Die moralische Wirkung der Mission Christi wird in Johannes 9,39 in diesem höchst interessanten Kapitel eindrucksvoll dargestellt. „Und Jesus sprach: Zum Gericht bin ich in diese Welt gekommen, damit die Nichtsehenden sehen und die Sehenden blind werden.“ Das Werk, das er gerade an dem Blinden vollbracht hatte, kann als eine sehr schöne Veranschaulichung dieser Aussage angesehen werden, da es eine Veranschaulichung des Werkes des Kreuzes war. Das Mittel, das dem Blinden verabreicht wurde, war eines, das nach menschlichem Ermessen am ehesten geeignet war, einem Menschen das Augenlicht zu nehmen. „Er spie auf die Erde und bereitete aus dem Speichel einen Brei und strich ihm den Brei auf die Augen“. Diese Handlungsweise war geeignet, die menschliche Weisheit zunichte zu machen, und führt uns daher wie selbstverständlich dazu, das große Werk des Kreuzes zu betrachten, worin wir den vollständigen Umsturz aller menschlichen Weisheit und die vollständige Errichtung der Weisheit Gottes auf ihren Trümmern sehen können. Dass ein in Schwachheit gekreuzigter Mensch Gottes großes Heilmittel für die gläubige Seele sein sollte – dass dieser Mensch durch den Tod den vernichten sollte, der die Macht des Todes hatte – dass er, indem er an ein Fluchholz genagelt wurde, zur Grundlage des ewigen Lebens für seine Versammlung werden sollte – all das beinhaltet eine Darstellung von Weisheit, die, während sie armen, blinden Sündern die Augen öffnet und das Licht der himmlischen Weisheit in den dunklen Verstand fallen lässt, die Gelehrten und Weisen dieser Welt nur blendet und verwirrt. „Das Törichte Gottes ist weiser als die Menschen.“

Wo aber sollen wir diese „Torheit“ finden, die die Weisheit der Menschen übertrifft und zugleich zunichte macht? Ganz gewiss am Kreuz. Die Predigt vom Kreuz ist für die Griechen eine Torheit. Die stolzen Weisen Griechenlands, die in ihre philosophischen Pläne verstrickt waren, waren kaum bereit, die Predigt vom Kreuz zu verstehen oder zu würdigen, die sie aufforderte, von ihren Höhen der eingebildeten Weisheit herabzusteigen – ihre Philosophie als eitle und schwerfällige Ansammlung von Torheiten abzulegen und sich als „arme und elende und blinde und bloße“ Sünder dem anzuvertrauen, der zwischen zwei Übeltätern an das Holz genagelt worden war.

Außerdem ist die Predigt vom Kreuz für den Juden ein Anstoß. Der Jude würde das Kreuz genauso verachten oder darüber stolpern wie der Grieche, obwohl er es von einem völlig anderen Standpunkt aus betrachtet. Der Grieche betrachtete die Lehre vom Kreuz von der eingebildeten Höhe der „fälschlich so genannten Kenntnis“ aus. Der Jude betrachtete sie aus den dunklen und trüben Nebeln einer traditionellen Religion. In beiden sehen wir die verblendende Macht des Gottes dieser Welt. Beide bewegten sich in einer Sphäre, die nicht „Christus als gekreuzigt“ zum Mittelpunkt hatte.

Nun sagt der Herr Jesus den Pharisäern in diesem Kapitel ausdrücklich, dass ihre Sünde nicht in ihrer eigentlichen Blindheit lag, sondern in ihrer eingebildeten Sehkraft. „Wenn ihr blind wäret, so hättet ihr keine Sünde; nun aber, da ihr sagt: Wir sehen, bleibt eure Sünde.“ Einem Blinden könnten die Augen geöffnet werden; aber für einen, der zu sehen vorgab, war kein Heilmittel nötig. Ein kranker Mensch kann gesund gemacht werden, aber jemand, der bekennt, gesund zu sein, braucht weder Salbe noch Arzt. Das Hoffnungsloseste am Zustand der Juden war, dass sie sich einbildeten, alles sei in Ordnung. Sie waren in ihrer eingebildeten Gesundheit und Rechtschaffenheit so weit gegangen, dass sie „schon übereingekommen waren, dass, wenn jemand ihn als Christus bekennen würde, er aus der Synagoge ausgeschlossen werden sollte.“ Das ging sehr weit. Sie hatten sich nicht die Mühe gemacht, die Behauptungen dieses Herrlichen, der in ihrer Mitte stand, zu untersuchen. Nein, sie hatten ohne Wenn und Aber beschlossen, dass keiner, der sich zu Christus bekannte, in den Reihen ihrer Kirche bleiben sollte. Wie sollten sie etwas lernen? Welche Hoffnung gab es noch für Menschen, die, wenn man sie aufforderte, einen Gegenstand zu betrachten und seine Vorzüge anzuerkennen, aufstanden und in blindem Eigensinn die Fensterläden schlossen oder einen Verband über ihre Augen legten? Absolut keine. „Nun aber, da ihr sagt: Wir sehen, bleibt eure Sünde.“ Das ist wirklich sehr ernst. Die Sünde bleibt bestehen, solange man behauptet, zu sehen. Was für ein Prinzip für ein Zeitalter, das sich religiöser Erkenntnis rühmt!

Verfolgen wir aber in der Person des Blinden den Weg einer ehrlichen Seele, der das Licht des Himmels aufgegangen war.

Von dem Augenblick an, als dieser Mann Gegenstand des Werkes Christi wurde, war er ein besonderer Mensch. „Die Nachbarn nun und die, die ihn früher gesehen hatten, dass er ein Bettler war, sprachen: Ist dieser nicht der, der dasaß und bettelte?“ Die deutliche Veränderung, die stattgefunden hatte, war für alle offensichtlich, die seinen früheren Zustand gekannt hatten. Es war ein wichtiger Fall, der dem Urteil der Kirche unterworfen werden musste. „Sie führen ihn, den einst Blinden, zu den Pharisäern“. Es konnte nichts anerkannt werden, was nicht den Stempel der Kirche trug. Es war vergeblich, dass einem Blinden die Augen geöffnet worden waren, damit er das Licht des Himmels sehen konnte. Wenn die Angelegenheit nicht die Zustimmung der Pharisäer fand, war sie umsonst. Nun wollen wir sehen, wie die Pharisäer mit dem Fall umgehen. Wir können sicher sein, dass sie bereit waren, alles zu dulden, was nicht ein klares, einfaches, nachdrückliches Zeugnis für das Werk Christi war; aber genau das war es, was der Mann ihnen vorlegen wollte. „Wie sind denn deine Augen aufgetan worden?“ Beachte die Antwort: „Er legte mir Brei auf die Augen“. Wie wenig die Pharisäer davon wussten oder sich dafür interessierten! Zweifellos betrachteten sie die Angelegenheit als eine Beleidigung der öffentlichen Meinung. In gewisser Weise war es für sie „ein Stein des Anstoßes“.

Aber wen meinte der Mann mit „Er“? Wer war „Er“? Das war der Punkt. Der arme Mann wusste es selbst nicht, obwohl er auf dem besten Weg war, es zu erfahren. Er kannte das Werk, aber nicht die Person Christi. Doch wie sehr zeichnete er sich dadurch aus, dass er zur Erkenntnis des Werkes Christi geführt wurde, ja, dass er selbst Gegenstand des Werkes war; denn das ist der wahre Weg, auf dem man zur Erkenntnis desselben gelangt. Intellektuelle Genauigkeit in Bezug auf den Erlösungsplan ist nur eine arme, kalte, einflusslose Sache, wenn sie nicht von der persönlichen Erfahrung seiner Wirksamkeit begleitet wird. Wir werden sicherlich niemals in der Lage sein, die Logik derer zu durchkreuzen, die nur für die Verteidigung eines Religionssystems, losgelöst von oder sogar im Gegensatz zu Christus, eintreten. Wir müssen an unserer eigenen Person, unserem Charakter, unseren Wegen die praktischen Ergebnisse des Werkes Christi zeigen können, sonst wird all unsere Exaktheit wenig wert sein. „Er legte mir Brei auf die Augen, und ich wusch mich, und ich sehe.“ Hier wurde eine lebendige Tatsache vorgestellt, die schwerer auf dem Gewissen eines Pharisäers lasten sollte, als alle Argumente, die man hätte anführen können. Wer könnte dem widersprechen? Die Menschen mochten argumentieren, wie sie wollten; sie mochten sogar davon reden, Gott die Ehre zu geben; aber dieser Mann konnte an seiner eigenen Person beweisen, dass das Werk Christi für ihn das getan hatte, was das jüdische System mit seinem Priestertum und seinen Riten niemals tun konnte. Das genügte ihm, und es hätte auch jedem genügt, der nicht durch die Macht des Systems verblendet war.

Aber beachte, wie das Herz dieses armen Mannes bei dem Werk Jesu verweilt. Niemals lässt er sich davon abbringen, um den rätselhaften Argumenten der Pharisäer zu folgen. Auf all ihr Fragen und Argumentieren antwortet er: „Er legte mir Brei auf die Augen, und ich wusch mich, und ich sehe.“  Dies war sein fester Grund, von dem ihn keine Logik abbringen konnte. Er hielt sich an die einfache Tatsache des Werkes Christi und diskutierte nicht darüber, das war seine Sicherheit. Hätte er darüber diskutiert, hätten sie ihn in die Enge getrieben, denn sie waren schlaue Leute; aber sie konnten gegen sein einfaches Zeugnis über die Tatsache, was Christus für ihn getan hatte, nichts ausrichten. „Eins weiß ich, dass ich blind war und jetzt sehe.“ Der Zusammenhang zwischen den beiden Aussagen ist sehr deutlich. „Er legte mir Brei auf die Augen“ und „ich sehe“. Wenn wir das Werk Christi mit positiven Ergebnissen in unserem eigenen Fall in Verbindung bringen können, ist das Zeugnis unwiderstehlich; aber das Zeugnis derer, die die Theorie des Evangeliums nur intellektuell erfassen, ist kraftlos und oberflächlich und wird, weil es nicht mit einem positiven Ergebnis im Charakter und im Verhalten verbunden ist, bald von den Feinden der Wahrheit niedergeschlagen. Das ist im Fall der Eltern des Mannes sehr deutlich zu sehen. Als sie befragt wurden, konnten sie in dieser Angelegenheit nur ein dürftiges, kaltes Zeugnis ablegen. Wenn es um ihren Sohn und sein Elend ging, konnten sie durchaus deutlich reden, „wie er aber jetzt sieht, wissen wir nicht, oder wer seine Augen aufgetan hat, wissen wir nicht.“ Mit anderen Worten: Sie kannten Christus und sein Werk nicht und wollten es auch nicht kennen. Sie schätzten ihre Position in Verbindung mit der damals anerkannten Religion und waren nicht bereit, die Schmach auf sich zu nehmen, das Los Christi und seiner Jünger zu teilen. Das ist leider nur zu häufig der Fall. Es bedarf einer gewissen Tiefe der Wahrheit in der Seele, um einen Menschen zu befähigen, „außerhalb des Lagers“ zu Jesus zu gehen. Es muss eine persönliche Frage sein. Die Gnade Gottes, wie sie sich im Kreuz offenbart hat, muss erfahrungsmäßig gekannt sein, sonst werden wir nie ein gutes Bekenntnis bezeugen können. Der Name Jesus war nie populär in der Welt und ist es auch heute nicht. Religiosität kann populär sein und wird es zweifellos auch. Aber Religiosität ist eine Sache und das treue Bekenntnis zu Christus ist eine ganz andere. Die Pharisäer und Hohenpriester hatten Religion im Überfluss; ja, sie waren ihre Hüter. Sie konnten sagen: „Dieser Mensch ist nicht von Gott, denn er hält den Sabbat nicht“, und weiter: „Gib Gott die Ehre! Wir wissen, dass dieser Mensch ein Sünder ist.“ All das klang sehr religiös; aber, mein Leser, wir müssen uns immer vor Augen halten, dass es die größte Täuschung ist, davon zu sprechen, Gott die Ehre zu geben oder seine Anordnungen zu ehren, während Jesus verworfen wird. Jesus ist die große Anordnung Gottes und das Kreuz Jesu ist das, was seine Person und sein Werk dem Sünder zugänglich macht; wenn er also abgelehnt wird, fehlt uns die einzig wahre und göttlich anerkannte Grundlage von Religion. Ein einziger göttlicher Gedanke an Gottes gesalbten Erretter ist weit besser als alle frommen Äußerungen eines fleischlichen Pietismus. Wo Jesus bekannt ist, da ist die Bereitschaft des Herzens, für seinen Namen zu leiden, und auch der wahre Wunsch, mit ihm einsgemacht und ihm gleichgestaltet zu werden. Aber die Eltern des Mannes hatten diese Bereitschaft des Herzens nicht und daher war ihr Zeugnis von all jener so genannten klugen Vorsicht geprägt, die man immer bei rein weltlichen Religiösen beobachten kann. „Diese Worte sprachen seine Eltern, weil sie sich vor den Juden fürchteten; denn die Juden hatten schon beschlossen, dass, wenn jemand bekennt, dass er Christus ist, er aus der Synagoge ausgestoßen werden soll.“ Dies war eine ernste Angelegenheit. Das jüdische System hatte natürlich einen großen Platz in der Zuneigung eines jeden frommen Juden und niemand würde leichtfertig seine Stellung als Mitglied dieses Systems aufgeben; und erst recht würde er nicht auf die Idee kommen, sich mit einer Person zu verbinden, die offenkundig außerhalb all dessen stand, was die Welt für anständig oder wünschenswert hielt.

Der Mann, dem die Augen geöffnet worden waren, konnte nicht anders, als das zu sagen, was er gesehen und gehört hatte, und das hatte zur Folge, dass die religiösen Führer des Volkes die Schärfe seines einfachen Zeugnisses nicht ertragen konnten – eines Zeugnisses, das durchweg auf dem Werk Christi beruhte. Er hatte Licht empfangen, und dieses Licht war mit der Finsternis kollidiert. Es konnte keine Harmonie geben – keine Gemeinschaft – keine Ruhe. Das Licht musste ausgelöscht werden. Solange er ein blindes Mitglied ihres Systems war, war es in Ordnung. Aber da er das Licht empfangen hatte und nicht bereit war, es unter den Scheffel zu stellen, noch sein Gewissen in ihre Obhut zu geben, mussten sie nun versuchen, ihn so gut wie möglich loszuwerden. „Du bist ganz in Sünden geboren, und du lehrst uns? Und sie stießen ihn hinaus.“ Sie waren die großen Bewahrer der Kenntnis, und er war nur ein armer, unwissender Mann, der sich nicht anmaßen sollte, für sich selbst zu denken oder sein Urteil gegen sie aufzustellen. Zweifellos hielten sie ihn für einen hartnäckigen Ketzer, für den nichts anderes vorgesehen war als der Fluch der Kirche. „Sie stießen ihn hinaus.“ Und warum? Einfach, weil ihm die Augen geöffnet worden waren. Wie seltsam! Und doch, wie ähnlich ist das, was wir um uns herum sehen! Wie oft sehen wir heute Fälle wie diesen! Die Menschen leben weiter in Laster und Unwissenheit und werden doch von der menschlichen Religion geduldet; aber sobald das heilige Licht der Schrift über sie hereinbricht, werden sie nur noch als geeignet für die Folterbank und den Scheiterhaufen angesehen. Die abscheulichsten Verbrechen sind nach dem Urteil eines verdorbenen religiösen Systems harmlos, wenn man sie mit dem ehrlichen Bekenntnis des Namens Christi vergleicht.

Wir haben bereits bemerkt, wie weit die Erkenntnis dieses ehrlichen Mannes ging. Sie erstreckte sich nur auf das Werk Christi. Von seiner Person verstand er noch nichts. Diese Erkenntnis war ihm für den Zeitpunkt aufbewahrt, als er aus der Synagoge verstoßen wurde. „Jesus hörte, dass sie ihn hinausgeworfen hatten; und als er ihn fand, sprach er zu ihm: Glaubst du an den Sohn Gottes? Er antwortete und sprach: Und wer ist es, Herr, damit ich an ihn glaube?“ Dieser Fortschritt in der Erkenntnis hat etwas sehr Lehrreiches an sich. Er war durch seine Treue in eine Position des ausdrücklichen Mitgefühls bei dem Sohn Gottes gebracht worden.

Der gute Hirte hatte in zärtlicher Barmherzigkeit die Herde besucht und rief nun dieses sein Schaf beim Namen, um es an einen weiten und reichen Ort zu führen, wo es die Glückseligkeit der Gemeinschaft mit der „einen Herde“ kosten konnte, die für immer in die Hand des Vaters gelegt werden sollte. „Wer ist es?“ Die kostbare Frage eines ehrlichen Herzens! Eine Frage, die in der Tat schnell beantwortet wurde. „Du hast Ihn ja gesehen, und der mit dir redet, der ist es. Er aber sprach: Ich glaube, Herr; und er warf sich vor ihm nieder.“ Hier können wir also diese hoch bevorrechtigte Seele verlassen – bevorrechtigt, obwohl sie von allem, was unter den Menschen hoch angesehen war, ausgestoßen wurde. Es war für ihn wahres Glück, sich außerhalb eines Systems zu befinden, das bald zerfallen würde, und seinen Platz als Anbeter zu den Füßen des Sohnes Gottes zu wissen. Er war außerhalb des Lagers zu Jesus gegangen und trug seine Schmach, und nun sieht man ihn, wie er das Opfer des Lobes darbringt, das ist die Frucht seiner Lippen.

Mein Leser, mögen wir die praktische Anwendung von all dem auf uns selbst erkennen und beweisen!