In 1. Korinther 13,9.10 steht: „Denn wir erkennen stückweise, und wir weissagen stückweise; wenn aber das Vollkommene gekommen sein wird, so wird das, was stückweise ist, weggetan werden.“ Was ist unter „das Vollkommene“ zu verstehen? Ich habe gehört, dass damit der vollständige Kanon gemeint ist, der zur Zeit der Abfassung des Briefes noch nicht vorlag.

Diese Auslegung wird dem Gedankengang des Apostels Paulus in diesen Versen überhaupt nicht gerecht.

Ein paar Überlegungen dazu:

  • Wenn das „Vollkommene“ sich auf den Kanon beziehen würde, dann war Paulus zeitlebens „kindlich“ (1. Kor 13,11), denn als er starb, war der Kanon noch nicht abgeschlossen. Und als der Kanon später vollständig war, waren die Christen (auch die fleischlichen Korinther) dann plötzlich geistlich erwachsen und hatten weggetan, was kindlich war?
  • Die Erkenntnis ist stückweise. Und diese Art der Erkenntnis wird bei der Entrückung zu Ende kommen, weil wir dann volle Erkenntnis haben, wie 1. Korinther 13,12 sagt. Es geht nicht darum, dass bei der Vollendung des Kanons die volle Erkenntnis gekommen wäre. Dann würden wir ja mehr als Paulus erkennen.
  • Vers 12 bezieht sich auf die Entrückung: Denn nur dann werden wir den Herrn Jesus „direkt“ sehen (vgl. Off 22,4). Dann erkennen wir nicht mehr „stückweise“. Der Bezug zu Vers 10, wo auch von „stückweise“ gesprochen wird, ist eindeutig. Was liegt näher, als unter der „Vollkommenheit“ in Vers 10 die Vollkommenheit des Himmels zu verstehen?     
  • Der Gedankengang von 1. Korinther 13 wäre unklar, wenn es in Vers 10 um den Kanon ginge: Was sollten die Korinther mit dieser Aussage anfangen? Sollten sie etwa die Briefe des Paulus nicht so wichtig nehmen? Sollten sie jetzt noch ein paar Jahrzehnte einfach abwarten? Was sollten sie denn jetzt tun? Und was sollten sie daraus lernen? Wenn man jedoch in Vers 10 die Vollkommenheit des Himmels sieht, wird alles einfach: Die Korinther sollten nicht die Prophezeiung und die (stückweise) Erkenntnis zu hoch ansetzen. Denn das sind nur zeitliche Erscheinungen. Die Liebe ist viel wichtiger, denn sie ist ewig. Sogar die anderen beiden Kardinaltugenden des christlichen Glaubens, Glaube und Hoffnung, werden einmal aufhören. Vor allem sollten die Korinther das in ihrer Mitte beliebte Sprachenreden nicht so hoch ansiedeln, denn hier war die zeitliche Beschränkung noch stärker: Das Sprachenreden würde langsam aufhören.