Die Kolosser hatten das Wort der Wahrheit des Evangeliums gehört und angenommen. Das Evangelium hatte auch Frucht bei ihnen hervorgebracht, d.h. sie hatten begonnen, in ihrem Leben Wesenszüge Christi zu zeigen, die für Gott so wertvoll sind. Das Evangelium war auch „wachsend“, d.h. es nahm einen immer größeren Raum in ihrem Leben ein (Kol 1,6). Das Wort der Wahrheit des Evangeliums ist die volle Offenbarung Gottes in Christus. Darüber hinaus gibt es nichts. Doch genau da lag der Knackpunkt bei den Kolossern. Sie standen in Gefahr, auf Stimmen zu hören, die sie davon überzeugen wollten, dass es noch mehr gebe als sie im Evangelium gehört und geglaubt hatten.

Doch dieses angebliche „Mehr“ bestand ausschließlich aus menschlichen oder gesetzlichen Elementen. Es waren Philosophien, die im Gegensatz zu dem Wort der Wahrheit standen und Überlieferungen die sich gegen das Wort der Wahrheit stellten (Kol 2,8).

Diese weltlichen Elemente ergänzten daher nicht das Evangelium (was auch gar nicht möglich ist), sondern verdrängten es aus den Herzen, und mit dem Evangelium auch die große Person, die der Inhalt dieses Evangeliums ist: Christus.

Paulus beginnt daher seine Belehrungen mit einem gewaltigen Plädoyer für die Herrlichkeit Christi. In den Versen Kolosser 1,13–20 stellt Paulus die Titel und Vorzüge des Herrn Jesus in einer Intensität Fülle vor, wie wir es kaum an anderer Stelle im Wort Gottes finden. Was kann man auch Besseres tun, wenn man den Eindruck hat, dass der Geschmack an der Person unseres Erretters verloren geht, weil die Herzen mit anderen Dingen beschäftigt sind? Was kann man Besseres tun, als die Schönheit und Herrlichkeit Christi „vor Augen zu malen“ (Gal 3,1)?

Doch bevor Paulus damit beginnt, lässt er die Kolosser teilhaben an dem Inhalt seiner Gebete für sie. Die Ausdrucksweise in seinem Gebet zeigt, wo der Apostel den Grund dafür sieht, dass die Kolosser fremde Dinge in ihre Herzen gelassen hatten, die die Person des Herrn Jesus verdrängten: Sie hatten noch nicht die ganze Fülle des Christentums erkannt, und deshalb dachten sie, es würde ihnen noch etwas fehlen. Nur wer noch nicht alles hat, denkt, dass er noch mehr braucht. Sie besaßen in Christus zwar bereits alles, hatten es aber noch nicht in vollem Maß erfasst und in ihrem Leben umgesetzt. Daher war noch Platz für andere Dinge, obwohl die Person Christi und die „Erkenntnis seines Willens“ in der Lage gewesen wären sie zu „erfüllen“. Die Hervorhebungen in dem Zitat des Gebets machen das deutlich:

„Deshalb hören auch wir nicht auf, von dem Tag an, da wir es gehört haben, für euch zu beten und zu bitten, damit ihr erfüllt sein mögt mit der Erkenntnis [o. Vollerkenntnis; griech. epignosis] seines Willens in aller Weisheit und geistlicher Einsicht, um würdig des Herrn zu wandeln zu allem Wohlgefallen, in jedem guten Werk Frucht bringend und wachsend durch die Erkenntnis Gottes, gekräftigt mit aller Kraft nach der Macht seiner Herrlichkeit, zu allem Ausharren und aller Langmut mit Freuden“ (Kol 1,9–11).

Es sind Anliegen, wie wir sie wohl selten für uns selbst oder unsere Geschwister vor den Herrn gebracht haben. Aber heißt das, dass wir es nicht vielmehr nötig hätten? Vielleicht stehen wir nicht in derselben Gefahr wie die Kolosser, unsere Herzen mit Philosophie und Überlieferungen zu füllen. Für uns sind es andere „Elemente der Welt“, die unsere Herzen anziehen. Wir glauben, wir bräuchten mehr als das, was wir in Christus besitzen, um glücklich zu sein. Der Grund dafür kann nur sein, dass wir noch nicht zu der vollen „Erkenntnis des Willens Gottes“ gekommen sind, dass wir noch nicht „zu allem Wohlgefallen“ würdig des Herrn unser Leben führen, dass wir noch nicht „in jedem guten Werk Frucht bringen“ und noch keinen Gebrauch gemacht haben von der Kräftigung „mit aller Kraft nach der Macht seiner Herrlichkeit“. Kurz, dass wir die Fülle, die in Christus und in einem Leben für ihn zu finden ist, noch viel zu wenig ausgeschöpft haben.

Glauben wir wirklich, dass wir am Ende unseres Lebens rückblickend von einem erfüllten Leben sprechen können, wenn wir unsere ganze Zeit und Energie damit verbraucht haben, Romane zu lesen, Musik zu hören, Shoppen zu gehen, den Garten zu bearbeiten, das Auto zu waschen, berufliche Überstunden zu machen, Urlaube zu planen und durchzuführen, Sport zu machen, Essen zu gehen, Computer zu spielen, Nachrichten zu versenden, Filme anzuschauen, Ausflüge zu machen, Fachzeitschriften zu studieren, unser Aussehen zu optimieren, Fußballspiele anzuschauen oder einfach gar nichts zu machen?

Paulus selbst konnte von sich sagen: „Das Leben ist für mich Christus.“ Wegen der Vortrefflichkeit (wörtlich: des Übertreffenden) der Erkenntnis Christi Jesu, seines Herrn, achtete er alles andere für Verlust und Dreck. Ihm konnte man vorstellen, was man wollte, er verglich es mit Christus und lehnte alles ab, was sich mit ihm nicht verbinden ließ. Fehlte ihm irgendetwas, nachdem er „alles eingebüßt“ hatte, lebte er jetzt ein freudloses Leben? Nein, er bezeichnet Menschen wie sich als „Traurige, aber allezeit uns freuend; als Arme, aber viele reich machend; als nichts habend und alles besitzend“ (2. Kor 6,10). Gleichzeitig verbrauchte er Zeit und Energie vollständig im Dienst des Herrn. Er kämpfte den guten Kampf des Glaubens, lief mit Ausharren den Wettlauf, jagte dem Ziel entgegen und bewahrte, verkündigte und verteidigte das ihm anvertraute Glaubensgut.

Merken wir, dass alles in unserem Leben damit steht und fällt, ob und wie unsere Herzen erfüllt sind mit der Person Christi und mit der Erkenntnis seines Willens?