„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Ps 22,2).
Diese Frage ist vielleicht der Satz von größter Tiefe in der ganzen Bibel. Einmal wurde diese Frage gestellt, danach muss sie nie wieder gestellt werden. Müsste sie noch einmal gestellt werden, dann wäre das Sühnungswerk des Herrn Jesus am Kreuz nicht vollkommen. Gleichzeitig bildet diese Frage die Überschrift über den ganzen Psalm. Wir müssen sie sozusagen nach jedem Vers lesen:
- Der Herr Jesus rief (Ps 22,3), Er rief zu dem Gott, der sagt: „Rufe mich an am Tag der Bedrängnis: Ich will dich erretten.“ Aber Er wurde nicht gerettet – Gott verließ Ihn.
- Der Herr Jesus vertraute wie keiner Gott (Ps 22,5–11). Die Väter vertrauten und wurden gerettet. Aber Ihn verließ Gott.
- Der Herr Jesus litt Unsägliches von den Menschen – Juden (Ps 22,13–16) und Heiden (Ps 22,17–20) – sowohl körperlich als auch seelisch. Er kam in große Drangsal. Aber der Gott, der sich „eine Hilfe, reichlich gefunden in Drangsalen“ nennt, half Ihm nicht. David hatte den Gerechten nie verlassen gesehen (Ps 37,25) – aber Ihn, den Gerechten, verließ Gott doch. Was muss es für seine Seele gewesen sein, laut ausrufen zu müssen, dass Gott Ihn verlassen hat – und das vor denen, die höhnisch gespottet hatten: „Vertraue auf den Herrn! – Der errette ihn, befreie ihn, weil er Gefallen an ihm hat!“
Der Herr Jesus hat diese Frage am Kreuz laut geschrien (Mt 27,46). Das zeigt die unfassbare Not seiner Seele. Das fordert anderseits aber jeden auf, eine Antwort auf diese Frage zu geben. Wir wollen die einzelnen Worte dieses unergründlichen Satzes kurz anschauen:
- mein Gott – der Ausdruck unerschütterlichen Vertrauens, selbst in tiefster Not. Sein Gott sollte die Möglichkeit bekommen, sich angesichts der Sünde zu verherrlichen.
- warum – die Sünde musste gesühnt werden, Gott musste in seinem Wesen als Licht und Liebe gerechtfertigt werden, und dazu musste der Herr Jesus zur Sünde gemacht und mit unseren Sünden beladen werden. Und Gott, der zu rein von Augen ist, um Sünde zu sehen, musste sich abwenden.
- hast – in Gethsemane war der Herr sehr betrübt und beängstigt, weil Er den Schrecken des Verlassenseins von Gott vor sich sah. „Nimm diesen Kelch von mir weg“, so schrie Er zum Vater. Aber jetzt war das, was Ihn ängstigte, eingetroffen: Gott hatte Ihn verlassen. Psalm 22,2 ist der Grund für den Kampf in Gethsemane.
- du – wie hatte Er die Gemeinschaft mit Gott immer genossen. Wenn sie Ihn auch alle verließen und kein Tröster mehr da war – Er war nicht allein, ging den Leidensweg gemeinsam mit seinem Gott. Aber jetzt verlor Er das, was Er in der schwersten Bedrängnis am meisten benötigte: die Stütze der Gemeinschaft mit seinem Gott.
- mich – in Ihm selbst gab es keinen Grund, Er war der Gerechte, in Ihm war keine Sünde, Er hatte immer vertraut, war immer abhängig und gehorsam. Es gab schwerwiegende Gründe, Ihn nicht zu verlassen, aber Gott tat es doch.
- verlassen – Sünde ist Schuld und verlangt Strafe. Das ist der Schwerpunkt in Jesaja 53: Gott zerschlug Ihn. Aber Sünde ist auch Beschmutzung und verlangt, dass Gott sich abwendet. Das ist der Schwerpunkt in Psalm 22: Gott verlässt Ihn. Gottes Gegenwart und Sünde sind nicht vereinbar – und Gott bleibt sich selbst treu. Er verlässt seinen Sohn, weil Er mit Sünde beladen ist.
Gibt es etwas im ganzen Universum, was deutlicher macht, wie schwer die Sünde in Gottes Augen wiegt; wie heilig Gott in seinem Wesen ist; welche tiefe Not die Sühnung der Sünden unserem Herrn bereitet hat und welche unendliche Liebe in seinem Herzen sein muss, dass Er bereit war, das zu erdulden: in dem Schlamm unserer Sünden zu versinken, von den Zorngluten Gottes getroffen zu werden und sich dabei nicht mehr auf seinen Gott stützen zu können?