Und ich schaute in Gesichten der Nacht: Und siehe, mit den Wolken des Himmels kam einer wie eines Menschen Sohn; und er kam zu dem Alten an Tagen und wurde vor ihn gebracht. Und ihm wurde Herrschaft und Herrlichkeit und Königtum gegeben, und alle Völker, Völkerschaften und Sprachen dienten ihm; seine Herrschaft ist eine ewige Herrschaft, die nicht vergehen wird, und sein Königtum ein solches, das nie zerstört werden wird“ (Dan 7,13.14).

Der Sohn des Menschen und Seine Herrschaft

Daniel sieht einen wie eines Menschen Sohn, ausdrücklich nicht den Sohn des Menschen. Johannes sieht einen gleich dem Sohn des Menschen, auch nicht direkt den Sohn des Menschen (Off 1,13). Es ist kein Zweifel, dass Er es ist, aber es scheint doch ein gewisser Abstand da zu sein. Wir können in unserem Leib der Niedrigkeit die Herrlichkeit Gottes und auch die Herrlichkeit des verherrlichten Menschensohnes nicht schauen. Daniel und Johannes sehen Gott in dem Herrn Jesus. Der Herr Jesus hat alle Eigenschaften, die Gott hat. Der Alte an Tagen: Gott in Seiner ewigen und allmächtigen Position; der Herr Jesus, wahrer Mensch und wahrer Gott, der Jehova des Alten Testaments – eins in der Gottheit!

In Psalm 8,5–7 finden wir den Herrn Jesus als den Sohn des Menschen über die gesamte Schöpfung gestellt; in Psalm 80,18 finden wir noch einmal den Herrn Jesus als den Sohn des Menschen, und dort geht es um Seine Herrschaft über das Volk Israel. Und hier in Daniel 7,13.14 ist Seine universale Herrschaft über alle Völker vor uns. Der Titel Sohn des Menschen erinnert an Seine tiefe Erniedrigung, dass Er, der ewige Gott, hier bei Seinem ersten Kommen auf diese Erde von einer Frau geboren wurde und wahrer Mensch geworden ist, ausgenommen die Sünde. Dieses Kommen war von einem ganz anderen Charakter gewesen (Mk 10,45). Aber dieser Titel, der im Neuen Testament außerhalb der Evangelien nur noch ganz selten vorkommt, steht eben auch ganz eng mit Seiner Erhöhung in Verbindung (Apg 7,56; Off 1,13; 14,14). Gott sorgt dafür, dass der, der einmal kam, um das Gericht am Kreuz zu tragen, wiederkommen wird als der Richter, um alles das zu richten, was Ihm entgegensteht. Gott wird sich verherrlichen auch in dem Gericht, das der Sohn des Menschen ausübt, und in Seiner darauf folgenden wunderbaren Herrschaft! Der Herr Jesus wird ewig Mensch bleiben, und als solchen werden wir Ihn ewig sehen – der Sohn des Menschen, unser Heiland!

Wir haben jetzt eine Szene im Himmel vor uns, wo dem Sohn des Menschen das ganze Gericht von Gott übertragen wird (Joh 5,27). Diese Person, die jetzt erscheint, wird im Gegensatz zu den vier Tieren immer wieder mit dem Himmel verbunden. Er kommt nicht aus der Erde oder aus dem Meer hervor, sondern Seine Herkunft ist der Himmel, und von dort kommt Er auf den Wolken des Himmels. Hier kommt Er zu dem Alten an Tagen, und das ist nicht Sein sichtbares Kommen auf diese Erde, sondern es ist die Einführung des Sohnes des Menschen, der von dem Alten an Tagen als Richter eingesetzt wird und die Herrschaft in Besitz nimmt (Eph 1,20–22). Nach Gottes Ratschluss ist das jetzt schon so, nur sehen wir es jetzt noch nicht (Heb 2,8). Von Ihm wird jetzt hier gezeigt, dass Er einmal eine Universalherrschaft über alle Völker antreten wird. Dass hier noch von Völkerschaften und Sprachen gesprochen wird, zeigt, dass es nicht um den ewigen Zustand geht, denn dann wird es keine Nationen mehr geben; Gott wird bei den Menschen wohnen (Off 21,3). Solange die Erde besteht, auch das 1000-jährige Reich hindurch, wird es die Völker, Völkerschaften und Sprachen noch geben; aber wenn diese Erde aufgelöst sein wird im Brand und die neue Schöpfung da ist, dann wird es keine Völker mehr geben, auch kein Volk Israel als solches mehr! Es ist ein wichtiger Punkt für das Verständnis der Prophetie, dass, wenn es um Israel und Nationen geht, sich das immer auf diese Zeit einschließlich des 1000-jährigen Reiches bezieht. Danach gibt es nur noch die Versammlung und alle anderen Erlösten, die Menschen.

Diese Herrschaft wird Er nicht an sich reißen, sondern sie wird Ihm von Gott anvertraut werden, Er gibt Ihm das Anrecht auf die Herrschaft im 1000-jährigen Reich (Apg 17,30.31). Es ist ein bewegender Gedanke, dass der Herr Jesus, der absolut Gott ist und gleich Gott ist, sich das alles geben lässt! Er bekommt das Anrecht, die Legitimation zur Herrschaft über die ganze Welt – und Er nimmt das demütig an! Wenn Gott in Psalm 2,8 zu Seinem Sohn sagt: „Fordere von mir …“, dann finden wir nicht, dass der Herr das auch getan hätte. Aber Er hätte das Recht dazu gehabt, es von Gott zu fordern.

Erst danach wird Er als Richter auf diese Erde kommen. Der Herr Jesus hatte das später selbst zweimal angekündigt (Mt 24,30; 26,64; vgl. Mk 14,62). In diesen Stellen des Neuen Testaments wird das Kommen des Herrn Jesus mit den Wolken immer verbunden mit Seinem sichtbaren Erscheinen auf der Erde. Dabei handelt es sich also um ein ganz anderes Ereignis, aber es wird in dem gleichen Charakter geschehen wie hier in Daniel 7. Und zum ersten Mal werden alle Nationen, alle Menschen dieser Welt vor diesem Sohn des Menschen niederfallen. Es ist das Ende der Zeiten der Nationen, die mit dem babylonischen Weltreich begonnen hatten.

Die Ausdehnung Seines Reiches wird eine Dimension annehmen, die es nie zuvor gegeben hat, und die Dauer dieses Königtums ist ewig, also solange die Erde besteht, und auch das Ende Seines Reiches ist unterscheiden von den vorhergehenden Reichen: Es wird nie zerstört werden. Alle vier Weltreiche sind zerstört worden, aber das wird bei dem Königtum des Herrn Jesus nicht der Fall sein, Er wird das Reich in völliger Ordnung Seinem Gott und Vater übergeben (1. Kor 15,24).

Wenn hier von Seiner ewigen Herrschaft gesprochen wird, müssen wir bedenken, dass wir uns hier noch auf alttestamentlichem Boden befinden, wo – mit Ausnahme des ewigen Gottes (z.B. Jes 40,28) = über der Zeit stehend, absolut und uneingeschränkt ewig – dieser Ausdruck auf die Schöpfung bezogen ist und deshalb zeitlich begrenzt ist; es bedeutet: solange die Erde besteht (Jes 60,21), danach kommt nichts Gleichartiges mehr, nur noch die wirkliche Ewigkeit. Bruder Kelly hat einmal gesagt, dass das 1000-jährige Reich der Abschluss Gottes mit dieser Welt in Gerechtigkeit und Gnade ist. In ihm finden wir aber auch Charakterzüge, die auf die Ewigkeit hinweisen; und insofern kann es auch als eine Art Vorstufe zur Ewigkeit angesehen werden (vgl. Off 22,5).

Mir, Daniel, wurde mein Geist in mir tief ergriffen, und die Gesichte meines Hauptes ängstigten mich. Ich trat zu einem der Dastehenden, um von ihm Gewissheit über dies alles zu erbitten. Und er sagte mir, dass er mir die Deutung der Sache kundtun wolle:“ (Dan 7,15.16).

Daniel war tief ergriffen, als er in dieser Deutlichkeit sah, was alles kommen würde; aber das meint nicht, dass er ängstlich wurde im Blick auf die Umstände, denn er vertraute auf seinen Gott. Und auch wir sollten im Vertrauen auf den Herrn auf Sein Kommen warten. All das, was in unserer unruhigen Zeit um uns herum geschieht, sollte uns nicht erschüttern. Die Gefahr ist da, dass wir doch besorgt und beängstigt werden. Wir wissen, dass Gott in unseren Tagen schon die Zeit vorbereitet, die nach der Entrückung sein wird. Darüber sollten wir nicht ängstlich werden!

Daniel hatte jetzt also alle drei Gesichte vor sich: das Gesicht über die ersten drei Weltreiche (Dan 7,2–6), das Gesicht über das vierte Weltreich, den Alten an Tagen und das Gericht (Dan 7,7–12) und das Gesicht über einen wie eines Menschen Sohn (Dan 7,13.14). Er wird dieses Bild nicht vollständig verstanden haben, sonst hätte er nicht um Gewissheit gebeten. Das Bild in Daniel 2 hatte ihn sicher in gewisser Weise schon vorbereitet, so dass er wohl eine ungefähre Ahnung von der Bedeutung haben mochte, aber ein Stück weit blieb er doch unwissend. Auch eine solche Ungewissheit kann zu Verunsicherung und Beängstigung führen.

Bei dem Dastehenden, den Daniel dann um Gewissheit über das alles bittet, wird es sich wahrscheinlich um eine Engel gehandelt haben, und der gibt ihm den folgenden Versen eine ausführliche Deutung, die über die Gesichte hinausgeht. In diesen Erklärungen werden vereinzelt Dinge hinzugefügt zu den Gesichten, die Daniel gesehen hatte. Gott wiederholt eigentlich kaum einmal einfach nur etwas, sondern es ist sehr oft Seine Weise, dass Er bei einer scheinbaren Wiederholung über das Ursprüngliche hinausgeht und auch bei Fragen weit über das hinausgeht, was tatsächlich gefragt wurde. Denken wir an die Frage der Jünger in Matthäus 24,3; die Antwort des Herrn in den Kapiteln 24 und 25 geht weit über diese Frage der Jünger hinaus.

„Diese großen Tiere, es sind vier: Vier Könige werden von der Erde aufstehen. Aber die Heiligen der höchsten Örter werden das Reich empfangen und werden das Reich besitzen bis in Ewigkeit, ja, bis in die Ewigkeit der Ewigkeiten“ (Dan 7,17.18)

Interessant ist die Gegenüberstellung der vier Reiche von Vers 17 zu Vers 3: Dort kamen die vier Tiere aus dem Meer herauf; hier wird gesagt, dass sie von der Erde aufstehen. Vers 3 zeigt den Umstand, aus dem heraus sie entstanden: aus dem unruhigen Völkermeer. Vers 17 zeigt ihren Ursprung: Sie sind nicht von dem Himmel. sondern von der Erde. Diese vier Weltmächte umspannen die gesamten Zeiten der Nationen. Sie werden aufstehen, aktiv die Macht an sich reißen. Wir haben schon an die Vorsehung Gottes in diesen Zeiten der Nationen gedacht, aber hier wird uns die parallele Wahrheit vorgestellt: Diese vier Weltmächte sind absolut verantwortlich für das, was sie tun. Sie werden sich ihrer Verantwortung vor Gott nicht entledigen können mit der Ausrede, dass Gott in Seiner Vorsehung das ja so wollte.

Wenn hier gesagt wird, dass sie von der Erde aufstehen, dürfen wir das nicht mit dem Tier in Offenbarung 13,11 gleichsetzen, von dem auch gesagt wird, dass es aus der Erde heraufsteigt. Dort geht es um den Antichrist, und dort ist die Erde im Gegensatz zu dem Meer, dem Völkermeer in Vers 1 ein Bild von Israel; der Antichrist wird aus dem jüdischen Volk stammen. Hier haben wir es nicht mit dem Antichrist zu tun, hier geht es um vier Weltmächte, deren Ursprung von der Erde ist, deren Reiche irdische Reiche sind, die die Herrschaft des Himmels nicht anerkennen. Mit allen ihren Gedanken sind sie irdisch – aber der Herr Jesus als großartiger Gegensatz dazu wird vom Himmel kommen!

In dem Gesicht hatte Daniel nichts gesehen von den Heiligen der höchsten Örter, sie werden erst jetzt in der Deutung erwähnt. Es ist also nicht nur der Sohn des Menschen, der das Reich ererbt, sondern auch die Heiligen der höchsten Örter. Es sind solche, die mit dem Himmel verbunden sind. Ihnen wird eine Regierungsverwaltung übertragen werden, die nicht enden wird; auch hier finden wir wieder eine Anspielung auf die Zeit nach dem 1000-jährigen Reich. Ewigkeit weist auf das 1000-jährige Reich hin, aber Ewigkeit der Ewigkeiten auf die dem 1000-jährigen Reich folgende Ewigkeit (vgl. Off 22,5).

In diesem Kapitel werden noch häufiger Heilige erwähnt, insgesamt unter drei verschiedenen Bezeichnungen: Heilige der höchsten Örter (Dan 7; 18; 22.25), Volk der Heiligen der höchsten Örter (Dan 7,27) und Heilige (Dan 7,21.22). Nicht bei jedem Vorkommen ist immer die gleiche Gruppe von Heiligen gemeint, es wird von ihnen ja auch Unterschiedliches gesagt. Wir können unterscheiden zwischen den irdischen Heiligen aus Israel und den himmlischen Heiligen der ersten Auferstehung:

  • Vers 18: Die Heiligen der höchsten Örter werden das Reich empfangen; die Dauer dieser Herrschaft wird bis in die Ewigkeit der Ewigkeiten sein, ein Hinweis auf die Zeit nach dem 1000-jährigen Reich, wo die Gläubigen mit Christus herrschen werden; es sind deshalb wohl die himmlischen Heiligen hier zu sehen.
  • Vers 21: Das Horn führt Krieg gegen die Heiligen; Offenbarung 13,7 zeigt, dass es irdische Heilige sind, die in der Zeit der Drangsal auf der Erde leben und besiegt, aber im Gegensatz zu den getöteten Märtyrern nicht vernichtet werden (Mt 25,34); sie werden in gewisser Weise unterworfen, aber nicht getötet werden; deshalb gehören sie dann auch nicht zu der Gruppe der Märtyrer der ersten Auferstehung.

  • Vers 22: Den Heiligen der höchsten Örter wird das Gericht gegeben; die himmlischen Heiligen (Off 20,4), das Gericht anvertraut zu bekommen ist mehr, als nur zu herrschen.

  • Vers 22: Die Heiligen nehmen das Reich in Besitz: wie in Vers 27 die irdischen Heiligen, die zu Beginn des 1000-jährigen Reiches auf der Erde leben werden; es sind die Schafe, die der Herr bei dem Gericht der Lebendigen in Matthäus 25,31–40 zu Seiner Rechten stellen und ihnen das Reich geben wird.

  • Vers 25: Der römische Fürst wird die Heiligen der höchsten Örter vernichten; wieder die himmlischen Heiligen, die Gläubigen der Drangsalszeit, die verfolgt und zum Teil sogar umgebracht werden; sie unterwerfen sich nicht den Geboten des Tieres und werden deshalb getötet (Off 13,15); sie gehören zu der Gruppe der Märtyrer, die an der ersten Auferstehung teilhaben und auf den Thronen sitzen werden (Off 20,4).

  • Vers 27: Das Reich … wird dem Volk der Heiligen der höchsten Örter gegeben; es ist wieder die irdische Szene unter dem ganzen Himmel, und es handelt sich eindeutig um irdische Heilige des Volkes Israel.

Dieses „Aber die Heiligen der höchsten Örter werden das Reich empfangen“ muss ein starker Trost gewesen sein! Als Daniel dies alles im ersten Jahr Belsazars niederschrieb, war das zweite Tier noch nicht aufgestanden, auch das dritte und das vierte Tier noch nicht. Wenn dann später Gläubige dieses Buch lasen, vielleicht zu einer Zeit, als das zweite Tier regierte oder das dritte Tier in der Zeit, in der Gott überhaupt nicht zu Seinem Volk geredet hatte, dann konnten sie in dieser Stelle Trost finden. Ist das prophetische Wort in einer Zeit des Endes, wo die Tage schwieriger werden, nicht auch für uns ein starker Trost?!