diese liebliche Äußerung der Braut im Hohenlied der Ausdruck einer Erfahrung, die auch wir irgendwann in der verborgenen Geschichte unseres Lebens mit dem Herrn gemacht haben?

Nicht immer konnte die Braut so sprechen. Es kam der Tag, an dem der Anblick des Bräutigams ihre Seele erfüllte: als sie zum ersten Mal etwas von der Kostbarkeit seiner Liebe und der Schönheit seines Namens erkannte und sagte: „Deine Liebe ist besser als Wein“, und: „Ein ausgegossenes Salböl ist dein Name“ (Hohelied 1,2–3).

Er fing an, ihrem Herzen etwas zu bedeuten, aber bedeutete sie auch ihm etwas? Das war die Frage, die ihr Herz beschwerte. Sie wusste ein wenig um ihre tiefen Bedürfnisse: „Ich bin schwarz … weil die Sonne mich verbrannt hat“. Sie wusste auch ein wenig um seine Vollkommenheiten, denn sie sagte: „Du bist schön, mein Geliebter“ (Kapitel 1,16). Ihr Herz verlangte nach ihm, aber war es möglich, dass ein so Schöner überhaupt irgendeine Zuneigung zu einer so Schwarzen empfinden könnte? Das Verlangen ihres Herzens bringt sie mit den Worten zum Ausdruck: „Er küsse mich mit den Küssen seines Mundes.“ Wenn er mich liebt, dann soll er mir das Zeichen seiner Liebe geben.

Und dann, im weiteren Verlauf ihrer Geschichte, kam der Augenblick, an dem sie die Stimme ihres Geliebten hörte: „Mein Geliebter hob an und sprach zu mir: Mache dich auf, meine Freundin, meine Schöne, und komm“ (Kapitel 2,10). Es war der persönliche Ruf des Bräutigams. Er beantwortet das Verlangen ihres Herzens. Er lässt sie wissen, dass sein Verlangen nach ihr ist. Er möchte nicht ohne sie sein: „Mache dich auf, meine Freundin, meine Schöne, und komm“ (Kapitel 2,13). Und sofort kommt die glückliche Antwort der Braut: „Mein Geliebter ist mein, und ich bin sein“ (Kapitel 2,16). Es ist wahr, dass sie einen gewissen Eindruck davon hat, dass sie zu ihm gehört, aber der vorherrschende Gedanke in ihrem Herzen ist, dass sie ein Teil an ihm hat, dass er ihr gehört, „MEIN GELIEBTER IST MEIN.“

Aber im Verlauf des Hohelieds macht die Braut viele verschiedene Erfahrungen, die sie in eine tiefere Beziehung mit ihrem Geliebten führen. Für eine Zeit zieht sich der Bräutigam zurück und lässt die Braut im Dunklen und allein (Kapitel 3,1–2). Die Braut sucht ihren Geliebten, kann ihn aber nicht finden. Vergeblich durchsucht sie die Stadt, er ist nicht da; vergeblich erkundigt sie sich bei den Wächtern, sie können ihr nicht helfen. Aber als sie an ihnen vorüber ist, als andere Helfer versagen – da offenbart er selbst sich ihr in Seiner ganzen Herrlichkeit als Bräutigam und König. Sie sieht den König mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt, aber den Bräutigam sieht sie „am Tag der Freude seines Herzens“ (Kapitel 3,4–11). Und nachdem er seine ganze Herrlichkeit offenbart hat, sagt er ihr alles das, was sie für ihn ist: „Ganz schön bist du, meine Freundin, und kein Makel ist an dir“ (Kapitel 4,7).

Aber ach, trotz dieser wunderbaren Entfaltung seiner Gedanken über seine Braut, wird ihr Herz bequem und begnügt sich mit der Gewissheit seiner Liebe. Sie versäumt es, seiner Stimme zu antworten, und sr zieht sich zurück, aber nur um ihre Sehnsucht nach ihm erneut aufzuwecken. Wenn Zuneigungen einschlafen, wird er sie durch seine Abwesenheit aufwecken. Sie öffnet ihm, aber er ist weitergegangen; sie sucht ihn, kann ihn aber nicht finden; sie ruft ihn, aber er gibt keine Antwort. In der Stadt begegnet ihr nur Leid und Schmach; ihr Geliebter ist nicht da.

Aber die Abwesenheit des Bräutigams hat ihre Zuneigungen neu entfacht; ihr Herz verlangt danach, seine Herrlichkeiten bekannt zu machen. Ihre Gefährtinnen fragen, „Was ist dein Geliebter vor einem anderen Geliebten?“ Sofort fließt ihr Herz über von Lob für ihn. Er ist „ausgezeichnet vor Zehntausenden … und alles an ihm ist lieblich“ (Kapitel 5,10–16).

Ihr Herz ist erfüllt mit seinen Herrlichkeiten, ihre Lippen verkünden seinen Ruhm. Er erhebt sich vor den Blicken ihrer Seele. Sie muss nicht länger nach ihm suchen, sie weiß, wo er ist: „Mein Geliebter ist in seinen Garten gegangen“ (Kapitel 6,2); sie hat ihn gefunden und in seine Herrlichkeiten vertieft, ruft sie aus: „Ich bin meines Geliebten und mein Geliebter ist mein“ (Kapitel 6,3). Es gab Zeiten, in denen ihr erster Gedanke war: „Mein Geliebter ist mein“, er gehört mir; aber jetzt ist ihr erster Gedanke: „ICH BIN MEINES GELIEBTEN“, ich gehöre ihm.

Aber so gesegnet diese Erfahrungen auch sind, sie muss noch eine tiefere Bekanntschaft mit dem Herzen des Bräutigams machen. Der Anblick des Bräutigams hatte ihr Herz erfüllt, und sie hatte vor anderen von seinen Herrlichkeiten Zeugnis gegeben (Kapitel 5,9–16), aber jetzt darf sie die viel tiefere Freude erleben, aus dem Mund des Bräutigams zu hören, was sein Herz über sie denkt: „Du bist schön, meine Freundin“, „Wie schön bist du, und wie lieblich bist du“ (Kapitel 6,4 und 7,6). Sie erzählt anderen, was der Bräutigam ihr bedeutet, aber er erzählt der Braut, was sie ihm bedeutet. Insgeheim sagt er ihr leise ins Ohr, dass sie seine ganze Wonne ist. Er möchte, dass sie nicht nur weiß, wie schön sie für ihn ist, sondern wie kostbar sie für sein Herz ist: „Eine ist meine Taube, meine Vollkommene; sie ist die einzige …“ (Kapitel 6,9). Es mag andere geben, aber keine kann sich aus seiner Sicht mit seiner Braut vergleichen. Sofort antwortet ihr Herz mit einem Ausbruch der Freude: „Ich bin meines Geliebten, und nach mir ist sein Verlangen” (Kapitel 7,10). Es gab Zeiten, in denen sie mit großer Freude sagen konnte: „Mein Geliebter ist mein“, dann, als ihre Beziehung enger wurde, sagte sie: „Ich bin meines Geliebten“, und schließlich, als sie aus seinem Mund die Entfaltung der Tiefe seiner Liebe zu ihr erfährt, ruft sie voll Bewunderung aus: „Ich bin meines Geliebten, und NACH MIR IST SEIN VERLANGEN.“

Kennt nicht jeder wahre Gläubige etwas von diesen Erfahrungen? Können wir nicht auch auf Zeiten zurückblicken, in denen wir unsere tiefe Not erkannt und die Liebe und Gnade Christi etwas kennengelernt haben und von ihm angezogen wurden? Und dann, als wir die Schwärze unserer Herzen sahen, kam die Frage auf: „Ist es möglich, dass er mich liebt – so einen wie mich?“ Wir verlangten danach, Gewissheit über unser persönliches Teil an ihm zu bekommen; und weil er die hungernde Seele immer sättigt, hörten wir eines Tages als Antwort auf unser Sehnen seine Stimme: „Komm her zu mir!“

Wir hörten die Stimme des Geliebten – die Stimme des Sohnes Gottes –, die uns aus dieser armen Welt herausruft. Wir hörten ihn sagen: „Der Winter ist vorbei, der Regen ist vorüber, er ist dahin“, das Gewitter, dass über unseren Köpfen war, hat sich auf seinem Haupt entladen, auf seinem dornengekrönten Haupt. Und als wir im Glauben auf unseren auferweckten Erlöser blickten, wurden alle unsere Ängste zerstreut wie damals bei den Jüngern, die ihn sagen hörten: „Siehe meine Hände und meine Füße.“ Im Anschauen dieser Wunden, den Zeugen seines Todes, brannte sich die herrliche Wahrheit in unsere Seelen ein: „Er liebt mich und gab sich selbst für mich.“ Endlich konnten wir sagen: „Er ist mein Heiland“, „Mein Geliebter ist mein.“

Wie gut ist es, diese glückliche Gewissheit zu haben: „Jesus ist mein.” Aber er möchte uns weiterführen, in eine tiefere Kenntnis seiner Gedanken über uns. Wir sollen an seinem Kreuz beginnen, aber wir sollen da nicht stehen bleiben. Wie bei den Jüngern, will er unsere Herzen befestigen und gründen in der Geschichte vom Kreuz, indem er uns durch seine Wunden einen gestorbenen Heiland vorstellt. Und genauso wie die Jünger will er uns im Glauben weiterführen und uns, wie damals Maria, die wunderbare Botschaft hören lassen: „Geh aber hin zu meinen Brüdern und sprich zu ihnen: Ich fahre auf zu meinem Vater und eurem Vater und zu meinem Gott und eurem Gott.“ Er möchte, dass wir nicht nur wissen, dass er unser Retter ist, sondern auch, dass wir seine Brüder sind; dass sein Vater unser Vater und sein Gott unser Gott ist. Und wenn unsere Seelen von dieser Botschaft ergriffen sind, dann können wir mit großer Freude sagen: „Ich bin meines Geliebten.“

Wie gut ist es, zu wissen, dass ich Christus gehöre und er mein ist. Aber ist das alles? Wir haben große Segnungen vom Herrn empfangen: Vergebung, Rechtfertigung, die Gabe des Heiligen Geistes, Schutz vor dem Gericht und ein Anrecht auf die Herrlichkeit. Wir können wirklich sagen: „Preise den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht alle seine Wohltaten!“ Aber war das alles, was den Herrn bewegte, diese weite Reise von dem Thron im Himmel an das Kreuz auf der Erde zu machen? Wurde nur deshalb der, der reich war, arm? Wurde nur deshalb der Schöpfer der Welten ein Fremder im Land? Weinte er nur deshalb im Garten und litt er nur deshalb am Kreuz? Gab es kein tieferes, größeres Sehnen in eeinem Herzen als nur, dir und mir Segnungen zu verleihen? Doch! Und wir tun seinem großen Herzen voll Liebe Unrecht, wenn wir die Herrlichkeit seiner Gedanken über uns an unseren armseligen Gedanken über ihn messen.

Wenn wir seine Gedanken über uns kennenlernen wollen, müssen wir in eine Zeit zurückblicken, bevor die Erde da war, bevor auch nur ein einziges Geschöpf existierte. Von dieser gewaltigen Ewigkeit aus blickte er durch alle Zeiten hindurch auf eine „zukünftige“ Ewigkeit und sah eine große  Menge von Menschen in Übereinstimmung mit den Gedanken seines Herzens und konnte über sie sagen: „Meine Wonne war bei den Menschenkindern.“

Und als er in die Zeit eintrat – segensreiche Wahrheit –, heilte er unsere Krankheiten und löste die Gebundenen, den Hungrigen gab er Brot und die Nackten bedeckte er mit Kleidung, er vergab unsere Sünden und erweckte Tote auf. Alles das tat er, aber er tat noch mehr. Er begegnete nicht nur unserer Not, sondern vor allem anderen gewann er die Herzen derer, deren Not er begegnete. Er zog arme Sünder an und verband ihre Herzen mit sich selbst. Er ließ sie erkennen, dass er nicht nur ihr Heiland war, dass sie nicht nur ihm gehörten, sondern dass sein Verlangen nach ihnen war.

Nach uns ist sein Verlangen, und deshalb wurde er ein armer Mann, ein einsamer Mann, ein müder Mann, ein durstiger Mann, um unsere Herzen zu gewinnen. Nach uns ist sein Verlangen, und deshalb litt, blutete und starb er, um uns ihm gleich zu machen. Nach uns ist sein Verlangen, und deshalb kommt er wieder, um uns zu sich zu nehmen, damit wo er ist, auch wir seien. Es ist, als ob er sagte: „Ich will dich; auf deinen Reichtum, deine Fähigkeiten, sogar auf deinen Dienst könnte ich verzichten, aber auf dich kann ich nicht verzichten. Mich verlangt so sehr nach dir, dass ich arm wurde, um dein Herz zu gewinnen; mich verlangt so sehr nach dir, dass ich starb, um dich mir gleich zu machen; mich verlangt so sehr nach dir, dass ich bald für dich wiederkomme, um dich bei mir zu haben.“ Und wenn wir in seine Gedanken über uns eindringen, wird jeder von uns mit großer Freude ausrufen: „Ich bin meines Geliebten, und nach mir ist sein Verlangen.“

Wie gut ist es, dass ich auf meinem Weg durch eine Welt der Sünde, des Leids, des Todes und des Gerichts zu dem Menschen in der Herrlichkeit aufblicken kann und sagen: „Er ist mein Heiland.“ Noch wunderbarer ist es, dass ich auf meinem Weg durch eine Welt voller Gefahren und Schlingen von jeder Seite zu dem Heiland zur Rechten der Macht aufblicken kann und sagen: „Ich bin sein.“

Aber das Wunderbarste ist, dass ich sagen kann: „Es gibt eine Heimat in der Herrlichkeit, die auf mich wartet, und einen Menschen in der Herrlichkeit, der mich haben will.” „Nach mir ist sein Verlangen.“ Es verlangt ihn so sehr nach mir, dass er in den Tagen seines Fleisches für mich weinte und für mich betete, für mich litt und für mich starb; und alle Tage meiner Lebensreise lebt er für mich; und bald – sehr bald – kommt er für mich. Und sein Verlangen nach mir wird nicht eher gestillt sein, bis er mich bei sich hat und ich ihm gleich bin. Aber wenn alle Erlösten nach Hause versammelt sind und sein Name auf jeder Stirn eingeprägt ist, dann werden wir in einer tieferen und vollkommeneren Weise erkennen, dass sein Verlangen nach uns ist, und „von der Mühsal seiner Seele wird er Frucht sehen und sich sättigen.“  

[Übersetzt von Marco Leßmann. Deutsche Erstveröffentlichung.]