Das erste war gleich einem Löwen und hatte Adlerflügel; ich schaute, bis seine Flügel ausgerissen wurden und es von der Erde aufgehoben und wie ein Mensch auf seine Füße gestellt und ihm ein Menschenherz gegeben wurde“ (Dan 7,4).

Einen Löwen mit Adlerflügeln gibt es in der Tierwelt nicht, in der Antike sahen lediglich Fabelwesen so aus. Das macht deutlich, dass es sich um Symbole von gewaltigen Mächten handelt, die mit den charakteristischen Kennzeichen dieser Tiere beschrieben werden. Ganz offensichtlich wird hier das babylonische Weltreich vorgestellt. Der Löwe spricht von Majestät, Würde und Pracht, er ist der Held unter den Tieren, der vor nichts zurückweicht (Spr 30,30), und der Adler von der Schnelligkeit in der Ausübung des Gerichts. Beide Symbole werden auch in Jeremia 49,19.22 in Bezug auf Babel bei seiner Ausübung des Gerichtes über Edom benutzt.

Dann wird in der Passiv-Form beschrieben, was mit diesem Reich geschieht. Der Niedergang beginnt damit, dass die Flügel ausgerissen werden, dass die Ausrichtung auf Beute und Eroberung anderer Reiche von einer anderen Macht – Gott selbst – weggenommen wird. Gott nimmt dieses Reich aus seinem Verantwortungsbereich heraus, ihm wird sein Einflussbereich entzogen und es bekommt eine völlig andere Position. Das Menschenherz, das ihm gegeben wurde, deutet dabei nicht etwa auf eine gewisse Veredelung hin, sondern es ist im Gegenteil ein Zeichen der Schwachheit.

Das babylonische Weltreich hat nur ca. 68 Jahre existiert; es war zwar das Mächtigste der vier Reiche, aber seine Dauer war die kürzeste von allen. Das dann folgende medo-persische Reich hat ca. 207 Jahre bestanden, dreimal länger als das babylonische Reich, aber von geringerer Machtfülle. Dann das griechische Weltreich hat etwas mehr als 300 Jahre bestanden; seine Zeit fällt in die 400 Jahre, die zwischen dem Alten und dem Neuen Testament liegen, deshalb taucht es geschichtlich in der Bibel überhaupt nicht auf. Das römische Reich begann noch in dieser Zeitspanne der 400 Jahre des Schweigens und es dauerte in seiner ersten Phase mehr als 400 Jahre. Die Besonderheit bei dem römischen Reich liegt noch darin, dass in dessen erste Phase das Ende des Heilszeitalters des Gesetzes fällt. Dazu kam der Sohn Gottes in diese Welt, geboren unter Gesetz (Gal 4,4), und Er ist durch Sein Erlösungswerk das Ende des Gesetzes (Röm 10,4). Mit Seinem Tod und Seiner Auferstehung begann das Heilszeitalter der Gnade in dieser Zeit des römischen Weltreiches.

In dem Bild der vier Reiche in Daniel 2 sehen wir eine absteigende Linie im Blick auf das Metall; es fing bei dem Haupt mit Gold an und endete bei den Füßen mit einem Gemisch aus Ton und Eisen. Hier in Daniel 7 haben wir eine absteigende Linie im Blick auf die Gewaltenteilung. Bei dem babylonischen Reich herrscht eine Person, im medo-persischen Reich ist die Herrschaft schon auf zwei Könige aufgeteilt, im griechischen Reich finden wir die vier Generäle nach Alexander dem Großen, und in der noch zukünftigen Phase des römischen Reiches werden es zehn Fürsten sein.

Und siehe, ein anderes, zweites Tier, glich einem Bären; und es richtete sich auf einer Seite auf, und es hatte drei Rippen in seinem Maul zwischen seinen Zähnen; und man sprach zu ihm so: Steh auf, friss viel Fleisch!“ (Dan 7,5).

Der Bär ist ein Bild absoluter Grausamkeit, und das haben die Meder und Perser während ihrer Herrschaft auch ausgelebt. Dass der Bär sich auf einer Seite aufrichtete, deutet auf die Tatsache hin, dass in diesem an und für sich geteilten Reich der eine Teil stärker war als der andere, die persische Seite überwog die medische Seite. In den drei Rippen in seinem Maul sehen wir wieder die Gefräßigkeit, Gier und Bestialität dieses Reiches (vgl. Jes 13,18; Spr 28,15). In Daniel 8,3.4 wird in dem Widder ja auch dieses medo-persische Reich vorgestellt, wie es sich in den drei Himmelsrichtungen Westen, Norden und Süden weitere Reiche einverleibt; die drei Rippen hier in Vers 5 können auch ein Hinweis auf diese drei Richtungen sein. Aus der Geschichte wissen wir, dass sich dieses Reich auch immer weiter Richtung Westen in das griechische Reich vorwagte, was einen erbitterten Hass bei den Griechen hervorrief (vgl. Dan 8,7).

Kores war der größte Vertreter dieses medo-perischen Reiches, und er ließ sich bezeichnen als König von Persien, Haupt von Akkad, Sumer und Babylon, drei der mächtigsten von ihm eroberte Länder. Sie sind vielleicht auch eine Erklärung für die drei Rippen, die dieser Bär in seinem Maul hat. Und der Gedanke der Mordlust und Raubgier wird noch bestätigt durch die Aufforderung: „Steh auf, friss viel Fleisch.“ Gott hat die Meder und Perser benutzt, um das babylonische Weltreich zu vernichten. Durch wen kommt diese Aufforderung? Aus Jeremia 51,11 können wir entnehmen, dass sie direkt von Gott kommt. Kores handelte unter der Hand Gottes und tat das, was Gott wollte – obwohl es ihm selbst sicher gar nicht bewusst war. Gott hatte ihn als Rute Seines Zorns benutzt, Kores aber meinte es nicht also (vgl. in Bezug auf Assur Jes 10,5–7). Er führte zwar den Namen des Gottes Israel im Mund (Esra 1,2.3), aber er besaß keine innere Beziehung zu Ihm, er kannte Ihn nicht (Jes 45,4.5). Und Gott benutzt dann gerade diesen grausamen Herrscher, um einen Überrest Seines irdischen Volkes zurückzuführen nach Jerusalem.

Nach diesem schaute ich, und siehe, ein anderes, gleich einem Leoparden; und es hatte vier Vogelflügel auf seinem Rücken; und das Tier hatte vier Köpfe, und Herrschaft wurde ihm gegeben“ (Dan 7,6).

Der Leopard redet von absoluter Schnelligkeit, Agilität und Wendigkeit (Hab 1,8; in dieser Stelle allerdings auf das babylonische Reich gedeutet). Wir sehen hier in erster Linie Alexander den Großen darin, der in seinen Eroberungszügen eine unglaubliche Schnelligkeit bewies. Er kam in ungefähr drei Jahren fast bis nach Indien. Und die Geschichte beschreibt, dass er sich danach hingesetzt und darüber geweint hätte, dass kein weiteres Reich mehr zu erobern wäre. Sein Weltreich war größer als alle anderen zuvor. Die vier Vogelflügel verstärken diesen Gedanken der schnellen Ausbreitung in alle vier Himmelsrichtungen noch; und auch bei der Beschreibung des griechischen Weltreiches als Ziegenbock in Daniel 8,5 wird der Gedanke dieser außerordentlichen Geschwindigkeit seiner Eroberungszüge dadurch betont, dass dieser Ziegenbock die Erde überhaupt nicht berührte. In der West-Ost-Ausdehnung erstreckte sich das griechische Weltreich vom Ägäischen Meer zwischen Griechenland und der Türkei bis hin zum Hindukusch und dem heutigem Pakistan. In der Nord-Süd-Ausdehnung ging es vom Schwarzen Meer bis nach Ägypten zum Nil.

Alexander der Große als Herrscher über das griechische Reich wird in diesem Vers gar nicht angedeutet, es wird direkt von den vier Köpfen des Leoparden gesprochen. Diese vier Köpfe deuten auf die vier Diadochen oder Generäle hin, die nach dem frühen Tod Alexanders des Großen das Reich unter sich teilen würden. Er wurde keine 33 Jahre alt und starb in Babylon an einem hitzigen Fieber. Seine Krankheit hatte einen sehr schnellen Verlauf genommen, und die ganze Macht, die Gott ihm gegeben hatte, war in einem Augenblick für immer verloren. Nach den Diadochen-Kämpfen teilten letztlich vier seiner Generäle das Reich unter sich auf (vgl. die Ausführungen zu Dan 8,5–10).

Gott zeigt also nicht jede tatsächliche geschichtliche Einzelheit, sondern nur insoweit sie mit Seinem irdischen Volk zu tun haben. Die Eroberungszüge Alexanders des Großen hatten noch nicht direkt Auswirkungen auf Sein Volk, aber von diesen vier Köpfen, vier Generälen, haben später zwei in besonderer Weise zu tun gehabt mit dem Volk Gottes.