Was für ein gewaltiger Grundsatz tut sich hier für die Heiligen auf! „Seid nun Nachahmer Gottes, als geliebte Kinder“ (Eph 5,1). Welche Begrenzungen kann es geben, wenn wir ermahnt werden, Gott selbst nachzuahmen! Es ist auch keineswegs, wie beim Gesetz, eine Forderung an den Menschen, der als Geschöpf in eigener Verantwortung vor Gott steht. Gott hat sich in Gnade offenbart; dennoch ist er niemand anderes als Gott; und wenn er uns seine eigene Natur mitgeteilt hat, kann es keinen geringeren, niedrigeren Maßstab geben. Er würde sich selbst und die Gnade, die Er uns (und zwar nirgendwo deutlicher als im ersten Teil des Briefes) gezeigt hat, entehren. Es wäre auch der schmerzlichste Verlust für seine geliebten Kinder, die Er in dieser Welt voll Sünde und Leid erziehen und segnen will. Er tut es, indem Er die widrigsten Umstände zu einer Gelegenheit macht, uns zu lehren, wer Er selbst ist. Er will uns die Tiefen seiner Gnade öffnen und uns mit dem Bewusstsein dieser Tiefen erfüllen, um unsere Herzen zu formen und unsere Wege so zu gestalten, dass wir uns selbst vergessen und über unsere eigenen Gewohnheiten und die der Menschen allgemein hinaus in der Wahrheit Christi leben.

Weder das Gesetz noch die Verheißung haben jemals ein solches Feld eröffnet. Die Aufforderung, Gott so nachzuahmen, setzt die vollkommene Gnade voraus, in der wir stehen; anders wäre sie in der Tat nicht umsetzbar. Zweifellos ist es höchst demütigend, darüber nachzudenken, wie wenig wir seiner Aufforderung nachgekommen sind; aber selbst das Bewusstsein unserer bisherigen Unzulänglichkeiten, wird, sofern es tief ist und wir seine Gnade nicht aus den Augen verlieren, zu einer wertvollen Sache, und wir wachsen und machen Fortschritte mit ihm, auch wenn wir es kaum denken. Das Gesetz sagte, was der Mensch Gott zu leisten hatte. Ihn und den Nächsten zu lieben, ist unsere schlichte und unbedingte Pflicht. Die Verheißung enthielt die Hoffnung auf einen Nachkommen, der Segen bringen würde, nicht nur für Israel, sondern für alle Familien der Erde. Aber nun, nachdem die Verheißung verschmäht und das Gesetz gebrochen wurde, hat Gott sich in Christus offenbart. Und während Er alles in Christus vollbracht hat, hat Er in unendlicher Gnade höhere Ratschlüsse mitgeteilt, nämlich dass Sein eigenes Wesen, in Christus offenbart, das einzige geeignete Muster sein kann, in das Er Seine Kinder verwandeln wird. „Seid nun Nachahmer Gottes, als geliebte Kinder, und wandelt in Liebe, wie auch der Christus uns geliebt und sich selbst für uns hingegeben hat als Darbringung und Schlachtopfer, Gott zu einem duftenden Wohlgeruch“ (Eph 5,1–2).

Einander zu vergeben, wie Gott in Christus vergeben hat (vgl. Eph 4,32), ist gesegnet; aber das reicht nicht aus, obwohl es Seinem Herzen und Seinen Wegen entspricht. Es ist sicherlich göttlich in seinem Ursprung und in seinem vollen Charakter und Ausmaß für das Fleisch unmöglich; aber es geschieht im Hinblick auf den Menschen und sein Versagen und auf die Auswüchse einer bösen Natur. Er möchte dies in uns fördern. Es ist die Frucht seiner Gnade und höchst notwendig in einer Welt wie dieser; höchst heilsam für seine Heiligen in ihrem Verkehr und Umgang miteinander. Aber es ist bei weitem nicht der Ausdruck all dessen, was Er ist und wovon Er möchte, dass wir es genießen und darüber nachdenken. Es gibt einen Ausfluss des Guten gemäß Seinem Herzen, wo es nicht um das zu vergebende Böse geht, das in gewissem Sinne ja nur negativ ist, wie echt und schön Vergebung auch sein mag. Hier ist alles positiv, fließt gleichsam frisch und über menschliches Erdenken hinaus. Deshalb heißt es: „Wandelt in Liebe, wie auch der Christus uns geliebt und sich selbst für uns dahingegeben hat“, usw. Vergebung zu erlangen war unser dringendes Bedürfnis, wenn wir auch nur den geringsten Trost von Gott oder Hoffnung auf die Erlösung vom Zorn und darauf folgende Glückseligkeit haben wollten. Es war natürlich Gnade, die Gnade Gottes, aber sie war an die Not des Menschen gerichtet, wenn auch nicht an sie gebunden. Nun aber stehen wir auf dem neuen Boden der Vortrefflichkeit Christi und der Ausübung dessen, was Gottes würdig ist, in der Betätigung seiner eigenen Natur. Es ist also nicht das Sündopfer, auf das hier angespielt wird, auch nicht einfach das Blut oder die Leiden unseres gelobten Herrn, sondern seine Selbsthingabe für uns in unvergleichlicher Liebe, „eine Darbringung und ein Schlachtopfer, Gott zu einem duftenden Wohlgeruch“.

Man möchte bei einem solchen Thema auch nicht einen Augenblick die Gewissheit schwächen, dass es in den Leiden des Herrn am Kreuz Tiefen gibt, die nur dort zu finden sind; aber diese können und dürfen uns nicht als Muster vor Augen gestellt werden, da sie sich ausschließlich auf Ihn beziehen, der unsere Sünden an seinem eigenen Leib trug und für uns zur Sünde gemacht wurde. Er allein hat jenes Gericht Gottes erduldet, das kein Mensch, kein Engel, kein Geschöpf und keine neue Schöpfung mit Ihm teilen könnte, wie sehr sie auch dadurch gesegnet und mit dankbarer, anbetungsvoller Freude in Ihm erfüllt sind. Er allein war auf diese Weise, nicht nur für uns, sondern zu Gottes Ehre, der Gegenstand des Zornes, den Gott gegen die Sünde empfand und ausführen musste. Aber hier geht es um das, was die bewundernswerte Liebe Christi in all ihrem positiven Wohlgeruch und ihrer Schönheit zum Ausdruck bringt; und dies, um in der Kraft des Heiligen Geistes die Antworten der neuen Natur in den Heiligen hervorzurufen; denn in der Tat ist Christus unser Leben, und welche Grenzen gibt es für die Kraft des Geistes, der in uns wohnt? Die Liebe bewirkt Dienst in Selbstverleugnung, sei es in Ihm in vollkommener Weise, sei es in uns nach unserem Maß; aber gewiss gibt und formt sie den Geist des Dienstes, wie wir es bei unserem gelobten Herrn sehen (Phil 2).