Wir haben gesündigt und verkehrt und gottlos gehandelt, und wir haben uns empört und sind von deinen Geboten und von deinen Rechten abgewichen“ (Vers 5)

Dieses Gebet Daniels hat zwei Hauptpunkte: der erste Punkt ist Bekenntnis (Vers 5+6), und der zweite Punkt ist das Anerkennen der Gerechtigkeit Gottes (Vers 7). Daniel bestätigt, dass es gerecht von Gott war, wenn Er mit diesem Volk nun so im Gericht handelte.

Wir stellen uns vielleicht die Frage, warum Daniel sich so mit der Sünde des Volkes einsgemacht und sich darunter gestellt hat, obwohl er persönlich doch innerlich und äußerlich völlig rein war davon? Als erstes ist es so, dass bei jeder Sünde, die damals in Israel oder heute in der Versammlung geschehen ist, jeder ernste Gläubige sagen muss, dass er zu der gleichen Sache fähig wäre, weil er in seiner Natur um keinen Deut besser als andere ist. Und ein zweiter Gesichtspunkt ist, dass Daniel ein Teil dieses Volkes Israel war und sich nicht daraus entfernen konnte, um von außen über dieses Volk zu richten. Mose hatte auch diese vor Gott sehr wohlgefällige Haltung zum Ausdruck gebracht, nachdem das Volk diese Sünde mit dem goldenen Kalb begangen hatte (2. Mo 34,9). Auch Nehemia zeigte eine solche Haltung (Neh 1,6 letzter Satz). Und wenn wir an Achan denken, der in seiner Untreue von dem Verbannten genommen hatte, dann sagt Gott zu Josua: „Israel hat gesündigt“ (Jos 7,11). Er identifiziert das ganze Volk mit der Sünde eines Einzelnen.

Und das gilt noch in viel stärkerem Maß für unsere Tage im Blick auf die Versammlung. Ich bin eins mit den Gläubigen, bilde mit ihnen den einen Leib; und wenn ich den Zustand der Versammlung sehen, kann ich nicht von oben herab darüber richten. Warum nicht? Weil ich selbst ein Teil davon bin! Das dürfen wir nie vergessen. Wenn ich auch nur ein richterliches Wort über den Zustand der örtlichen Versammlung ausspreche, spreche ich das gegen mich selbst aus! Wenn ich noch nie eine Träne vergossen habe über den Zustand des Volkes Gottes unserer Tage, dann habe ich noch nicht wirklich empfunden, was es bedeutet: „Wir haben gesündigt“! Das gleiche gilt auch im Blick auf die gesamte Christenheit, von der wir auch ein Teil dieses Bekenntnisses sind. Es beugt uns doch tief, wie viel Böses im Namen des Herrn in der Christenheit getan wird! Diese Anwendung auf die Namens-Christenheit können wir machen, wenn wir daran denken, dass auch in dem Volk Israel als einer erlösten Nation nicht alle Männer und Frauen wirklich an Gott glaubten, und doch Daniel in seinem Bekenntnis in Vers 11 ausdrücklich ganz Israel mit einbezieht – nicht nur die zwei Stämme Juda, sondern auch die übrigen zehn Stämme. Wir sind heute alle in diesem großen Haus (2. Tim 2,20) und können nicht daraus herausgehen, und wir müssen uns unter das beugen, was der Mensch daraus gemacht hat. Wir dürfen und sollen uns an Gott erfreuen, aber wir sollten nicht einen Moment vergessen, dass das Volk Gottes unter unserer Verantwortung in Trümmern liegt! Der Genuss am Herrn Jesus wird uns nie trennen von dem Einsmachen mit unserem Zustand.

Die Juden waren unter der Zucht Gottes in die Gefangenschaft nach Babylon gekommen und hatten sich gegen diese Strafe Gottes empört und wollten es nicht akzeptieren, dass sie von einem heidnischen Volk besiegt worden waren. Dagegen hatte sich Jeremia unter der Leitung des Heiligen Geistes in einem Brief an die Juden in Babylon gewandt und sie aufgefordert, sich unter die Strafe Gottes zu beugen; und statt sich gegen die Stadt Babel aufzulehnen, sollten sie den Frieden dieser Stadt suchen (Jer 29,1–7). Diese Haltung des sich unter die Strafe Gottes stellen bringt Daniel hier in seinem Bekenntnis zum Ausdruck. Das ist eine sehr geistliche und vor Gott sehr wohlgefällige Haltung!

Daniel gebraucht hier fünf verschiedene Ausdrücke, um die Sünde des Abweichens des Volkes zu schildern: gesündigt – verkehrt gehandelt – gottlos gehandelt – empört – abgewichen. Er tut das nicht, um sich einfach nur abwechslungsreich auszudrücken, sondern er tut das in dem Bewusstsein, was Sünde des Volkes Gottes in den Augen Gottes ist. Es scheint auch, dass sich Daniel dabei auf das Gebet Salomos stützt, wo dieser in 1. Kön 8,47 ganz ähnliche Formulierungen gebraucht. Sündigen ist dabei die allgemeinste Form des Nicht-Bewahren und Übertreten der von Gott gegebenen Gebote. Das verkehrt Handeln wird noch an anderen Stellen in diesem Kapitel mit Ungerechtigkeit übersetzt (Vers 13); sie hatten nicht nur gesündigt, sondern direkt das verstossen, was Gottes Gedanken waren. Gottloses Handeln betont, dass Gott nicht der Beweggrund ihres Handelns war und sie dadurch Schuld auf sich geladen hatten, dass sie gegen Gottes Gedanken gehandelt hatten. Empörung ist Rebellion, das Auflehnen gegen die Autorität Gottes. Abweichen von den Wegen Gottes ist purer Eigenwille, im Ungehorsam eigenen Wege gehen.

Wir leben heute in Tagen, wo mancherlei Böses aus unserer Mitte ausgeschlossen werden muss, und zunehmend sind es sittliche Verfehlungen. Und wir müssen darüber besorgt sein, dass man sich mit einem leichtfertigen Bekenntnis der Sünde zufrieden gibt, dass böse Dinge ganz schnell übergangen werden – oft sogar nicht nur bei denen, die das Böse verübt haben, sondern auch bei denen, die die Zucht ausgeübt haben. Das ist in höchstem Maß demütigend! Ist die Tiefe des Bösen wirklich schon erkannt und empfunden worden?

Daniel malt es gleichsam in beeindruckender Weise mit ganz konkreten Benennungen der Sünde in ihrer abscheulichen Vielfalt aus, um aufzuzeigen, was Sünde ist, und um ein Empfinden dafür zu wecken, was Gott entgegen ist. Wenn wir Gemeinschaft haben wollen mit Gott, dann müssen wir mit den gleichen Empfindungen das Böse in unserer Mitte sehen! Und je mehr wir im Licht wandeln, werden wir die Abweichungen des Volkes Gottes erkennen und sie bekennen. Dass Daniel so denken und sprechen konnte, war das Ergebnis davon, dass er seinen Gott kannte und in Gemeinschaft mit Ihm lebte. Und das ist bei aller Traurigkeit und allem Ernst ein großes Glück. Wenn wir die Dinge so sehen, wie Er sie sieht, dann sind wir Ihm nahe; und bei allem Ernst macht uns das doch glücklich, so denken zu können wie Er, Seine Gesinnung zu haben!

Ob es also Mose, Nehemia, Esra oder Daniel waren, alle diese Männer stellten sich angesichts des Bösen im Volk Gottes auf die Seite Gottes. Und sie stellten sich auch an die Seite des Volkes Gottes und machten sich eins mit dieser Sünde. Aber wir finden im Alten Testament einen Mann, der das eben nicht getan hatte: Elia! Er hatte gesagt: „Ich allein bin übrig geblieben (1. Kön 19,10+14); er stellte sich nicht an die Seite dieses Volkes. Und von da an war er unbrauchbar für den Dienst für Gott. Erkennen wir diese Gefahr nicht auch für uns selbst? Denken wir in tief unseren Herzen nicht auch manchmal so wie Elia, dass wir uns ein wenig erheben über das Volk Gottes? Das Neue Testament zeigt uns, welch ein Urteil Gott über eine solche Haltung hat. In Röm 11,2 sagt Paulus im Blick auf diese Begebenheit, dass Elia vor Gott auftritt gegen Israel!

Und wir haben nicht auf deine Knechte, die Propheten, gehört, die in deinem Namen zu unseren Königen, unseren Fürsten und unseren Vätern und zu allem Volk des Landes geredet haben“ (Vers 6)

Vers 6 scheint dann noch eine Steigerung zu Vers 5 zu sein. Vers 5 hatte die Sünde bezeichnet, und es ist schlimm, wenn wir gesündigt haben; aber wenn ein Prophet kommen muss und auf die Sünde hinweist und das dann abgelehnt wird, dann ist das doch noch etwas Schlimmeres. Sündigen tut jeder, aber wehe, wenn wir die Warnungen Gottes darüber ausschlagen – das ist wirklich schlimm! Bruder Darby hat am Ende seines Lebens einmal gesagt: „Gestern war die Stimme eines Lehrers notwendig, weil Unwissenheit das Kennzeichen des Volkes Gottes war; heute ist die Stimme eines Propheten nötig, weil Gleichgültigkeit, Nachlässigkeit und Versagen das Kennzeichen des Volkes Gottes ist“ .In der Geschichte des Volkes Israel scheinen sich die Sünden aus Vers 5 während ihrer ganzen Historie immer wieder ereignet zu haben, während dieses Böse aus Vers 6 sich deutlich auf die letzte Zeit vor der Gefangenschaft und Wegführung bezieht (vgl. 2. Chr 36,15+16).

Daniel nennt diese Propheten hier deine Knechte. Sie waren Knechte Gottes, und es ist etwas überaus Ernstes, wenn Gott einen Propheten schickt und wenn dieser Prophet im Namen Gottes spricht – und wir hören nicht! Das gilt auch in unseren Tagen in Bezug auf den örtlichen und überörtlichen Dienst der von Gott gesandten Propheten. Sie reden im Namen Gottes zu uns (1. Pet 4,11), und wir sind alle verantwortlich, auf das zu hören, was Gott uns durch sie zu sagen hat. Und für diese Propheten gilt auch, dass sie furchtlos das sagen sollen, was Er ihnen in Seinem Namen zu reden aufgetragen hat – ohne Ansehen der Person.

Dieser Vers zeigt auch, wie universal das Vergehen Israels war. Das Böse hatte eine große Spannweite, Könige, Fürsten, Väter und sogar alles Volk des Landes, jeder Einzelne egal in welcher Stellung, hatte sich schuldig gemacht. In Vers 7 und 11 betont Daniel noch einmal, dass ganz Israel treulos gewesen und abgewichen ist. Aber in der Reihenfolge, wie er sie alle hier aufzählt, zeigt er doch, dass er auch ein Empfinden für Verantwortlichkeit hat, denn er beginnt bei denen, die die größte Verantwortung trugen. Gott spricht uns alle an, wir sind ein Teil des Ganzen, und doch gibt es besondere Verantwortlichkeiten. Auch dies ist ein Beispiel des geistlichen Unterscheidungsvermögens Daniels.

Es ist auch schön, zu sehen, dass es hier doch einen gab, der auf die Stimme der Propheten gehört hatte; Daniel las den Propheten Jeremia und achtete auf das, was dieser gesagt hatte. Hören wir sowohl persönlich als auch gemeinsam auch auf die Stimme derer, die an uns einen Propheten-Dienst tun? Hätten wir in der Vergangenheit mehr auf die Stimme der Propheten gehört, wären wir vor manchem eigenen Weg bewahrt geblieben!