Seitdem durch den Ungehorsam des Menschen die Sünde in die Welt gekommen ist, sind Leid und Tränen ein unausweichlicher Teil des menschlichen Lebens. Zwar verlief manches Leben trotzdem wie ein ruhiger, friedlicher Bach, doch heute[1] scheint das Leid mit seiner Last kaum noch ein Haus zu verschonen.
Schwere Bürden liegen auf Herzen – sowohl in Hütten als auch in Palästen. Überall begegnen uns stumme, trauernde Witwen, unversorgte Kinder, gebrochene Eltern, die ihre Stütze verloren haben. Kaum ein Tag vergeht, ohne dass wir neue traurige Nachrichten hören.
Wie schwer fällt es da, tröstende Worte zu finden! Die Last der Umstände zeigt uns unsere eigene Schwäche und innere Armut – und das ist gut so. Denn obwohl das Volk Gottes heute viel biblisches Wissen hat und oft ein klares, schriftgemäßes Urteil über Lebenssituationen fällen kann – reicht das allein nicht aus.
Ein richtiges Urteil ist noch kein Zeichen echten Mitgefühls. Und ohne echtes Mitgefühl bleibt uns der Zugang zu den Herzen der Leidenden verschlossen. Wie schnell – und oft mit Glauben – sagen wir: „Es ist der Herr!“, wenn Mitgeschwister von Unglück oder Krankheit getroffen werden. Aber hilft das dem Betroffenen wirklich weiter? Wird sein Herz dadurch gestärkt oder zu Gott erhoben? In vielen Fällen leider nicht.
Er weiß oft selbst, dass Gott in seinem Leben handelt – es sei denn, sein geistliches Auge ist durch Gleichgültigkeit oder Sünde verdunkelt. Was ein Leidender braucht, ist etwas anderes – und das wissen wir auch. Wenn wir selbst leiden oder trauern, suchen wir nicht in erster Linie schöne Trostworte. Wir sehnen uns nach Herzen, die mitfühlen und die Last mittragen. Ein Gramm echtes Mitgefühl wiegt mehr als ein Kilogramm schön formulierter Bibelworte, wenn sie nicht aus einem mitfühlenden Herzen kommen. Mitgefühl und Trost sind wie unzertrennliche Zwillingsschwestern: Wo das eine ist, fehlt das andere nicht.
So wird mancher Trostbrief – voller wertvoller Bibelverse – trotzdem beiseitegelegt, weil er das Herz nicht erreicht. Warum ist das so?
Man könnte meinen, dass es ein Zeichen für einen schlechten Herzenszustand beim Empfänger ist, wenn Trostworte ihn nicht erreichen – vielleicht. Aber oft liegt es auch am Absender: Er hat es versäumt, mit dem Schlüssel des Mitgefühls das durch Schmerz verschlossene Herz für den Trost des Wortes Gottes zu öffnen.
Wer einem leidenden Menschen durch Worte oder Briefe echte Ermutigung geben will, muss sich zwei Dinge vorher vom Herrn erbeten haben: Erstens: ein mitfühlendes Herz – echtes, tiefes Mitempfinden für das Leid des anderen. Zweitens: das Bewusstsein der eigenen Unfähigkeit, gepaart mit dem Gebet um göttliche Weisheit – damit er dem leidenden Herzen mit Feingefühl begegnet und das passende Wort sagt, das nur der Herr geben kann. Ohne beides wird der Dienst kraftlos und wenig gesegnet bleiben.
Sorgen, Belastungen, Schmerzen und Tränen sind heute fast in jedem Haus zu finden. Sollten wir als Kinder Gottes da nicht gelernt haben – oder täglich neu lernen –, einander zu verstehen, miteinander zu fühlen und einander zu helfen? Und doch fehlt uns gerade darin so oft etwas. Viele gehen entmutigt ihren Weg, von eigenen Umständen niedergedrückt, ohne Blick oder Herz für das womöglich noch schwerere Los ihrer Mitgeschwister. Ohne Trost für sich – und damit auch ohne Trost für andere.
Sicher, „lang hingezogenes Harren macht das Herz krank“ (Sprüche 13,12). Wenn Prüfungen sich hinziehen – länger, als wir es menschlich für erträglich halten –, dann ist es verständlich, wenn viele mit inneren Kämpfen zu tun haben und Mutlosigkeit oder Erschöpfung Raum gewinnen. Denken wir nur an die vielen Frauen, die schon seit über drei Jahren allein dastehen – mit Kindern, voller Sorgen um deren Erziehung, um das tägliche Auskommen und mit ständiger Angst um den geliebten Mann an der Front. Oft selbst körperlich geschwächt – und doch tragen sie ein Gewicht wie aus Blei.
Wer dürfte es da wagen, sie zu kritisieren, wenn ihnen einmal der Mut fehlt? Nein, nicht Tadel, sondern aufrichtige, tiefe und herzliche Anteilnahme ist ihnen angemessen.
Und doch – wie schade ist es, wenn ein Herz nur bei seinem eigenen Leid stehen bleibt. Viel Segen entgeht so dem Volk Gottes. Und dem Herzen des Herrn – „voll innigen Mitgefühls und Barmherzigkeit“ – bleibt dadurch viel Freude versagt. „Ich bin doch selbst so trostbedürftig, wie soll ich da andere trösten?“ Du sollst es nicht aus dir selbst tun – du darfst es tun. Es ist dein Vorrecht, ein wenig von dem weiterzugeben, was Gottes Herz dir täglich, stündlich schenkt. Er ist der „Vater der Erbarmungen und der Gott allen Trostes“ (2. Korinther 1,3). Alles echte Erbarmen entspringt dem Herzen Gottes. Die liebevolle Zuwendung seines Herzens, das uns in jeder Lage versteht und mit uns fühlt, ist die Quelle des Trostes, den wir in all unserer Not erfahren.
Leiden wir? Dann fühlt sein Herz mit. Am Thron der Gnade finden wir Ihn – den, der „in all unserer Bedrängnis bedrängt war“ (vgl. Jesaja 63,9). Hast du das nicht schon oft auf deinem Weg erlebt?
Hat Er je sein Erbarmen vor dir zurückgehalten? Hat Er sich dir nicht gerade dann, wenn dich kein Mensch verstand, als der mitfühlende, barmherzige Herr gezeigt? Hat dein verletztes und gequältes Herz sich nicht machtvoll zu seiner treuen Liebe hingezogen gefühlt?
Hat Er dir nicht tiefen Trost und heilenden Balsam geschenkt – selbst wenn deine Tränen noch flossen? Und nun solltest du nicht fähig sein, etwas von dieser Fülle seines Mitgefühls und Erbarmens weiterzugeben – an deine Glaubensgeschwister und andere Menschen um dich her?
Nein, es bleibt dabei – wie Paulus sagt: Gott tröstet uns in all unserer Bedrängnis, damit wir die trösten können, die in allerlei Bedrängnis sind – mit dem Trost, mit dem wir selbst von Gott getröstet werden (2. Korinther 1,4).
Der tiefste und größte Trost für uns ist das Ruhen an Gottes Herz – in der Gewissheit: Er liebt uns, versteht uns und fühlt mit uns.
Und so trösten auch wir andere am besten – nicht nur mit Worten, sondern mit echtem Mitgefühl. Das heißt: mit einem Herzen, das sich liebevoll in die Lage des anderen versetzt und seine Last mitträgt. Wie gut tut es einem leidenden Herzen, wenn es auf echtes Verstehen trifft! Dann beginnt das Eis des Schmerzes zu schmelzen, der Stachel der Not verliert seine Schärfe, und das Herz öffnet sich für den Trost des Wortes Gottes. Wo echtes Mitgefühl da ist, wird wahrer Trost nie fehlen.
Und im Blick auf unser Thema wollen wir noch kurz an den barmherzigen Samariter denken: Wir selbst lagen einst verwundet und ausgeraubt am Weg, dem Tod nahe. Da kam Er. Er erkannte unser Elend besser als wir selbst – und wurde innerlich bewegt. Was für ein Bild! Die ewige Liebe bleibt erschüttert stehen – vor dem, der eigentlich ihr Feind ist: ein schuldiger Sünder, dem das schreckliche Ende seines selbstgewählten Weges sicher ist und der nicht den geringsten Anspruch auf Erbarmen hat.
Und zögert der barmherzige Samariter? Steht er lange nachdenklich bei dem Verwundeten? Nein! Ihn sehen, innerlich bewegt sein und sofort handeln – das geschieht alles zugleich. Von Worten wird nichts berichtet – wohl aber von sieben Handlungen, also einer göttlich vollkommenen Fürsorge:
- Er geht zu ihm hin,
- verbindet seine Wunden,
- gießt Wein darauf,
- hebt ihn auf sein eigenes Tier,
- bringt ihn in die Herberge,
- sorgt dort für ihn,
- übergibt ihn am nächsten Morgen dem Wirt mit den Worten: „Trage Sorge für ihn; und was irgend du noch dazu verwenden wirst, werde ich dir bezahlen, wenn ich zurückkomme.“
Was für eine Liebe! Das ist göttliches Erbarmen, das alles Denken übersteigt. Auf dieser Grundlage ist uns ein ewiger Trost und eine gute Hoffnung geschenkt worden. Möge der Widerhall dieses Erbarmens in unseren Herzen und Leben immer deutlicher erklingen – zum Lob des kostbaren Namens Jesu!
(A us „Botschafter des Heils in Christo“, Jahrgang 1917; gekürzt und sprachlich überarbeitet)
Fußnoten: