Eines der Hauptziele in dem Brief an die Hebräer ist es, die persönlichen Herrlichkeiten des Messias zur Belehrung und Festigung der Gläubigen vorzustellen, besonders derjenigen, die zu der Nation gehörten, die ihn so schamlos verunehrt hatte und ihn selbst bis ans Kreuz und in den Tod brachte. Es gab in den Tagen des Apostels nämlich solche, die sich dennoch der Verehrung des Gesetzes und der Propheten hingaben, obschon sie an Jesus, den Gesalbten Gottes, glaubten. Sie wollten, wie der lebhafte Petrus auf dem Berg, sich sozusagen drei Hütten bauen, für Mose eine, für Elia eine und für Christus eine. Der Brief an die Hebräer ist die Stimme, die aus der „prachtvollen Herrlichkeit“ kommt, so wie die himmlische Zurechtweisung an Simon, den Sohn Jonas, erging, die Christus als den Sohn Gottes bekannt machte. Weil er der Sohn Gottes ist, schwinden alle großartigen Vorbilder und Schatten alter Zeiten infolge der glänzenden Herrlichkeit des verachteten Nazareners dahin. Wie schön und lehrreich und eindrucksvoll die feierlichen Beobachtungen der früheren Haushaltung auch waren – sie konnten trotzdem nur begrenzt und unvollkommen sein und in keiner Weise auch nur in etwa „das Bild“ dessen tragen, der kommen sollte. Weil die mosaischen Opfer- und Priesterdienste Mängel aufwiesen, so wurde die Herrlichkeit danach „in dem Gegenbild“ desto deutlicher ans Licht gebracht, und das mehr durch die Hervorhebung des Gegensatzes als durch den Vergleich mit der früheren Anordnung.
Es ist klar, dass das Maß der Fülle und der Vollkommenheit (wir nehmen für einen Augenblick an, dass es erlaubt ist, über Grade der Vollkommenheit, wie sie gewöhnlich auf die irdischen Dinge bezogen werden, zu sprechen) bei der Erfüllung der alttestamentlichen Vorbilder allein von der Person abhängt, die diese erfüllt: Wo war der Priester, der Gott und Mensch in jeder Hinsicht zufriedenstellte? Es war sicherlich keiner von den Menschen, denn die waren alle von Schwachheit umgeben (Hebräer 5,1–3). Was auch immer der Mensch tat, der „mit Schwachheit umgeben“ ist, das musste auch selbst durch Schwachheit gekennzeichnet sein, sodass jede priesterliche Handlung in früheren Zeiten notwendigerweise schwach und unzureichend war. Aus diesem Grund war der anbetende Jude im Allgemeinen der Meinung, dass Schwachheit und Unzulänglichkeit in der einen oder der anderen Weise mit dem Priesterdienst verbunden sei. Deshalb standen sie in Gefahr, diese Unvollkommenheiten auch dem Priesterdienst Christi zuzuschreiben.
Um solche unwürdigen Gedanken richtigzustellen, stellt der Apostel gerade auf den ersten Seiten dieses Briefes die unübertreffliche Herrlichkeit der Person Christi vor – Sohn Gottes (Kapitel 1) und Sohn des Menschen (Kapitel 2). Noch bevor ein Wort über seine Vollkommenheit als Hoherpriester oder Opfer gesagt wird, wird die Wahrheit über seine Person in einem großartigen Anschauungsunterricht vorgestellt. Wird uns das nicht in dieser Reihenfolge vor unsere Herzen gestellt, damit sie in der Gegenwart der überwältigenden Majestät des Sohnes in Anbetung niedersinken, bevor wir anfangen, die Segnungen des Christentums kennenzulernen? Diese Segnungen gründen sich ja auf die Vollkommenheiten des großen Hohenpriesters und seines Opfers. Wir nehmen immer Schaden, wenn wir unsere Herzen nur mit unseren Gedanken über Christus beschäftigt halten. Wie hoch unsere Gedanken auch sein mögen, sie denken nie hoch genug von Christus. Wie nötig ist es deshalb, den Sinn des Geistes zu haben, von dem der Herr sagt: „Er wird mich verherrlichen, denn von dem Meinen wird er empfangen und euch verkündigen“ (Johannes 16,14).
Die Gottheit des Herrn Jesus garantiert eine vollkommene Erfüllung seines Priester- und Opferdienstes, während seine fleckenlose Menschheit ihn zu einem vollkommenen Stellvertreter für diejenigen macht, deren Sünden gesühnt sind. Wir lesen: „Weil nun die Kinder Blutes und Fleisches teilhaftig sind, hat auch er in gleicher Weise daran teilgenommen … Daher musste er in allem den Brüdern gleich werden, damit er in den Sachen mit Gott ein barmherziger und treuer Hoherpriester werde, um die Sünden des Volkes zu sühnen“ (Hebräer 2,14–17). Es wird allgemein angenommen, dass das Verb hier (ilaskomai) mit „Sühnung tun“ und nicht mit „versöhnen“ übersetzt werden muss. Das Umgekehrte trifft in Römer 5,11 zu, wo „Versöhnung“ an die Stelle von „Sühnung“ treten muss. Nun, beim Blick auf das alttestamentliche Ritual sehen wir, dass Aaron gerade am Versöhnungstag das Priesteramt ohne diese prächtigen Kleider „zur Herrlichkeit und zum Schmuck“ versah, die ihm als dem Hohenpriester gehörten. An diesem Tag musste er die feierlichen Handlungen in der alltäglichen Leinentracht des Priestertums verrichten und nicht in der schönen Kleidung, die ihm gehörte (2. Mose 18,1–38). Tatsache war, dass Aaron für sich selbst und die anderen Priester („sein Haus“) Opfer bringen musste, genauso wie für die Sünden des Volkes. Und während er so nur in den heiligen Kleidern von Leinen bekleidet war, wurde er – um den neutestamentlichen Ausdruck zu gebrauchen – „den Brüdern gleich gemacht“. Die prächtige Kleidung, die nur für Aaron bestimmt war, konnte nach der Erfüllung des Sühnungswerkes wieder angezogen werden. Das Ephod, das Brustschild, die Urim und die Thummin – sie alle waren mit dem Werk der Vermittlung für das Volk, das Aaron ausführte, verbunden, damit sie in der Verbindung zu dem HERRN blieben, die sie infolge des Blutes, das auf dem Gnadenstuhl war, hatten. Das Werk des Hohenpriesters in den leinenen Kleidern (Sühnung) leitete das Werk in den schmuckvollen Kleidern (Vermittlung) ein. Und in dieser Reihenfolge wird uns das Werk des großen Hohenpriesters in dem Hebräerbrief vorgestellt: 1. Sühnung für unsere Sünden (Kapitel 2) und 2. Vermittlung und Hilfe, damit wir nicht sündigen (Kapitel 4 etc.).
Der Abschnitt über den barmherzigen und treuen Hohenpriester, der Sühnung für die Sünden bewirkte, will uns im Wesentlichen sagen, dass der Herr Jesus von oben herabkam, um dies zu tun. Darum wurde er ein wenig unter die Engel erniedrigt; darum hat er an Blut und Fleisch teilgenommen; darum musste er in allem den Brüdern gleich werden, sodass die Sühnung ein Werk in den Tagen seines Fleisches wurde. Es gibt nicht ein einziges Wort, das besagt, dass er in den Himmel ging, um Sühnung für Sünden zu tun. Er selbst sagte zu seinem Vater in Bezug auf sein Werk: „Ich habe dich verherrlicht auf der Erde; das Werk habe ich vollbracht, welches du mir gegeben hast, dass ich es tun sollte“ (Johannes 17,4).
[Eingesandt von Stephan Keune.]