„Johannes [der Täufer] antwortete: Der die Braut hat, ist der Bräutigam; der Freund des Bräutigams aber, der dasteht und ihn hört, ist hocherfreut über die Stimme des Bräutigams; diese meine Freude nun ist erfüllt. Er muss wachsen, ich aber abnehmen“ (Joh 3,29.30).
Johannes der Täufer hatte den Bräutigam vor Augen und redete davon, dass die Braut, die Versammlung, eine viel innigere Beziehung zu Christus haben würde als er selbst. Aber auch wenn seine Stellung hinter der Beziehung der Braut zurückstand, so war das für ihn nur eine Gelegenheit, den Charakter des Herrn noch mehr zu bewundern.
Das Herz von Johannes ist völlig eingenommen von dem, den er so gut kennt. Sein Herz freut sich mit Jesus, weil er weiß, dass sein Freund eine Braut gefunden hat, die es wert ist, mit Ihm vereint zu sein. Er gibt sich selbst dafür auf und nimmt bereitwillig den Platz in der zweiten Reihe ein. Nur so ist es zu erklären, dass er diese starken Worte ausspricht: „Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen.“ Jesus soll in allem den ersten Platz einnehmen. Das ist es, was Ihm und seinem Werk gebührt. Und das ist die Erkenntnis eines Johannes, als er den Herrn Jesus sieht.
Christen brauchen oft ein langes Leben voller demütigender Erfahrungen, bis sie an diesen Punkt kommen, um wie Johannes der Täufer sagen zu können: „Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen.“ Unser „natürlicher Mensch“ hat immer die Tendenz, sich aufzuspielen und sich selbst erhöhen zu wollen – das Erniedrigen, der zweite Platz, alles das liegt dem natürlichen Menschen nicht. Er will nicht wie Johannes sagen: „Ich aber muss abnehmen.“
Bei Paulus sehen wir, dass auch er so sehr von Christus ergriffen war, dass in die Worte von Johannes dem Täufer miteinstimmen konnte: „Wahrlich, ich achte auch alles für Verlust wegen der Vortrefflichkeit der Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn, um dessentwillen ich alles eingebüßt habe und es für Dreck achte, damit ich Christus gewinne“ (Phil 3,8).
Gott führt uns zu dieser Erkenntnis, indem Er uns in seine Schule nimmt. Wenn wir meinen, etwas zu sein, dann werden wir schnell lernen, was wir in uns selbst sind. Der Tadel von unserer Familie, die Kritik unserer Brüder und die Bemerkungen einer scharfsinnigen Welt, die uns unsere Schwächen ansieht: Alles das wird uns davon überzeugen, dass wir abnehmen müssen; dass es keinen Grund gibt, uns für etwas zu halten.
Dann begreifen wir, dass diese schwierigen Lektionen nötig waren, um uns dahin zu bringen, alles dem Herrn zu überlassen. Gott erzieht uns oft gegen unseren Willen, um das Ergebnis zu erreichen, dass auch wir sagen: „Er muss wachsen.“ Johannes brauchte diese Erziehung nicht und sagte: „Er muss wachsen“, weil er Christus vor Augen hatte.
Diese Aussage zeigt den tiefen Wunsch seines Herzens und die Frucht seiner Liebe zum Herrn. Wir hingegen werden keine Freude empfinden, wenn die Erziehung Gottes uns zwingt, unsere eigene Bedeutungslosigkeit anzuerkennen. Dabei müssen wir lernen, dass wir durch unsere Selbstachtung, durch unser Streben nach Wachstum in Wahrheit unseren Erlöser geschmälert haben.
Johannes der Täufer hatte nur einen Gegenstand: den Herrn. Und obwohl er wusste, dass er der Stellung nach der größte aller Propheten war (Lk 7,28), wusste er doch, dass er selbst nicht würdig war, den Riemen der Sandale Jesu zu lösen und Ihm in diesem Dienst eines Sklaven zu dienen.
Original: Courtes Méditations, Nr. 6 von 40 (ME 1921, S. 253–254), leicht gekürzt