Was für ein Tag des Widerspruchs war dieser Sabbat (Joh 9,14) gewesen! Auch mit dem Weggang des Herrn aus dem Tempel hörte der Widerspruch von Seiten der Pharisäer nicht auf. Ihm gegenüber scheint es eine Zeit lang keinen Widerstand mehr gegeben zu haben, denn die Frage in Johannes 9,40 kann man wohl kaum als solchen bezeichnen.

Als der Herr und seine Jünger den Tempel verließen, kamen sie an einem Ort vorbei, an dem ein blinder Bettler gewöhnlich seiner Tätigkeit nachging, von den Besuchern des Heiligtums Almosen zu erbitten. Ob er dies bei dieser Gelegenheit tat und damit die Aufmerksamkeit auf sich zog, wissen wir nicht. Der Herr jedoch sah ihn, einen armen, geplagten Mann, blind von Geburt an. Sein Alter bleibt unerwähnt. Wir erfahren jedoch, dass er volljährig war (Joh 9,21), so dass er mehr als zwanzig Jahre seines Lebens in diesem leidvollen Zustand verbracht haben muss, ohne die Aussicht, jemals mit dem Augenlicht gesegnet zu sein (Joh 9,32). Von Geburt an blind, um auf der Erde für immer blind zu sein; was für eine hoffnungslose Zukunft in dieser Welt lag vor ihm!

Doch nun sah der Herr ihn, obwohl er den Herrn nicht sehen konnte. Und die Jünger stellten eine Frage: „Meister [oder besser: Rabbi], wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren wurde?“ (Joh 9,2). Gemeinhin wurde ein solches Leiden auf ein regierungsmäßiges Handeln Gottes zurückgeführt. Ein regierungsmäßiges Handeln konnte es tatsächlich wegen der Vergehen der Eltern geben (2. Mose 34,7); aber die rabbinische Lehre ging noch weiter und behauptete, dass ein Mensch im Mutterleib sündigen könne und stützte sich dabei auf 1. Mose 25,22, wo es heißt, dass sich die beiden Kinder im Mutterleib Rebekkas stießen[1] Aber nicht jedes körperliche Leiden wird als Strafe gesandt, wenn das auch manchmal der Grund dafür sein kann (1. Kor 11,30; Mk 2,5–10). Im Fall von Lazarus (Johannes 11,4), wie auch in diesem Fall, war regierungsmäßiges Handeln nicht die Ursache für die Krankheit bzw. für die Blindheit. Wir brauchen geistliche Unterscheidungskraft in Bezug auf ein solches Handeln unseres Gottes, denn die Menschen neigen zu sehr dazu, wie die Freunde Hiobs, die Hand Gottes auf dem Einzelnen als Zeichen eines göttlichen Regierungshandelns für eine Sünde oder einen bösen Weg zu betrachten.

Der Herr antwortete sofort und vollständig auf die Frage der Jünger: „ Weder dieser hat gesündigt noch seine Eltern, sondern damit die Werke Gottes an ihm offenbart würden“, und fuhr dann fort, den Fall aufzugreifen. „Wir“, sagte Er wohl eher als „ich“, „müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat, solange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann. Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt“ (Joh 9,4–5). Das sagte Er in Erwartung seines Weggangs. Und nun würde Er beweisen, dass Er das Licht der Welt ist, indem Er dem blinden Bettler das Augenlicht schenkt. Er hätte natürlich einfach ein Wort sprechen können, und die bis dahin blinden Augäpfel wären zur Lampe des Leibes des Mannes geworden (Mt 6,22). Aber Er handelte in seiner Weisheit anders, spuckte auf den Boden und machte aus dem Speichel eine Art Brei. Er salbte zuerst die Augen des Mannes und befahl ihm dann, hinzugehen und sich am Teich Siloam zu waschen, „was“, wie der Evangelist hinzufügt, „ übersetzt wird: Gesandt“. Er ging also hin, wusch sich und wurde sehend. Es war der Gehorsam des Glaubens. Er erlaubte dem Herrn, seine Augen mit dem Brei zu salben. Dann ging er, wie befohlen, zum Teich, wusch sich, und wurde sehend.

Es gab keine bekannte Wirkung, die allgemein einem solchen Brei zugeschrieben wurde. Auch konnte ihm in diesem Moment niemand erklären, warum seine Augen gesalbt wurden, nur um den Brei gleich danach wieder abzuwaschen. Der Herr tat, was ihm gefiel, und befahl dem Mann zu tun, was Er anordnete. Dann wurde ihm das Augenlicht geschenkt. Die Vermutungen über die Bedeutung des Vorgangs bei dieser Gelegenheit sind vielfältig. Der Evangelist hat es nicht erklärt, sodass wir darüber nicht dogmatisch urteilen können. Wir geben jedoch hier, zum Nutzen unserer Leser, ein Zitat aus einem anderen Text wieder, der, wenn es eine geistliche Belehrung in dieser Sache gibt, die vernünftigste Erklärung dafür zu sein scheint: „Er formt Brei mit seinem Speichel und der Erde und legt ihn auf die Augen des Blindgeborenen. Sinnbildlich weist es auf das Menschsein Christi in irdischer Erniedrigung und Niedrigkeit hin, das sich den Augen der Menschen offenbart, aber mit göttlicher Lebenskraft in ihm. Haben sie dadurch irgendwie mehr gesehen? Ihre Augen waren noch verschlossener, sofern das überhaupt möglich war. Dennoch war der Gegenstand da; er berührte ihre Augen, und sie konnten ihn nicht sehen. Dann wäscht sich der Blinde in dem Teich, der „Gesandt“ genannt wurde, und er kann klar sehen. Die Kraft des Geistes und des Wortes, die Christus als den vom Vater Gesandten bekannt macht, gibt ihm das Augenlicht. Es ist die Geschichte der göttlichen Belehrung im Herzen des Menschen. Christus, als Mensch, berührt uns. Wir sind völlig blind; wir sehen nichts. Der Geist Gottes wirkt, Christus ist vor unseren Augen da, und wir sehen klar.“[2]

Der Bettler kehrte vom Teich zurück, nachdem er sein Augenlicht erhalten hatte, aber er hatte seinen Wohltäter noch nicht gesehen. Seine Hände hatte er gefühlt, als der Herr ihm den Brei auf die Augen legte. Seine Stimme hatte er gehört. Seinem Befehl hatte er gehorcht. Er wusste, dass der Name seines Wohltäters Jesus war. Er wusste, dass er ein Mensch war, aber wie er aussah, wusste er nicht. Das Augenlicht hatte er tatsächlich bekommen. Was für eine Veränderung für ihn! Er brauchte sich nicht mehr den Weg zu ertasten, er brauchte keine freundliche Hand mehr, die ihm den Weg wies, er konnte auf sich selbst aufpassen. Wie er zum Teich kam, ist nicht überliefert. Wie er wegkam, können wir alle verstehen. Gegenstände, die er vielleicht durch Berührung kannte, konnte er nun sehen. Die Form des Teichs konnte er nachzeichnen. Das Wasser, in dem sich vielleicht der blaue Himmel spiegelte, konnte er nun sehen und bewundern. Es war ein neues Leben für ihn, eine neue Erfahrung, eine neue Art der Existenz. Was für eine Veränderung! Die Schönheit der Tempelgebäude, die so sehr gepriesen wurden und von denen er oft gehört haben mag, muss ihn beeindruckt haben, als er zum ersten Mal in seinem Leben das irdische Heiligtum seines Gottes betrachtete. Doch so groß die Veränderung auch gewesen sein muss, als er zum ersten Mal seine Eltern und seine Nachbarn sah, mit deren Stimmen er seit langem vertraut war, sollte er doch noch weitere Veränderungen kennenlernen. Licht sollte in seine Seele scheinen, und den Verfolgungseifer der Pharisäer sollte er zu spüren bekommen. Im Frieden war er seinem alten Beruf des Bettelns nachgegangen. Das würde natürlich von nun an aufhören; und zunächst sollte er der Feindseligkeit religiöser Lehrer begegnen und ihren Argumenten widerstehen.

Die Nachbarn

Das geschehene Wunder blieb nicht unbemerkt. Seine Nachbarn und früheren Bekannten bemerkten die Veränderung. Er hatte es nicht nötig, wie der Aussätzige das Geschehene zu verbreiten (Markus 1,45). Er wurde auch nicht wie der besessene Gadarener aufgefordert, den Menschen in seinem Haus von seiner wunderbaren Heilung zu erzählen (Markus 5,19). Für einige war es offensichtlich, während andere an der Identität des Mannes zweifelten. „Ist dieser nicht der, der dasaß und bettelte?“, sagten die einen. Andere meinten: „Er ist es.“ Wieder andere sagten: „Er ist ihm ähnlich“; er sagte: „Ich bin es“ (Johannes 9,8–9). Seine Identität stand außer Frage. „Ich bin es“, erklärte er. Damit war alle Unsicherheit beseitigt. Dann folgte eine ganz natürliche Frage: „ Wie sind denn deine Augen aufgetan worden?“ Die Antwort war klar, und kam sofort. Wir zitieren den Text: „Ein Mensch, genannt Jesus, bereitete einen Brei und salbte meine Augen damit und sprach zu mir: Geh hin nach Siloam und wasche dich. Als ich nun hinging und mich wusch, wurde ich sehend“ (Joh 9,11). Auf die weitere Frage: „Wo ist er?“ antwortete er: „Ich weiß es nicht.“ Der Herr, der nie nach Beifall verlangte, hatte den Tempel verlassen und wartete nicht einmal darauf, den Dank des Bettlers bei seiner Rückkehr aus Siloam entgegenzunehmen.

Pharisäer

Jetzt sollten die Pharisäer auf den ehemaligen blinden Bettler besonders aufmerksam werden. Wahrscheinlich waren viele von ihnen oft an ihm vorbeigegangen, ohne auf ihn zu achten. Ein blinder Bettler! Wer von ihnen würde einen Gedanken an ihn verschwenden, dessen Zustand sie als Beweis dafür ansahen, dass er in Sünde geboren war? Aber dieser Bettler, der nicht mehr blind war, das war etwas ganz anderes. Waren sie etwa darauf bedacht, von der Gunst zu erfahren, die ihm zuteil geworden war, um seinen Wohltäter zu ehren oder ihrerseits um Gunst bei ihm zu bitten? Ganz im Gegenteil. Ihre Bemühungen zielten darauf ab, das Wunder eines von Gott Gesandten zu diskreditieren. Der, der kurz zuvor im Tempelvorhof von sich selbst bezeugt hatte, dass er Gott sei, hatte diesem Menschen nun die Augen geöffnet. Erst die Beleidigung der göttlichen Majestät, die die Juden in der Behauptung seiner Gottheit sahen, dann dieses Wunder an dem Bettler im Tempelbezirk. Ihr Ziel war es, den Herrn in Misskredit zu bringen. Er sei ein Sabbatbrecher, erklärten sie, und deshalb musste dieses Wunder als Zeichen der Allmacht und der Wohltätigkeit abgelehnt werden (Joh 9,10).

Erste Untersuchung

Vor die Pharisäer gebracht, deren Widerstand gegen den Herrn und ihr Wunsch, ihn loszuwerden, kein Geheimnis waren, ebenso wenig wie ihre Entschlossenheit, jeden auszuschließen, der bekennen würde, dass Er der Christus war (Joh 9,22) – mit solchen Leuten konfrontiert zu werden, war für den Bettler in der Tat eine Tortur. Auf ihre Fragen antwortete er, indem er kurz die einfache Geschichte seiner Heilung wiederholte. Seine Freunde hatten kein Urteil über ihn gefällt. Einige der Pharisäer jedoch, die gelehrten Männer, die religiöse Klasse, waren bereit, den Fall ohne weiteres zu entscheiden. Es war der Sabbat, an dem die Heilung stattgefunden hatte. Diese Tatsache machten sie sich zunutze. Da er am Sabbat arbeitete, war Jesus, wie sie ihn genannt hätten, nicht von Gott. Er hielt den Sabbat nicht. Man berief sich auf traditionelle, aber unbiblische Lehren, um die Frage zu klären. Damit waren einige von ihnen zufrieden. Andere waren es nicht. Diese konnten die Heilung nicht leugnen und wollten es offenbar auch nicht tun. Auf den Einwand, den einige von ihnen gegen den Herrn erhoben, fragten sie: „Wie kann ein sündiger Mensch solche Zeichen tun? Und es war Zwiespalt unter ihnen“ Die Pharisäer waren in ihrem Urteil gespalten, sie fragten den Mann, was er von ihm halte. Er zögerte nicht und sagte: „Er ist ein Prophet“. Ein Prophet war jemand, der die Gedanken Gottes vertrat – eine unwillkommene Aussage für sie.

Die Eltern

Dieses Wunder war bemerkenswert. Es verwundert nicht, dass einige der Pharisäer sagten: „Wie kann ein sündiger Mensch solche Zeichen tun?“ Einem blind geborenen Menschen das Augenlicht zu schenken, war bis dahin völlig unbekannt. Aber war der Mann wirklich blind geboren worden? Hatte er zu keiner Zeit das Augenlicht genossen? Sie waren der Meinung, dass dies ein wesentlicher Punkt in diesem Fall war, und sie wollten ihn klären. Also wurden die Eltern vorgeladen und befragt. „ Ist dieser euer Sohn, von dem ihr sagt, dass er blind geboren wurde? Wie sieht er denn jetzt?“ (Joh 9,19). Es wurden zwei Fragen gestellt. Mit der ersten bezweifeln sie die Tatsache, dass er blind geboren wurde. „…von dem ihr sagt…“ legt das nahe. Nun zu den Antworten. „Wir wissen, dass dieser unser Sohn ist und dass er blind geboren wurde“. Ihre Antwort bot kein Schlupfloch, um die Tatsache des Wunders zu entkräften. Unglückliche Pharisäer! Die Eltern erkannten ihn als ihren Sohn an. Ebenso bezeugten die Eltern, dass er wirklich blind geboren worden war. Dass er nun sehen konnte, war ebenfalls unbestreitbar. Aber wie es dazu kam, darüber wollten seine Eltern nichts sagen. Die Angst vor dem Ausschluss hielt sie zurück. Außerdem war er ja volljährig, deshalb sollten die Juden ihn fragen. Er konnte selbst antworten. In welcher Knechtschaft wurde das Volk gehalten!

Zweite Untersuchung

Verblüfft von den Antworten der Eltern und da sie sahen, dass das Wunder nicht geleugnet werden konnte, riefen sie erneut den Mann, um ihn noch einmal zu befragen. Nie zuvor war er Gegenstand so hartnäckiger und eifriger Nachforschungen gewesen, denn die Juden wollten alles andere als zugeben, dass der Herr die Heilung bewirkt hatte. „Gib Gott die Ehre“, sagten sie deshalb: „Wir wissen, dass dieser Mensch ein Sünder ist.“ Aber dieser einfache und ungebildete Mann hatte die Macht Christi erfahren, indem dieser ihm das Augenlicht geschenkt hatte. Er konnte und wollte es nicht leugnen. Sie mochten ihm sagen, dass sein Wohltäter ein Sünder war. Auf diese Frage würde er nicht eingehen. Aber sie konnten sein Zeugnis über denjenigen nicht erschüttern, der seine Heilung bewirkt hatte, oder über die Mittel, mit denen sie bewirkt worden war. Er hielt sich an das, was er wusste – eine weise Vorgehensweise – und das sicherlich zum Leidwesen seiner Verhörer. „Ob er ein Sünder ist, weiß ich nicht; eines weiß ich: Dass ich blind war und jetzt sehe“ (Joh 9,25). Er steht nicht allein in der Weltgeschichte. Die Seelen, die durch Christus gesegnet wurden, wissen es. Und alle Argumente der Gelehrten können ihre Überzeugung nicht erschüttern. Der einfachste, der am wenigsten gebildete Mensch weiß, was er empfangen hat, sogar das, was seinen Gegnern selbst noch völlig fremd ist.

In ihrem hartnäckigen Widerstand fragen sie erneut, wie er das Augenlicht erhalten habe. Hatten sie gehofft, dass es irgendeine Abweichung von seiner ersten Aussage geben würde, um einen Vorwand zu haben, sie abzulehnen? Wenn ja, wurden sie erneut enttäuscht. Der Mann blieb bei dem, was er zuerst gesagt hatte. Warum sollten sie ihn also noch einmal fragen? Wollten sie, fragte er (wahrscheinlich mit Ironie), etwa Jünger Christi sein? Was für eine Anmaßung von ihm, so mit Pharisäern zu sprechen! Sie weisen die Unterstellung zurück. „Du bist sein Jünger; wir aber sind Moses' Jünger. Wir wissen, dass Gott zu Mose geredet hat; von diesem aber wissen wir nicht, woher er ist“ (Joh 9,28–29). Den Bettler zu befragen, mag einfach erscheinen; aber ihn zum Schweigen zu bringen, war eine andere Sache. So wurde seine Stimme wieder gehört, als er unverblümt vor ihnen stand. „Hierbei ist es doch erstaunlich, dass ihr nicht wisst, woher er ist, und er hat doch meine Augen aufgetan. Wir wissen, dass Gott Sünder nicht hört, sondern wenn jemand gottesfürchtig ist und seinen Willen tut, den hört er. Von Ewigkeit her ist nicht gehört worden, dass jemand die Augen eines Blindgeborenen aufgetan hat. Wenn dieser nicht von Gott wäre, könnte er nichts tun“ (Joh 9,30–33).

Er argumentierte richtig. Das Wunder zeigte, dass Jesus von Gott war. Das Licht leuchtete auch in die Seele dieses Mannes. Je mehr sie sich ihm widersetzten und den Herrn herabsetzten, desto klarer wurde er. „Ein Prophet“, kein Sünder, sondern „gottesfürchtig“ und nun „von Gott“ – das waren die Stufen seines Zeugnisses. Die Pharisäer hatten anfangs gesagt, der Herr sei nicht von Gott. Das letzte Zeugnis des Mannes war genau das, was sie zu Beginn abgelehnt hatten. Christus war von Gott. Später sagte der Herr: „ Wenn ich nicht die Werke unter ihnen getan hätte, die kein anderer getan hat, so hätten sie keine Sünde“ (15,24). Hier handelte es sich eindeutig um ein solches Wunderwerk. Sie verschlossen ihre Augen vor dem Zeugnis, das es für die Person Christi ablegte. Aber wir sehen, dass bei diesem Mann die rechte Wirkung des Wunders hervorgerufen wurde. Er war sich sicher, dass sein Wohltäter von Gott war.

Hinausgeworfen

Unfähig, den Bettler zum Schweigen zu bringen oder ihm mit Argumenten zu begegnen, nachdem sie ihn zuvor beschimpft hatten, zeigten sie nun ihre Verachtung: „Du bist ganz in Sünden geboren, und du lehrst uns? Und sie warfen ihn hinaus“ (Joh 9,34). Beschimpfungen und Schmähungen waren ihre Waffen: „Du bist ganz in Sünden geboren und du lehrst uns?“ Pharisäer, die von einem blind geborenen Bettler gelehrt werden! Wer von ihnen könnte das ertragen? „Sie warfen ihn hinaus.“ Er wusste, was folgen musste. Das Synedrium würde sich mit der Angelegenheit befassen. In der Zwischenzeit, bevor das Gerichtsurteil erging, war er praktisch ein Ausgeschlossener und damit von den religiösen Privilegien abgeschnitten. Von nun an sollte er, soweit es in ihrer Macht stand, als jemand gekennzeichnet werden, mit dem man nicht verkehren durfte – als moralisch Aussätziger. Was hatte er getan? Was war sein Verbrechen? Er hatte gestanden, dass der Herr „von Gott“ war. In ihn, als einen Gegenstand der göttlichen Macht in Güte, war Licht eingedrungen und er lehnte es nicht ab; Licht, das immer stärker in seiner Seele leuchtete – Licht von Gott, und in seinem Fall völlig unabhängig von menschlicher Belehrung.

Bis zu diesem Punkt hatte er allein gestanden. Keine freundliche Stimme war für ihn zu hören, die versucht hätte, die Strenge der Pharisäer zu mildern. Auch seine Eltern hatten Angst, ihm zur Seite zu stehen. Allein und scheinbar ohne Hilfe musste er sich den Pharisäern stellen, ihnen widerstehen und sie sogar widerlegen. Das alles mag ihm seltsam vorgekommen sein. Seine Schwierigkeiten, und sie waren groß, hatten begonnen, kurz nachdem ihm das Augenlicht geschenkt worden war. Warum befand er sich in einer solchen Situation? Fragen dieser Art konnten in ihm aufkommen. Später jedoch, und zwar sehr bald, würde alles klar sein. Schon jetzt war es ihm erlaubt, für den Herrn Zeugnis abzulegen und nach dem Maß seines Lichts für die Wahrheit einzutreten. Diese Prüfung wurde zugelassen. Der Widerstand war das Mittel, um ihn in seinem Glauben zu bestätigen. Aber war er wirklich allein? Äußerlich war es so. Doch wir können nicht daran zweifeln, dass das Auge des Herrn auf ihn gerichtet war und dass Er ihn die ganze Zeit über aufrechthielt und ihm das gab, was seine Widersacher nicht wirksam widerlegen konnten. Sollte er, der jetzt von den Menschen verstoßen wurde, auch von Christus verstoßen werden?

Er war, soweit wir wissen, der Erste, der um Christi willen verstoßen wurde. Er steht an der Spitze einer Liste, in die sich seit seiner Zeit Apostel, Märtyrer, Bekenner und andere eingereiht haben. Diese Geschichte ist daher für alle, die sich in einer ähnlichen Lage befinden, von großem Interesse. Ausgegrenzt zu werden, als moralisch Aussätziger angesehen zu werden, ist für keinen Christen eine leichte Prüfung. Aber wenn dies um Christi willen, um der Wahrheit willen geschieht, wird der Herr nicht unbeteiligt zusehen, wie man seinen Jünger behandelt. Und mehr noch, Er wird nicht zulassen, dass ein solcher Mensch dadurch zum Verlierer wird. Er kann durch seinen Dienst an der Seele all das wiedergutmachen, was sie durch die Hand des Menschen erlitten hat. Wäre diese Welt alles, dann wäre der Verlust von Freunden, von Gütern, von Ansehen und von Leben schrecklich. Es gibt jedoch ein Gericht, vor dem so manches menschliche Urteil ganz sicher öffentlich revidiert werden wird. Bis dahin haben die Seinen das Vorrecht, die Zustimmung ihres Herrn zu kennen. Und sie werden nicht enttäuscht werden.

Gefunden

Von den Pharisäern verstoßen, wurde er von Christus gefunden (Joh 9,35). War das eine zufällige Begegnung? Das kann man wohl kaum annehmen. Jesus „fand ihn“, lesen wir. Der Mann wusste nicht, wo der Herr war. Der Herr wusste, wo der Mann war. Er würde ihm nun weiter dienen. Wer kann die Gnade dieser Tatsache übersehen? Gerade in dem Augenblick, als das Mitgefühl am nötigsten war, betrat der Herr erneut die Szene. Die Augen des Mannes, die vor kurzem geöffnet worden waren, um die natürlichen Gegenstände um ihn herum zu sehen, würde der Herr nun noch mehr erleuchten, was die Person seines Erlösers betraf. „Glaubst du an den Sohn Gottes?“[3] war die Frage, die ihm gestellt wurde. „Und wer ist es, Herr, damit ich an ihn glaube?“, war die unmittelbare Antwort des Mannes. „Du hast ihn ja gesehen, und der mit dir redet, der ist es.“ Die Antwort des Herrn auf die forschende Frage des Mannes muss dem Bettler sicher zu Herzen gegangen sein. Ihn gesehen! Niemals zuvor hätte man das sagen können. Oft muss er gehört haben, wie die Menschen um ihn herum davon sprachen, Personen oder Gegenstände zu sehen. Das war eine Freude, die er bis zu diesem Tag nie gekannt hatte; denn bis er sich im Wasser von Siloam gewaschen hatte, konnte er nicht sehen. Nie zuvor hatte er also seinen Wohltäter erblicken können. Jetzt sah er ihn, als er ihm gegenüberstand, und erfuhr auch, was er nie vermutet hatte, dass derjenige, der ihm die Augen geöffnet hatte, der Sohn Gottes war.

Er hatte ihn für einen Menschen gehalten. Er hatte ihn als Menschen gegen die Anfeindungen der Pharisäer verteidigt. Jetzt erfuhr er, dass Er eine göttliche Person war – der Sohn Gottes. Es war nur natürlich, dass er sich als Anbeter zu seinen Füßen niederwarf.[4].

Und das tat er dann auch sofort. Die Pharisäer sahen in ihm einen Sünder, einen Sabbatbrecher. Der Mann, der einst blind war, lernte nun, dass Er der Sohn Gottes war. Er hatte mehr Verständnis als die anerkannten Lehrer in Israel, denn der Herr teilte ihm die Wahrheit über seine Person mit. Er hatte gesehen, er hatte gehört und er befand sich in der Gesellschaft des Sohnes Gottes.

Was kümmerte es diesen Mann, aus der Gemeinschaft der Menschen ausgestoßen zu werden, wenn er in der Gegenwart und zu den Füßen des Sohnes Gottes sein konnte! Mehr, viel, viel mehr, als er durch den Ausschluss verlieren konnte, hatte er durch die gnädige Offenbarung des Herrn an ihn gewonnen. Die Pharisäer mochten ihn für untauglich erklären, in ihrer Gesellschaft zu sein. Nun aber fand er sich zu Füßen des Sohnes Gottes wieder, und der wies ihn nicht ab.

Eine Zeit lang allein gelassen, war seine Überzeugung über den Herrn gestärkt worden. Niemals wird er später bedauert haben, dass er gezwungen war, allein zu stehen. Und obwohl sein Verständnis über den Herrn während dieser Zeit weit hinter der Wahrheit seiner Person zurückblieb, musste er sich für nichts schämen, was er gegenüber den Pharisäern vorgebracht hatte. Und als er dann Mitleid brauchte, fand er weit mehr als das. Der Herr, der ihm erschien, belehrte ihn über die Vortrefflichkeit seines Wohltäters und darüber, wer Er wirklich war: Der Sohn Gottes schämte sich nicht des Bettlers. Er hielt den Mann nicht für ungeeignet, in seiner Gesellschaft zu sein. Spricht das alles nicht auch heute noch? Wenn jemand um der Wahrheit willen verstoßen wird, kann er sicher damit rechnen, dass Christus sich für ihn interessieren und ihm dienen wird.

Keine weitere Äußerung hören wir von dem Bettler. Sein Herz muss voll gewesen sein – wahrscheinlich zu voll, um zu sprechen. Aber der Herr sprach. Der Mann konnte es hören. Die Umstehenden konnten es hören. Auch die Pharisäer hörten es. „Denn ich bin zum Gericht in diese Welt gekommen, damit die, die nicht sehen, sehen, und die, die sehen, blind werden“ (Joh 9,39). Der Bettler war ein Beispiel für die erste dieser beiden Klassen. Die ungläubigen Pharisäer gehörten eindeutig zur zweiten. Als der Herr von den Pharisäern direkt zur Anwendung seiner Worte herausgefordert wurde und sie fragten: „Sind wir denn auch blind?“, erhielten sie eine sehr deutliche Antwort: „Wenn ihr blind wäret, so hättet ihr keine Sünde; nun aber da ihr sagt: Wir sehen, bleibt eure Sünde“ (Joh 9,40–41).

Christus, das Licht der Welt, war das Thema der Kapitel 8 und 9. Im ersten Kapitel haben wir die Wirkung des Lichts auf das Gewissen durch das Wort Christi gesehen, aber das Licht ohne die Kenntnis der Gnade (Joh 8,1–11). Dann haben wir das Licht gesehen, das in der Finsternis leuchtet, und die Finsternis hat es nicht erkannt (Joh 8,12–59). Die Aussage des Evangelisten in Johannes 1,5 erhielt eine volle und traurige Bestätigung. Dann, in Kapitel 9, schenkt der Herr als das Licht der Welt einem blind geborenen Bettler das Augenlicht und man sieht, wie das Licht der Wahrheit über seine Person immer heller in die Seele dieses Mannes leuchtet, bis ihm, der von den Menschen verstoßen worden war, von seinem Wohltäter offenbart wird, dass Er der Sohn Gottes ist. Andererseits wollten die Pharisäer das Wunder in Misskredit bringen und sich der Schlussfolgerung widersetzen, zu der es sie führen würde. Das Wort Christi wird in Kapitel 8 abgelehnt, sein Werk wird in Kapitel 9 diskreditiert. Wegen dieser beiden Zeugen für ihn, die von den Juden abgelehnt wurden, waren sie ohne Entschuldigung (Joh 15,22.24).


Fußnoten:

  1. Siehe Lightfoot's Horae Hebraicae et Talmudicae zu dieser Stelle. Diese Lehre der Rabbiner, dass ein Mensch im Mutterleib sündigen kann, ist die einzige Erklärung für die Frage der Jünger nach den Vorfahren des Mannes, die seine Blindheit von Geburt an einschloss, wie sie annahmen.
  2. Synopsis of the Books of the Bible, Band III, von J. N. Darby, neue Ausgabe, revidiert, S. 443.
  3. Eine andere Lesart ist hier „Sohn des Menschen“, wie von Griesbach bemerkt, von Tischendorf in seiner achten Ausgabe und von Westcott und Hort übernommen und von Alford als alternative Lesart eingestuft. Die Handschriften B, D und der Codex Sinaiticus geben sie wieder.
  4. „Er betete Ihn an.“ Johannes, schreibt Meyer zu dieser Stelle, verwendet „proskunein, wie hier, ausschließlich für die göttliche Anbetung“. Das mag uns helfen zu entscheiden, ob es in Vers 35 „Sohn Gottes“ oder „ Sohn des Menschen“ heißen muss