechtes Opfer bringst“.
4. „So lagert (die) Sünde vor der Tür“
a) Hierin wird im Allgemeinen die Sünde als böse Macht vor der Tür des Herzens gesehen. Da das Wort Sünde im Hebr. fem. ist, das Verb lagern (hebr. רוֹבֶץ robez) jedoch die maskuline Form des Partizips ist, wird hier oft das Bild eines wilden Tieres, z. B. eines Löwen (s. das gleiche Verb hebr. רָבַץ rabaz „niederlegen“ in 1. Mo 49,9; vgl. 1. Pet 5,8), aber auch der Schlange (1. Mo 3) oder eines Dämonen (im Akkadischen, einer dem Hebr. verwandten Sprache, bedeutet rabişum ‚Dämon’) eingeführt, um den Gebrauch der Mask.-Form zu erklären. Übrigens ist der Gebrauch einer mask. Verbform in Verbindung mit einem fem. Substantiv im Hebr. grammatisch durchaus zulässig, wie das fem. Wort hebr. קוֹהֶלֶת Kohelet ‚Prediger’ zeigt, das immer mit einer mask. Verbform verbunden ist; so auch 1. Mo 13,6: „das Land ertrug es nicht“; Jes 66,8: „Kann ein Land … zur Welt gebracht werden“ u. a. Stellen).
b) Andere (J.N.Darby, W.Kelly und F.W.Grant, aber auch kirchliche Ausleger) sehen hier – wie in der Anmerkung der EÜ – das Sündopfer, das im Hebr. dasselbe Wort ist wie Sünde (hebr. חַטָּאת). Der Sinn wäre dann, dass auch wenn Kain nicht wohl täte, doch Gott in Gnade ein Sündopfer bereit hätte – ein Hinweis auf das Werk des Herrn.
5) „Und nach dir wird sein Verlangen sein, du aber wirst über ihn herrschen.“
a) Da in diesem Satz die Pronomina sein und ihn wieder mask. sind, sehen verschiedene hierin die Unterordnung des (gläubigen) jüngeren unter das Erstgeburtsrecht des (ungläubigen) älteren Bruders, die trotz dessen Sünde bestehen bleibt, wie die Unterordnung der Frau unter den Mann, die in Kap. 3,16 nach dem Sündenfall mit denselben Worten ausgedrückt wird.
b) Andere wollen jedoch den Gedanken des vorherigen Satzes hier fortgeführt sehen und übersetzen daher (grammatisch unkorrekt!) im folgenden Sinne: „Nach dir wird ihr (d.h. der Sünde) Verlangen sein, du aber wirst über sie (d.h. die Sünde) herrschen“.
Ich habe hier nur einen Überblick über einige der verschiedenen Erklärungen geben können. Aber Du siehst, wie vielfältig die Meinungen zu diesem Vers des Wortes Gottes sind.
Meine Gedanken entsprechen jeweils den unter a) aufgeführten Erklärungen. Ich will Dir auch kurz erklären, warum.
Die unter 1b) gegebenen Auffassungen erscheinen mir einfach zu speziell und gesucht, um als alleinige Erklärungen gelten zu können, obwohl man sie sicher mit in den allgemeineren Gedanken des rechten Verhaltens vor Gott (1a) einordnen kann.
Das Gleiche gilt für die unter 3b) angeführten Erklärungen.
Zu 4a) wäre zu ergänzen, dass die Vorstellung der Sünde als eines Tieres gar nicht unbedingt erforderlich ist. – Ein sehr starkes Argument gegen die Auffassung in 4b) ist die Tatsache, dass im ganzen 1. Buch Mose kein Sündopfer erwähnt wird. Auch Hiob, eines der ältesten Bücher des AT, erwähnt nur Brandopfer (Hiob 1,5; 42,8). W. Kelly schreibt dazu: „Es gibt offensichtlich keinen Grund zu der Annahme, dass die Wahrheit des Sündopfers schon damals verstanden wurde. Erst durch das Gesetz kam die Erkenntnis der Sünde, und vor dem Gesetz gab es nach der Heiligen Schrift keine derartige Unterscheidung der Opfer, wenn es überhaupt eine gab“ (Lectures Introductory… In einem späteren Artikel vertritt er allerdings einen anderen Gedanken). Da das Brandopfer in 3. Mose 1 auch als die höchste Form des Opfers dargestellt wird, liegt außerdem der Gedanke nahe, dass Gott uns im 1. Buch gerade dasjenige Opfer vorstellen wollte, das Seine Gedanken am vollkommensten zum Ausdruck brachte.
Die fast wörtliche Übereinstimmung des letzten Satzes mit Kap. 3,16 legt den Gedanken nahe, dass es sich hier um das Verhältnis zwischen dem übergeordneten, erstgeborenen Kain und dem untergeordneten, jüngeren Abel handelt (5a), nicht wie unter 5b) angegeben, um das Verlangen der Sünde und die Herrschaft Kains über sie. Das hebr. Wort teschuqa (תְּשׁוּקָה) ‚Verlangen’ kommt nur dreimal im AT vor: in Kap. 3,16, hier und in Hld 7,11, und bezieht sich auf die menschliche Zuneigung, nicht auf ein gieriges, gewalttätiges Verlangen. Andererseits lesen wir im NT zwar von der Herrschaft der Sünde über den Menschen, nicht aber von der Herrschaft des Menschen über sie, sondern nur, dass der Gläubige in Christo von der Macht und Herrschaft der Sünde befreit ist. Sollte daher eine Wahrheit, die erst in Christus offenbart worden ist, in einer so eigenartigen Ausdrucksweise, die wir im NT nicht finden, enthüllt sein? Das bezweifle ich sehr.