„Es war um die zehnte Stunde“, als Johannes zum ersten Mal dem Sohn Gottes begegnete. Diese genaue Zeitangabe lässt darauf schließen, dass ihm die erste Begegnung sein Leben lang in Erinnerung geblieben ist. Johannes war als Jünger Johannes‘ des Täufers in ständiger Gesellschaft eines Mannes, der nur ein Ziel kannte und dieses mit Treue und Hingabe verfolgte: den nach ihm Kommenden anzukündigen und die Herzen auf sein Kommen vorzubereiten.

Gewaltige Worte hatte Johannes von seinem Meister über diese große Person gehört. „Dieser war es, von dem ich sagte: Der nach mir Kommende hat den Vorrang vor mir, denn er war vor mir“ (Joh 1,15). Vom Rang so hoch über dem Täufer, dass der sich nicht für würdig erachtete, ihm gebückt den Riemen seiner Sandale zu lösen, geschweige denn, ihm die Sandalen zu tragen (Mk 1,7; Mt 3,11). Und in seiner Existenz unendlich – ein ewiges Vorherdasein vor Johannes und mit ihm vor allen Menschen. Ein „Mann“ zwar, und doch gleichzeitig einer, auf den der Geist herabkam und auf ihm blieb, ohne dass vorher ein Erlösungswerk geschehen musste – undenkbar für die Gläubigen des Alten Testaments, unmöglich für die des Neuen (Joh 1,30+32). Der Sohn Gottes, der König Israels, wie Nathanael später bezeugte, auch wenn er es nur im Bedeutungsumfang der alttestamentlichen Schriften verstehen konnte (vgl. Ps 2,6+7).

Und dann kommt der Tag, an dem Johannes der Täufer mit seinen Jüngern in die Nähe dieser großen Person kommt. Schon einmal hatte er Jesus zu sich kommen sehen und gesagt: „Siehe das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt wegnimmt“. Gewaltiges Wort! Jetzt, am nächsten Tag, kommt es wieder zu einer Begegnung. „Und hinblickend auf Jesus, der da wandelte spricht er [Johannes]: Siehe, das Lamm Gottes.“ Welch eine selbstlose Ehrung des Herrn Jesus durch den „Größten unter den von Frauen Geborenen“ (Mt 11,11). Es kommt uns so vor, als habe Johannes diese Worte gar nicht in Richtung seiner Jünger gesprochen. Es ist ein ehrfürchtiger Ausruf als Folge seines „Hinblickens“ auf Jesus. Ein solch treues und ehrerbietiges Zeugnis eines Mannes, der immer nur von sich weg auf Christus hinweist, kann nur das folgende Ergebnis haben: „Und die zwei Jünger [einer davon ist Johannes] hörten ihn reden und folgten Jesus nach“ (Joh 1,37).

Sie folgten Jesus nach, dem von ihnen sehnlich erwarteten Christus, von dem ihr bisheriger Meister, Johannes der Täufer, immer nur mit größter Hochachtung gesprochen hatte. Sie folgten dem seit Jahrhunderten angekündigten König Israels nach. Wie wenig werden sie schon realisiert haben, dass sein Kommen ausgerechnet in ihre Tage fällt. Noch kein Wort ist zwischen ihnen gefallen. Wie sollen sie diese hohe Person auch ansprechen? Dann spricht der Herr Jesus, der alles wusste, und von dem es doch hier heißt, dass er sich umwendet und sie nachfolgen sieht, als hätte er sie gerade erst bemerkt, sie an: „Was sucht ihr?“ Warum fragt er nicht: Wen sucht ihr? Will er ihre Herzen gleich zu Beginn erforschen, ob sie nur „auf Erlösung warteten“ (Lk 2,38), oder ob es ihnen auch um seine Person ging? Ja, was suchten sie eigentlich? Suchten sie ihn?

Er hat sich zu ihnen umgewendet! Er hat sie nicht weggeschickt, sondern sie direkt angesprochen. Die beiden fassen Mut. „Rabbi, wo hältst du dich auf?“ Sie benutzen den höchsten Titel, der damals in Israel für einen Menschen zu vergeben war, verbunden mit einer bescheidenen Frage. Sie fragen nicht: Dürfen wir bei dir bleiben? Vielleicht war ihnen diese Frage zu kühn. Aber der Herr Jesus kennt die Herzen. „Kommt und seht!“ Wie viele haben seitdem dieses einladende „Komm“ gehört, wie viele Mühselige und Beladene (Mt 11,28), wie viele Durstige (Joh 7,37).

Welch eine Ermutigung für die Zwei, nach der Anfangsfrage ist das erste Wort aus seinem Mund: „Kommt“. Gleichzeitig zeigen diese ersten Worte, „Kommt und seht“, aber auch seine Erniedrigung als der heimatlose Fremdling. Er konnte eben keinen konkreten Wohnort angeben, hatte nicht einmal einen Ort, um sein Haupt hinzulegen (Mt 8,20). „Kommt und seht“, war die einzige Ortsangabe, die er machen konnte. Das hielt Johannes und Andreas jedoch nicht ab, zu kommen. Sie waren so angezogen von dem, der sich zu ihnen umgewandt hatte, dass sie kamen und jenen Tag bei ihm blieben. Und das nicht nur wegen des ehrfürchtigen Zeugnisses Johannes‘, sondern um seiner selbst willen (vgl. Joh 4,42). Sie „blieben jenen Tag bei ihm“, dieser Tag umfasste – zumindest was ihre Herzen betraf – ihr ganzes Leben, auch wenn der offizielle Beginn seines Dienstes und damit ihrer Nachfolge als seine Jünger noch bevorstand. „Bei ihm“, könnte es einen besseren Ort geben? Wozu brauchten sie eine genauere Angabe?

Johannes nennt sich in seinem Evangelium durchweg „der Jünger, den Jesus liebte“. Hier haben wir den Punkt, an dem Christus sein Herz gewann – es war um die zehnte Stunde.