Der Jünger, den Jesus liebte

Wer sind wir? Was ist unsere Identität? Der Autor des Johannes-Evangeliums nennt sich ausschließlich „der Jünger, den Jesus liebte“. Es ist erstaunlich, dass er als Person völlig in der Liebe des Herrn Jesus zu ihm selbst aufging. Nichts anderes war ihm wichtig; kein eigener Name, kein Image, keine Erfolge. Wenn wir uns die Begebenheiten anschauen, in denen er so über sich spricht, wird eins deutlich: In solchen Situationen brauchte er wirklich das Bewusstsein der Liebe des Herrn. Und wir ganz genauso.

  • Johannes 13,21–25: „Als Jesus dies gesagt hatte, wurde er im Geist erschüttert und bezeugte und sprach: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Einer von euch wird mich überliefern. Da blickten die Jünger einander an, in Verlegenheit darüber, von wem er rede. Einer aber von seinen Jüngern, den Jesus liebte, lag zu Tisch in dem Schoß Jesu. Diesem nun winkt Simon Petrus, damit er frage, wer es wohl sei, von dem er rede. Jener aber, sich an die Brust Jesu lehnend, spricht zu ihm: Herr, wer ist es?“

Es ist sehr erstaunlich, dass nicht der forsche, mutige Petrus die alle bewegende Frage an den Herrn stellt – sondern der Jünger, der nur 30 cm von seinem Meister entfernt war. Er lebte so tief in dem Bewusstsein der Liebe des Herrn, dass er sich gerne in seiner Nähe aufhielt. Deshalb hatte er in dieser Situation „den kürzesten Draht zum Herrn“ von allen Jüngern – und erhielt auch eine Antwort auf diese Frage, die allen auf der Seele brannte.

Lektion für uns: Um Antworten zu bekommen, müssen wir in der Nähe des Herrn sein. Die Bibel gibt einige Beispiele dafür:

-        „Das Geheimnis des HERRN ist für die, die ihn fürchten.“ (Ps 25,14)

-        „Und der HERR sprach: Sollte ich vor Abraham verbergen, was ich tun will?“ (1. Mo 18,17).

-        „Denn der Herr, HERR, tut nichts, es sei denn, dass er sein Geheimnis seinen Knechten, den Propheten, offenbart habe.“ (Amos 3,7)

Und wie kommen wir mehr in seine Nähe? Indem wir uns bewusst sind, dass der Herr Jesus uns liebhat. Das allein zieht uns zu ihm hin.

  • Johannes 19,25.26: „Bei dem Kreuz Jesu standen aber seine Mutter und die Schwester seiner Mutter, Maria, die Frau des Kleopas, und Maria Magdalene. Als nun Jesus die Mutter sah und den Jünger, den er liebte, dabeistehen...“

Leider liest man sehr schnell über diese Aufzählung hinweg, ohne ihre Brisanz zu verstehen. Ist uns bewusst, dass wir hier Beispiele von unvorstellbarem Mut haben? Johannes, der hier unter dem Kreuz steht, stellt sich damit ganz offen auf die Seite des „Rebells“ (Lk 23,5) und „Übeltäters“ (Joh 18,30), wie die Anklage sagt. Er hat keine Garantie, dass er nicht auch gleich als Mitverschwörer gekreuzigt werden würde. Immerhin hatte der Herr noch kurz vor dem Kreuz Verfolgung angekündigt (Joh 15,20). Dass er sich nun an diesen Ort stellt, ist ein beeindruckendes Statement seines Muts. Was ist sein Geheimnis? Auch hier wieder: Er war sich der Liebe des Herrn bewusst. Übrigens wird auch hier – wie in jeder der fünf Stellen – wieder der Kontrast zu Petrus deutlich: Er hatte den Herrn schon kurz zuvor an dem Kohlenfeuer verleugnet...

Lektion für uns: Es gibt nur eine Sache, die uns motivieren kann, die Ablehnung der Welt um Christi willen zu erdulden – das Bewusstsein, dass wir von ihm geliebt sind. Was sonst gibt uns Kraft, gegen den Strom zu schwimmen?

  • Johannes 20,1–4: „Am ersten Tag der Woche aber kommt Maria Magdalene früh, als es noch dunkel war, zur Gruft und sieht den Stein von der Gruft weggenommen. Sie läuft nun und kommt zu Simon Petrus und zu dem anderen Jünger, den Jesus lieb hatte, und spricht zu ihnen: Sie haben den Herrn aus der Gruft weggenommen, und wir wissen nicht, wo sie ihn hingelegt haben. Da ging Petrus hinaus und der andere Jünger, und sie gingen zu der Gruft. Die beiden aber liefen zusammen, und der andere Jünger lief voraus, schneller als Petrus, und kam als Erster zu der Gruft.

Wir fragen uns: Warum kam Petrus, der sonst immer in der ersten Reihe stand, nur als zweiter am Grab an? Auch wenn das nur eine Mutmaßung ist, könnte es doch sein, dass ihn noch sein schlechtes Gewissen von der Verleugnung vor 3 Tagen plagte. Möglicherweise war er innerlich noch so belastet, dass es seine Beziehung zum Herrn bedrückte. Johannes dagegen war sich der Liebe des Herrn bewusst und hatte deshalb nichts mehr in Ordnung zu bringen.

Lektion für uns: Ohne Selbstgericht ist unsere Beziehung nach oben gestört. 1. Johannes 3,3 sagt: „Jeder, der diese Hoffnung [des Himmels] zu ihm hat, reinigt sich selbst, wie er rein ist.“ Die Intensität der Beziehung zum Herrn – die natürlich aus seiner Liebe gespeist wird – hat einen Einfluss auf unser praktisches Leben. Sie führt uns zum Selbstgericht. So ähnlich drückt es auch 2. Korinther 7,1 aus. Je mehr wir in seiner Liebe leben, desto mehr Gottesfurcht zeigt sich in unserem Leben – und desto mehr Selbstgericht üben wir.

  • Johannes 21,4.6.7: „Als aber schon der frühe Morgen anbrach, stand Jesus am Ufer; doch wussten die Jünger nicht, dass es Jesus war... Er aber sprach zu ihnen: Werft das Netz auf der rechten Seite des Schiffes aus, und ihr werdet finden. Da warfen sie es aus und vermochten es vor der Menge der Fische nicht mehr zu ziehen. Da sagt jener Jünger, den Jesus liebte, zu Petrus: Es ist der Herr.“

Keiner der elf Jünger erkennt den Herrn – doch als er sich dann als der Gebieter offenbart, erkennt wieder Johannes als erster seinen Meister. Dieser Nachfolger muss ein feines Gespür dafür gehabt haben, den Herrn Jesus in den Umständen zu erkennen.

Lektion für uns: Sehr oft steht der Herr Jesus auch am Ufer des Sees in unserem Leben – und wir erkennen ihn nicht. Da geht es uns oft wie dem Knecht Elisas (2. Kön 6,14–17), der nur die widrigen Umstände sah und erst nach einem Gebet bemerkte, dass die Heere Gottes auf seiner Seite waren. Paulus war auf der Anklagebank von allen seinen Brüdern verlassen, und doch spürte er in dieser beklemmenden Situation deutlich die Gegenwart des Herrn Jesus (2. Tim 4,16.17). So ähnlich erging es auch David, der im Tal des Todesschattens sagte: „Du bist bei mir“ (Psalm 23,4). Je tiefer das Bewusstsein der Liebe des Herrn zu uns, desto eher erkennen wir ihn in unseren Lebensumständen. In diesem Wissen zu ruhen, öffnet uns die oft auf die Umstände gerichteten Augen, damit wir ihn erkennen. Dazu müssen wir sicher wissen: „Ich bin geliebt!“

  • Johannes 21,20: „Petrus wandte sich um sieht den Jünger nachfolgen, den Jesus liebte.“

Nachdem der Herr Jesus Petrus auf seine zukünftige Aufgabe und seinen Märtyrertod vorbereitet hatte (V. 15–19), forderte er ihn neu auf, bewusst die Entscheidung zur Nachfolge zu fällen. Petrus wendet sich um stellt fest, dass Johannes das schon tut. Auch hier sehen wir wieder die Ergänzung „den Jesus liebte“. Wieder ein sehr bemerkenswerter Zusammenhang!

Lektion für uns: Nachfolge ist kein Zuckerschlecken. Biblisch basierte Nachfolge ist radikal und hat mit Verzicht und Opferbereitschaft zu tun. Das wird deutlich an den Bedingungen von Nachfolge, die der Herr beispielsweise in Lukas 14,25–33 vorstellt:

-        „Wer nicht Vater, Mutter etc. hasst...“

-        „Wer nicht sein eigenes Leben hasst...“

-        „Wer nicht sein Kreuz aufnimmt...“

-        „Wer nicht allem entsagt...“

„... kann nicht mein Jünger sein“. Ein sehr hoher Maßstab für unser Leben – der nur auf eine Art und Weise erfüllt werden kann: In dem Bewusstsein der Liebe des Herrn Jesus zu uns. Wenn wir diese krasse Form der Nachfolge praktizieren, weil es eben so in Lukas 14 steht, weil große Vorbilder wie der Apostel Paulus es verwirklicht haben, weil es so gepredigt wurde oder gar, weil dieser Artikel es so sagt, werden wir nicht lange durchhalten. Die Kraft zu einem solchen dem Herrn Jesus geweihten Leben bekommen wir nur dadurch, dass wir uns von ihm geliebt wissen. Ohne dieses Bewusstsein ist Nachfolge nur eine gesetzliche Form, die erstens Gott nicht gefällt und zweitens schnell wieder abgebrochen wird. Wir müssen es wirklich tief verinnerlichen: „Der Sohn Gottes liebt mich ganz persönlich! Er hat seine unendlich große Liebe deutlich bewiesen, als er auf diese Erde kam und hier für mich gestorben ist. Weil ich so unendlich geliebt bin, möchte ich in diesem Bewusstsein dem Herrn nachfolgen.“ So ähnlich drückt es Paulus in Galater 2,20 aus: „Nicht mehr lebe ich, sondern Christus lebt in mir; was ich aber jetzt lebe im Fleisch, lebe ich durch Glauben, durch den an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben hat.“

Ein weiteres biblisches Beispiel finden wir in der Braut des Hohelieds, die anfangs nur auf ihre Liebe schaute und im Laufe des Buches nur noch die Liebe des Bräutigams vor sich hat. Sie wächst von „Mein Geliebter ist mein, und ich bin sein“ (2,16) zu „Ich bin meines Geliebten; und mein Geliebter ist mein“ (6,3), bis sie schließlich ankommt bei „Ich bin meines Geliebten, und nach mir ist sein Verlangen“ (7,11). Völliges Aufgehen in der Liebe Christi – das sollte unser Leben bestimmen.

Leben wir bewusst in der Liebe des Herrn Jesus zu uns? Ist das unsere wahre Identität? Für Johannes gab es keinen „Johannes“, sondern nur „den Jünger, den Jesus liebte“.