„Er wurde misshandelt, aber er beugte sich und tat seinen Mund nicht auf, wie ein Lamm, das zur Schlachtung geführt wird, und wie ein Schaf, das stumm ist vor seinen Scherern; und er tat seinen Mund nicht auf“ (Jes 53,7).
Was hier dem Nachsinnenden auffällt, ist die sanfte Selbsthingabe des Leidenden. Diese eigentümliche Hinnahme ungerechter Leiden, ohne den Hauch eines Protestes, zieht uns an und verlangt nach einer Antwort der Zuneigung, und sie ist ein wichtiges, ein lebenswichtiges, ein grundlegendes Element im ganzen Plan der Sühnung; denn hätte es auch nur den Hauch eines Protestes gegeben, so hätte dies die Freiwilligkeit des Opfers in Frage gestellt, und wer könnte die Folgen ermessen? Der Vorwurf der Ungerechtigkeit, einen Unschuldigen für Schuldige zu bestrafen, wäre berechtigt gewesen.
Man wird sich erinnern, dass gerade sein Schweigen Pilatus in Erstaunen versetzte. Statt der lauten Unschuldsrufe, die er von Amts wegen gewohnt war, stand ein Mensch vor ihm, dem ein schrecklicher Tod drohte, und der doch ruhig und schweigsam war, ein Mensch, dessen bloße Anwesenheit mit überzeugender Beredsamkeit sprach, während seine Lippen kein einziges Wort sagten! Nie war ein Schweigen so beredt! Niemals drückte ein geschlossener Mund eine solche Tiefe der Wahrheit aus! Hätte Er ein Wort der Trauer oder des Protestes gesprochen oder ein Wort der Freude in der Erwartung des Sündentragens, wie sehr wäre seine persönliche Vollkommenheit beeinträchtigt, wie sein Sühnungswerk ruiniert worden! Welcher Verstand könnte solch göttlich vollkommene Ausgewogenheit ersinnen, welche menschliche Hand sie darstellen? Niemals, ich wiederhole es, war ein Schweigen so beredt!
Gott hat offenbar jedes Geschöpf auf Erden geschaffen, um uns zu helfen, die unsichtbaren göttlichen Wahrheiten zu verstehen; und so erzählen uns die Majestätischen, die Schönen, die Sanftmütigen unter den Tieren von den sittlichen Schönheiten seines Sohnes. Der Löwe spricht von seiner Würde, der Ochse von seiner Geduld; soll das Lamm schweigen? Oder soll nicht gerade dieses Schweigen im Angesicht des Todes von der Liebe künden, die ihn bewog, „die Schande nicht achtend das Kreuz zu erdulden“, damit sein Gott die Macht habe, zu retten, und damit Er selbst die Freude habe, arme Sünder zu erretten und mit ihnen die Freude zur Rechten Gottes zu teilen, die Er selbst für immer nur für sich allein hätte haben können, wenn Er nicht gelitten hätte?
In jener öffentlichen Halle, wo man Ihn entkleidete und zum Spott mit dem kaiserlichen Purpur bekleidete, gab es keine schimpfende Antwort auf den Spott der rohen römischen Soldaten. Dann ging es nach Golgatha, aber immer noch mit jenem unterwürfigen Schweigen, das mehr als 700 Jahre zuvor vorausgesagt worden war und über das wir hier, Tausende von Jahren nach seinem Leiden, nachdenken – und das für alle Ewigkeit das Thema unserer Betrachtung sein wird!
