Die arme Witwe ist gerade auf dem Weg zur Beerdigung ihres einzigen Sohnes. Ihr Herz blutet, die Augen tränen. Plötzlich kommt jemand zu ihr. Seine Augen zeigen denselben Schmerz. Für den Mann fühlt es sich so an, als wäre sein eigener Sohn gestorben. Der Schmerz der Frau ist sein Schmerz. Auch sein Herz blutet. Und deshalb kann er die Frau trösten ...

So stelle ich mir die Begebenheit aus Lukas 7,12–16 vor, als der Herr Jesus der Witwe von Nain begegnet. Diese Stelle ist eine der sieben in den Evangelien, wo uns herzergreifend berichtet wird, dass unser Herr „innerlich bewegt“ war. Er hatte tiefes Mitleid – und nun kommt es: Wir werden oft dazu aufgefordert, ebenfalls das Gefühl des Mitleids zu empfinden und dementsprechend zu handeln.

Anschauungsunterricht

Wie in jedem Bereich des Lebens lernt man am besten durch ein Vorbild. Der Schlüssel liegt wieder in 2. Kor 3,18, wo wir lesen, dass wir dadurch in das Bild des Herrn Jesus verwandelt werden, dass wir uns ihn anschauen. Und dann gilt Johannes 13,15: „Denn ich habe euch ein Beispiel gegeben, damit, wie ich euch getan habe, auch ihr tut.“

Der Herr hatte tiefes Mitgefühl, wenn er im Vorbild des barmherzigen Samariters jemand in Schmerzen sah (Lk 10,33), wenn er am Grab eines Freundes stand (Joh 11,33–35), wenn er an Ungläubige ohne Gott dachte (Mt 9,36). Sein Mitleid war beteiligt, obwohl er wusste, dass er die Not gleich lindern würde. Es war ihm wortwörtlich ein Herzensanliegen, mitzufühlen.

Und jetzt du und ich!

Allein die schiere Menge an Aufforderungen zu Mitleid sollte uns zu denken geben, wie wichtig dieses Thema Gott ist:

• „Weint mit den Weinenden“ (Röm 12,15) – als ob der Grund des Weinens einen selbst betrifft.
• „Gedenkt der Gefangenen, als Mitgefangene (Heb 13,3) – als ob man selbst mit im Gefängnis säße.
• „Einer trage des anderen Lasten“ (Gal 6,2) – als ob die Last einem selbst auferlegt wird.
• „An den Bedürfnissen der Heiligen nehmt teil“ (Röm 12,13) – als ob die Bedürfnisse meine eigenen wären.
• ... und viele weitere – vielleicht führst du die Liste fort?

Erzwungene Liebe, erzwungenes Mitleid?

Das Schwierige bei Gefühlen ist, dass sie oft einer emotionalen Lage entspringen. Deshalb stellt sich hier – ähnlich wie bei Liebe – auch die Frage: „Aber kann ich denn Mitleid erzwingen? Was ist, wenn ich es gar nicht empfinde?“

Hier helfen wieder die drei griechischen Worte für „Liebe“: Die Welt denkt nur an „Eros“ (körperliche Liebe), wir meistens an „Phileo“ (emotionale Liebe) – Gott jedoch fast immer an „Agape“. Also die Liebe, die nicht anders kann, als zu lieben, und die dazu auch keinerlei Anlass benötigt. Unser Mitleid (ähnlich wie unsere „Agape“-Liebe zueinander, s. Joh 13,35) sollte nicht nur dann aktiv sein, wenn uns das Leid des anderen wirklich innerlich angeht und berührt. Nein, wenn mein Bruder/meine Schwester leidet, dann sollte ich mitleiden, ob ich das Problem nun nachempfinden kann oder nicht. Mitleid ist also einerseits eine Sache des Herzens, andererseits aber auch eine klare Willensentscheidung: „Ich möchte den Schmerz der anderen zu meinem eigenen machen!“ Darin wären wir Christus ähnlich.

Übrigens: Der Herr Jesus kennt das Gefühl, wenn niemand mit einem mitfühlt: „Der Hohn hat mein Herz gebrochen; und ich habe auf Mitleid gewartet, und da war keins“ (Ps 69,21). Der Mitleidige bekommt kein Mitleid. Vielleicht wartet gerade jetzt auch jemand darauf, dass du mit ihm/ihr in irgendeiner bestimmten Notlage mitfühlst – und mit aufrichtigem Trost vorbeikommst?

„Der Herr ist voll innigen Mitgefühls.“ (Jak 5,11) -> „Seid aber zueinander gütig, mitleidig, einander vergebend.“ (Eph 4,32)

(aus der Zeitschrift Folge mir nach)