Was ist der angemessene Dienst für Gläubige in der heutigen Zeit?

Als Antwort auf diese Frage wird oft 1. Petrus 2,2 zitiert: „… und wie neugeborene Kinder seid begierig nach der vernünftigen, unverfälschten Milch, damit ihr durch diese wachst.“ Viele behaupten, dass diese Stelle meint, dass „Milch“ das angemessene Nahrungsmittel für junge Gläubige ist. Ohne auf die Bedeutung des Wortes einzugehen (das sehr schwierig zu übersetzen ist), ist doch der springende Punkt, dass der Gläubige ein Verlangen nach dem Wort Gottes haben sollte so wie ein Neugeborenes nach der Milch. Es ist als Erstes eine Frage des Appetits, und zweitens zeigt es uns, dass das Wort Gottes für den Gläubigen ein ebenso geeignetes Nahrungsmittel ist wie Milch für ein Neugeborenes. Das ist es, was der Geist Gottes uns an dieser Stelle sagen will, und es wird noch deutlicher, wenn wir die nachfolgenden Worte hinzunehmen: „damit ihr durch dieselbe wachset zur Errettung.“ Indem wir uns vom Wort Gottes ernähren, wachsen wir, und zwar bis zur vollständigen Errettung.

Die Stelle, der wir uns jetzt zuwenden, wirft noch mehr Licht auf unser Thema. Der Apostel Paulus schreibt den Korinthern: „Ich habe euch Milch zu trinken gegeben, nicht Speise; denn ihr vermochtet es noch nicht, aber ihr vermögt es auch jetzt noch nicht, denn ihr seid noch fleischlich. Denn da Neid und Streit unter euch ist, seid ihr nicht fleischlich und wandelt nach Menschenweise?“ (1. Korinther 3,2–3). In diesem Fall ist es klar, dass der Apostel diese Gläubigen aufgrund ihres schlechten Zustandes mit „Milch“ fütterte, dass er es sehr bedauerte, das tun zu müssen, und dass er sie, wenn sie der Fülle der Gnade und Liebe Gottes mehr entsprochen hätten, mit „Speise“ und nicht mit „Milch“ gefüttert hätte. Wer also annimmt, dass die Gläubigen „Milch“ benötigen, unterstellt gleichzeitig, dass sie in einem „korinthischen“ Zustand sind. Des Weiteren lernen wir, dass ein Dienst, der für die eine Versammlung angemessen ist, für eine andere gänzlich ungeeignet sein kann. Und dann sollte sich dem Herzen der Lehrer sehr wohl die Frage aufdrängen, ob der Dienst im Hinblick auf den Zustand der Seelen von einer ausreichenden geistlichen Einsicht geleitet war. Nichts liegt mehr auf der Hand, als dass es ein äußerst großer Fehler wäre, die Belehrungen des Epheserbriefes der Versammlung in Korinth oder die Belehrungen des Korintherbriefes der Versammlung in Ephesus auszuteilen.

Eine andere Schriftstelle soll uns in unserer Untersuchung zu Hilfe kommen. Nachdem der Apostel angefangen hat, über Melchisedek zu sprechen, fährt er fort mit den Worten: „Über diesen haben wir viel zu sagen, und es ist mit Worten schwer auszulegen, weil ihr im Hören träge geworden seid. Denn obwohl ihr der Zeit nach Lehrer sein müsstet, habt ihr wieder nötig, dass man euch lehre, welches die Elemente des Anfangs der Aussprüche Gottes sind; und ihr seid solche geworden, die Milch nötig haben und nicht  feste Speise. Denn jeder, der noch Milch genießt, ist unerfahren im Wort der Gerechtigkeit, denn er ist ein Unmündiger; die feste Speise aber ist für Erwachsene, die infolge der Gewöhnung geübte Sinne haben zur Unterscheidung des Guten sowohl als auch des Bösen. Deshalb, das Wort von dem Anfang des Christus verlassend, lasst uns fortfahren zum vollen Wuchs“ (Hebräer 5,11 – 6,1).

Hier gibt es einige Punkte, die unsere besondere Aufmerksamkeit verdienen. Der Apostel beklagt die Unfähigkeit der Gläubigen, das zu empfangen, was er mitzuteilen hatte. Obwohl sie, gemessen an der Zeit, die sie schon Christen waren, bereits Lehrer hätten sein sollen, war es doch notwendig, zu den Anfangselementen der Wahrheit zurückzukehren, denn sie waren solche geworden, die der Milch bedurften – ein Beweis ihrer Unfähigkeit im Gebrauch des Wortes –, und sie waren geschrumpft anstatt zu wachsen. Sie waren immer noch Kinder, und deshalb beginnt das 6. Kapitel mit einer ernsten Ermahnung. Kurz gesagt, diese lieben Gläubigen waren nicht bereit, Fortschritte zu machen. Kann jemand, der die Gesinnung Christi hat, mit einem solchen Zustand zufrieden sein? Welcher Lehrer könnte ihren Zustand ruhigen Herzens hinnehmen und fortfahren, sie mit Milch zu füttern, als wenn darüber hinaus nichts nötig wäre?

Sicher tun wir gut daran, diese ernste Warnung zu beachten. Müsste sie nicht aus gleichem Grund an viele Gläubige unserer Tage gerichtet werden? Gibt es nicht Hunderte – nein Tausende –, die sich für nichts interessieren, was über das Evangelium hinausgeht? Es wäre in der Tat traurig, wenn wir aufhörten, uns mit der guten Botschaft der Gnade Gottes zu beschäftigen. Das, was das Herz Gottes selbst beschäftigt, sollte wohl auch die Herzen seines Volkes beschäftigen. Aber das bedeutet nicht, dass wir uns ausschließlich mit dem Evangelium oder mit den einfachsten Elementen der Wahrheit nähren sollen. Auf gar keinen Fall, denn wir benötigen Christus in jeder Eigenschaft, in jedem Blickwinkel und in jedem Amt, das uns vorgestellt wird. Und wenn wir das nicht erkennen, werden wir sehr schnell genau so schrumpfen wie diese hebräischen Gläubigen.

Sicher wird jemand entgegnen: „Bedenkt doch, wie viele Neubekehrte da sind. Das sind wirklich noch Kinder. Wollt ihr diese denn nicht mit „Milch“ füttern?“ Das Wort Gottes ist unsere einzige Richtschnur, und wir haben mindestens zwei Beispiele, wie der Geist Gottes solchen Seelen dient. Die Briefe an die Thessalonicher wurden kurz nach der Entstehung der Versammlung dort geschrieben – beide wahrscheinlich innerhalb eines Jahres, nachdem die Gläubigen sich von den Götzenbildern zu Gott bekehrt hatten, um dem lebendigen und wahren Gott zu dienen und seinen Sohn aus den Himmeln zu erwarten (1. Thessalonicher 1,9–10). Und was finden wir da? Im ersten Brief wird uns das Kommen des Herrn in jedem erdenklichen Aspekt vorgestellt, und dies sogar unterschieden von seinem Kommen in die Welt, neben vielen praktischen Unterweisungen zur Auferbauung dieser Gläubigen auf ihren allerheiligsten Glauben. Im zweiten Brief geht der Apostel sogar noch weiter und spricht über den vollen Charakter der Erscheinung Christi, über die Wahrheit von dem Menschen der Sünde, über die herrliche Tatsache, dass die Versammlung von diesem Schauplatz weggenommen werden muss, bevor dieser Sohn des Verderbens offenbar wird etc. Diese Unterweisungen können wohl kaum als Anfangselemente bezeichnet werden, aber sie sollten der Unterweisung und dem Trost dieser Kinder dienen und waren für ihr Verständnis über Christentum sicher notwendig.

Ein weiteres Beispiel haben wir im ersten Johannesbrief. Wenn Johannes die ganze Familie Gottes in Väter, Jünglinge und Kinder unterteilt, womit richtet er sich dann an diese letzte Klasse, die Jüngsten der Kinder Gottes? „Kinder“, beginnt er, „es ist die letzte Stunde, und wie ihr gehört habt, dass der Antichrist kommt“, etc. (1. Johannes 2,18). Dann fährt er fort, die Gefahr aufzuzeigen, die von Antichristen ausgeht, die bereits erschienen sind. Er warnt sie, indem er ihnen die Eigenschaften des Antichristen vorstellt, und führt sie dann zu der Quelle ihrer Sicherheit, die sie durch die Salbung mit dem Heiligen Geist und das Wort Gottes haben. Es besteht in der Tat eine auffällige Übereinstimmung mit der Belehrung von Paulus in 2. Thessalonicher.

Hier haben wir also göttliche Weisheit, die uns anleitet, wie Kinder zu belehren sind. Sie müssen mit dem Wort Gottes genährt werden, sie müssen durch die Offenbarungen und Warnungen des Wortes Gottes gegen Gefahren gewappnet werden, und sie müssen einen vollständigen Christus haben – Christus in allem, was er in sich selbst ist, in allem, was er für Gott ist und in allem, was er für sie ist – damit sie dadurch wachsen zur Errettung. Das ist etwas ganz anderes, als sie mit Fragen und Kontroversen zu beschäftigen anstatt mit Christus. Und es darf hinzugefügt werden, dass das Aufrechterhalten der Einfachheit in der Unterweisung vollständig einhergeht mit der Einführung der Seelen in die Kenntnis sowohl ihres Teils in Christus als auch der Gefahren auf ihrem Weg. Wir zögern nicht zu sagen, dass so viele junge Gläubige abirren und noch viel mehr den Einflüssen der Welt nachgeben, weil wir in vielen Fällen versäumt haben, sie mit geeigneter Nahrung zu versorgen. Sie wissen kaum mehr, als dass ihre Sünden vergeben sind, haben nur wenig Interesse an der Schrift und vernachlässigen daher die Mittel zu ihrem Wachstum und ihrer Sicherheit. 

Die lehrmäßige Reihenfolge der Briefe verschafft dieser Lektion Nachdruck. Der Römerbrief muss zweifellos als Brief der Grundlagen bezeichnet werden, aber wie viele kommen nicht über Römer 5,1 hinaus? Und wie viele verstehen die Wahrheit in Römer 6? Und wenn sie sie lehrmäßig verstanden haben, wie viele haben dann die Erfahrungen von Römer 7 hinter sich gebracht und sind so bereits eingetreten in den Genuss der Segnungen von Römer 8? Aber der Kolosserbrief geht noch darüber hinaus und der Epheserbrief geht wiederum über den Kolosserbrief hinaus. Und es ist auch klar, dass der Christ im Philipperbrief nicht in dieser Welt gesehen werden kann, wenn er nicht die Wahrheit der erstgenannten Briefe verstanden hat. Sollen diese Schätze den Gläubigen denn für immer vorenthalten werden? Sollen wir etwa zugunsten der Kinder die Wahrheit,, mit Christus gestorben und auferweckt worden zu sein, aufgeben? Wenn wir das tun, lassen wir die Fundamente des Christentums fahren und werden leichtfertig – und sehr schnell – auf jüdischen Boden und zu jüdischen Erfahrungen zurückkehren.

Gebe der Herr uns allen, egal auf welcher Wachstumsstufe, ein zunehmendes Verlangen, nachzujagen, um das zu ergreifen, wozu wir auch von Christus Jesus ergriffen sind!

[Übersetzt aus dem Englischen von Marco Leßmann]