Einleitende Gedanken
Die Kapitel 13 bis 17 bilden einen neuen Abschnitt in diesem Evangelium. Das Zeugnis des Herrn Jesus gegenüber den Juden und gegenüber der Welt hatte sein Ende gefunden. Vers 1 von Kapitel 13 zeigt wesentliche Dinge, die wie eine Überschrift über diesen Kapiteln stehen. Der Herr Jesus wusste, dass seine Stunde gekommen war, dass Er aus dieser Welt zu dem Vater hingehen sollte. Genau das ist das große Thema dieser Kapitel: Er würde seine Jünger verlassen, mit denen Er über drei Jahre zusammen gewesen war und für die Er gesorgt hatte, und zu seinem Vater zurückkehren. Diese Jünger werden mit dem schönen Begriff „die Seinen“ beschrieben; und Er würde sie zurücklassen, aber sein Herz ist weiterhin bei ihnen. So, wie Er sich um sie gekümmert hatte, als Er auf dieser Erde war, so würde Er sich vom Himmel aus um sie kümmern. Und das ist das Thema hier in Johannes 13. Dieses Kapitel ist ein Kapitel der Vorbereitungen auf die Mitteilungen, die der Herr den Jüngern dann in den folgenden Kapiteln vorstellt.
Diese Seinen sind jetzt der Gegenstand seiner Unterweisungen. Es sind gewissermaßen Abschiedsworte. Der Herr öffnet hier sein Herz und teilt den Jüngern wichtige Belehrungen mit für die Zeit, wo Er nicht mehr bei ihnen sein würde. Er bereitet seine Jünger, seine Vertrauten, auf seinen Weggang vor. Ganz am Anfang dieser Unterweisungen finden wir diese schöne und bewegende Aussage, dass Er diese Seinen liebt und bis ans Ende lieben würde. Wie weit man das Ende auch setzen würde, der Herr würde sie lieben; es ist kein Ende denkbar, an dem die Liebe des Herrn aufhören würde. Er liebt ununterbrochen, und Er liebt auch unaufhörlich. Das beschreibt nicht nur eine zeitliche Dimension seiner Liebe, sondern ist gleichzeitig auch eine Qualitätsbeschreibung.
Diese Liebe gegenüber den Seinen zeigt sich auch darin, dass der Herr Jesus auf ewig dienen wird. Jetzt ist Er im Himmel der Verherrlichte, und Er übt von dort einen Dienst an uns, den Seinen, aus. Die Fußwaschung ist ein markantes Bild dieses Dienstes. Es ist die erste große Vorbereitung der Jünger, damit sie dann auch wirklich auf die Gedanken eingehen können, die der Herr ihnen vorstellen möchte. Diese Handlung, die der Herr Jesus an den Jüngern vollzieht, hat eine symbolische Bedeutung. Er möchte nicht nur zeigen, wie man demütig dient, Er möchte uns auch nicht ermuntern, einander buchstäblich die Füße zu waschen, sondern Er verbindet damit einen Dienst, der in Verbindung mit den Verunreinigungen steht, die wir uns auf unserem Weg durch diese Welt zuziehen. Er wusste, dass die Jünger die geistliche Bedeutung dieses Dienstes jetzt noch nicht verstehen konnten, und doch war es Ihm außerordentlich wichtig, dass wir durch diese Reinigung teilhaben können mit Ihm an der heiligen Atmosphäre, in der Er sich als der verherrlichte Mensch jetzt befindet. Er macht deutlich, dass es nicht um das grundsätzliche Teilhaben an Ihm geht, sondern um das Teilhaben mit Ihm. Er unterscheidet die Fußwaschung von dem Vollbad, der moralischen Ganzreinigung, die wir bei unserer Bekehrung erlebt haben. Bei dieser Neugeburt sind wir aus Wasser und Geist geboren worden und haben neue Wünsche und neue Interessen bekommen, haben eine sittliche Reinigung erlebt. Jeder Gläubige, der erlöst ist durch das Blut des Herrn, hat dieses Teil an Ihm, aber Teil zu haben mit Ihm bedeutet, die praktische ungetrübte Gemeinschaft mit Ihm genießen zu können. Dazu darf nichts zwischen uns und Ihm stehen; und wenn da doch etwas hineingekommen ist, was uns befleckt hat, dann muss es weggenommen werden.
Darin dient der Herr Jesus jetzt auch vom Himmel aus; Er beugt sich auch jetzt herab, um den Seinen zu dienen, damit sie in praktischer Reinheit leben und die Gemeinschaft mit Ihm genießen können. Durch die Fußwaschung wendet Er das Wort Gottes durch die Wirksamkeit des Heiligen Geistes auf unser Herz und Gewissen an und reinigt uns dadurch von den Befleckungen unseres Weges durch diese Welt, damit wir in der Freude der Gemeinschaft mit Ihm leben.
Ab Vers 12 legt der Herr diesen Dienst in die Verantwortung der Jünger und damit auch in unsere Verantwortung. Er hatte ihnen als Lehrer ein Beispiel gegeben. Aber Er stellt sich jetzt auch als der Herr vor sie, der Autorität zum Gebieten hat, der in seiner Würde diesen niedrigen Dienst getan und sich mit dem Schmutz seiner Jünger befasst hat. Petrus hatte sich zu Recht gerade darüber gewundert. Aber genau in dieser Gesinnung sollen auch wir einander diesen Dienst tun – der Herr legt das mit Nachdruck auf die Herzen seiner Jünger. Sie und damit auch wir sind schuldig, einander die Füße zu waschen. Dabei wollen wir drei Gesichtspunkte aus dem Handeln des Herrn Jesus besonders als beispielhaft festhalten und in unserem Dienst praktizieren: Er tut diesen Dienst vom Himmel aus, Er tut diesen Dienst mit dem Wort Gottes, und Er tut diesen Dienst aus Liebe in Demut.
„Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ein Knecht ist nicht größer als sein Herr, noch ein Gesandter größer als der, der ihn gesandt hat“ (V. 16).
Der Herr steht hier vor uns als der Herr und der Lehrer. Vers 16 hat jetzt mehr mit der Seite zu tun, dass Er der Herr ist und wir die Knechte sind. In Vers 17 ist es dann mehr die Seite, dass Er der Lehrer ist, denn der Vers beginnt damit, dass die Jünger etwas wissen. Als der Lehrer hatte Er den Jüngern die Bedeutung dessen, was Er getan hatte, erklärt, so dass sie es jetzt wissen konnten.
Er setzt seine Belehrungen mit einem „Wahrlich, wahrlich“ fort. Er spricht zuerst von einem Knecht und dann von einem Gesandten. Wir alle sind Knechte unseres Herrn. Würden wir diesen Dienst der Liebe nicht tun wollen, so würden wir uns in dieser verweigernden Haltung über unseren Herrn stellen und damit sagen, dass wir größer sind als unser Herr. Er ist auch derjenige, der zu einem solchen Dienst sendet; das zeigt dann die Seite, dass wir denjenigen annehmen müssen, den der Herr uns zu einem solchen Dienst sendet.
Wenn wir diesen Dienst tun, müssen wir ihn so tun, wie Er ihn uns in den eben erwähnten drei Aspekten vorgelebt hat: Wir können ihn nur tun als solche, die einen himmlischen Charakter tragen, die geistlicherweise im Himmel leben. Denn wie wollte ich die Blicke dessen, an dem dieser Dienst geschieht, auf den Herrn richten, wenn ich nicht aus der Gegenwart des Herrn zu ihm komme? Und zweitens geht es nicht darum, dem Bruder oder der Schwester meine Gedanken oder Empfindungen vorzustellen, sondern dieser Dienst muss allein durch das Wasser des Wortes Gottes geschehen. Das macht bei mir eine gewisse Vorbereitung nötig, damit ich das Wort Gottes in der rechten Weise anwende und allein dadurch Hilfestellung gebe. Und drittens müssen wir uns die Frage stellen, ob wir diesen Dienst wirklich aus Liebe und in Demut tun. Achte ich darin den anderen höher als mich selbst, bin ich bereit, mich hinabzuneigen für diesen Dienst?
Dass ein solcher Dienst auch in der Öffentlichkeit stattfinden kann, ist sicher eine Ausnahme; aber in der Situation von Petrus und Paulus in Antiochien in Galater 2 war das nicht anders möglich. Und auch da sehen wir, dass Paulus dem Petrus das Wort Gottes vorgestellt hat, um ihn von seinem Irrweg zurückzubringen. Die Beziehung der beiden untereinander hatte dadurch nicht gelitten, das sehen wir aus 2. Petrus 3,15, weil dieser Dienst der Fußwaschung in der richtigen Art und Weise geschehen war.
„Wenn ihr dies wisst, glückselig seid ihr, wenn ihr es tut“ (V. 17).
Andererseits ermuntert der Herr aber auch seine Jünger. Offensichtlich wusste Er, dass wir uns mit diesem Dienst schwertun würden, deshalb nennt Er die glückselig, die diesen Dienst ausüben. Er stellt damit Segen in Aussicht, und zwar nicht nur für diejenigen, die diesen Dienst empfangen, sondern auch für diejenigen, die ihn ausüben. Die Glückseligkeit, die der Herr hier verheißt, liegt also nicht darin, zu wissen und zu verstehen, was dieser Dienst bedeutet, sondern darin, ihn mit geistlichem Verständnis auch wirklich in die Tat umzusetzen.
Diese Glückseligkeit verheißt der Herr auch nicht nur solchen, die den Dienst der Fußwaschung an anderen mit einem Gewinn oder Erfolg ausüben konnten. Die Glückseligkeit hängt nicht von dem Ergebnis bei dem anderen ab; sie hängt von der Haltung des Gehorsams dessen ab, der im Auftrag des Herrn zu diesem Dienst ausgeht. Im Gehorsam diese nicht leichten Schritte zu dem anderen zu gehen in dem Wissen, dass der Herr uns dazu benutzen möchte, gibt tiefen inneren Frieden und Glückseligkeit.
„Ich rede nicht von euch allen, ich weiß, welche ich auserwählt habe; aber damit die Schrift erfüllt würde: ‚Der mit mir das Brot isst, hat seine Ferse gegen mich erhoben‘“ (V. 18).
Hier haben wir nach der Fußwaschung eine zweite große Vorbereitung darin, dass der falsche Jünger entlarvt wird. Auch das musste geschehen, bevor der Herr den Seinen sein Herz öffnen konnte. Er hat die elf Jünger vor Augen, wenn Er jetzt diese Sache offenbar machen muss, und es liegt Ihm am Herzen, dass sie, die Ihm vertrauen, nicht erschüttert werden. Wir sehen in diesen Worten, dass das Motiv des Herrn, seinen Jüngern im Voraus diese traurige Tatsache mitzuteilen, auch wieder seine Liebe zu ihnen ist. Er sieht, dass die Jünger verunsichert werden könnten, wenn Er den Verräter im nächsten Abschnitt entlarven würde. In seiner Liebe lässt Er es nicht dazu kommen. Er versichert ihnen, dass Er weiß, welche Er auserwählt hat und dass Ihm dabei kein Fehler unterlaufen ist. Außerdem geschah das in Übereinstimmung mit den Schriften.
In diesen beiden Versen kommt der Herr auf eine dunkle Linie in diesem Kapitel zu sprechen, die Ihn tief beschäftigt und sehr geschmerzt hat. Es gibt wohl kein anderes Kapitel im Neuen Testament, in dem so viel von Judas Iskariot gesprochen wird.
- In Vers 2 hatten wir ihn in diesem auffallenden Kontrast zu der Liebe des Herrn Jesus gesehen. Der Teufel hatte es Judas schon ins Herz gegeben, den Herrn zu überliefern. Mehr als drei Jahre lang hatte der Herr ihn getragen und ertragen und bis zu diesen letzten Szenen nie etwas Negatives zu ihm oder über ihn gesagt, obwohl Er von Anfang an alles über ihn gewusst hatte. Dieser Judas sitzt jetzt bei den anderen elf Jüngern dabei – der Herr weiß es und Er wäscht allen, auch Judas, die Füße. Es ist fast unerklärlich, dass der Herr auch an diesem verdorbenen Mann diesen niedrigen Dienst tut. Wir können nicht alles an Judas bis ins Letzte verstehen und erklären. Er kann mit keinem anderen Menschen verglichen werden, außer mit dem Antichrist.
- In den Versen 10 und 11 finden wir dann die zweite Erwähnung von Judas in diesem Kapitel. Wenn der Herr davon spricht, dass nicht alle der Jünger rein seien, dann meint Er damit natürlich nicht die Reinheit durch die Fußwaschung, sondern die grundsätzliche Reinheit durch den Glauben bei der Wiedergeburt durch Wasser und Geist. In dieser Hinsicht war Judas nicht rein, nicht von neuem geboren. Und doch hat der Herr allen zwölf Jüngern die Füße gewaschen.
- In den Versen 18 und 19 haben wir dann die dritte Anspielung auf Judas. Der Herr wusste, welche Er auserwählt hatte. Bei dieser Auserwählung könnten wir an eine Auserwählung in einem doppelten Sinn denken. Zu dem Dienst auf der Erde hatte der Herr den Judas ohne jede Frage auch auserwählt (s. Joh 6,70), aber in Bezug auf den ewigen Aspekt war Judas Iskariot nicht auserwählt.
- Die vierte Erwähnung finden wir dann nach dem Zwischensatz von Vers 20 in Vers 21, wo Judas dann vor den Jüngern offenbar gemacht wird. Es ist bemerkenswert, dass sein Charakter, seine Handlungen, sein Wesen immer wieder eingeflochten werden in den Ablauf der Ereignisse in diesem Kapitel.
- In Vers 26 stellt der Herr ihn dann durch den Bissen von dem Passahmahl endgültig bloß.
Wie bewegend ist es, dass der Herr hier sagen muss: „Ich rede nicht von euch allen.“ Was Er den Jüngern in diesem Kapitel alles gesagt hatte, bezog sich nicht auf alle. Ist es nicht auch heute manchmal so, dass einem beim Verkündigen des Wortes Gottes der Gedanke durch das Herz geht, dass das gar nicht allen gilt, denen es vorgestellt wird? Wunderbare Segnungen, die vor allen entfaltet werden, gelten vielleicht gar nicht allen Zuhörern, weil vielleicht auch solche unter ihnen sind, die gar nicht wirklich glauben.
Einerseits zeigt uns dieses Kapitel die strahlende Linie der unaufhörlichen Liebe unseres Herrn, wie Er sich um die Seinen kümmert; und andererseits sehen wir diese dunkle Linie der traurigen Tatsache, dass einer seiner Vertrauten Ihn verraten würde! Es hat Ihn zutiefst erschüttert (s. V. 21). Er wusste es von Anfang an, und doch kam jetzt dieser Augenblick, wo Er Judas vor den Jüngern entlarvte, und da empfand Er eine tiefe Erschütterung darüber. Judas war die ganzen drei Jahre dabei gewesen und war doch kein echter Jünger. Welche Heuchelei finden wir bei ihm, der selbst auf dem Obersaal den Herrn noch fragt: „Ich bin es doch nicht, Rabbi“? (Mt 26,25). Erst nachdem Judas offenbar gemacht wurde und hinausgegangen war, konnte sich diese dunkle Wolke verziehen, und der Herr war frei, seinen Jüngern dann ab Vers 31 weitere vertraute Mitteilungen zu machen.
Der Herr möchte mit diesen Worten die Herzen der elf Jünger erreichen, damit sie durch das Offenbarmachen von Judas Iskariot nicht erschüttert werden in ihrem Vertrauen zu Ihm. Er hatte von Anfang an gewusst, dass unter ihnen einer war, der kein echter Jünger war. Der Ausdruck „ich weiß“ bedeutet nicht, dass der Herr Judas durch Beobachtung dieser schrecklichen Tat für fähig hielt, sondern es beschreibt ein inneres Wissen, das Er hat, weil Er Gott ist. Er musste Judas nicht erst beobachten oder seine Entwicklung bewerten, um zu diesem Wissen zu kommen. Als Gott, der Sohn, besaß Er dieses innere vollkommene Wissen. Und dadurch, dass das „ich“ auch noch besonders betont wird, macht Er klar, dass Er dadurch im Gegensatz zu all seinen Jüngern steht, die das so überhaupt nicht hätten erkennen können.
Auserwählung durch den Herrn
Wenn der Herr Jesus hier von der Auserwählung spricht, dann geht es dabei um eine Auserwählung für einen Dienst hier auf der Erde, und nicht um die Auserwählung für die Ewigkeit. Auch in Johannes 6,70 hatte der Herr davon gesprochen, dass Er die zwölf Jünger auserwählt hatte. Obwohl Judas Iskariot hier von Ihm als „Teufel“ bezeichnet wird, war er trotzdem auserwählt – allerdings nur für einen Dienst hier auf der Erde. Wir dürfen das nicht mit der ewigen Auserwählung Gottes vor Grundlegung der Welt vermischen (s. Eph 1,4; Kol 3,12; 2. Thes 2,13; 1. Pet 1,2 u. a.)! Wenn es um die Auserwählung in Christus geht für diese hohe Stellung und Segnung, die in die Ewigkeit hineinreicht, dann ist sie immer verbunden mit Gott, dem Vater. Aber hier ist der Herr Jesus derjenige, der auserwählt hat, und da geht es um Menschen, die Er für einen Dienst auf der Erde und für diese Erde auserwählt hat, rein irdisch und zeitlich.
Wenn es um Diener geht, die der verherrlichte Herr seiner Versammlung als Gaben gegeben hat, wird weniger von Auserwählung gesprochen. Bei dem Werfen des Loses über den Ersatz für Judas Iskariot ist noch von Erwählen die Rede (s. Apg 1,24). Aber später dann, wenn der verherrlichte Herr seiner Versammlung Gaben gibt, lesen wir z. B. im Fall von Paulus, dass er bestimmt wurde (s. Apg 26,16) oder in den Dienst gestellt wurde (s. 1. Tim 1,12).
Judas Iskariot
Judas Iskariot war eine außergewöhnliche und im negativen Sinn einzigartige Persönlichkeit. Er ist mit keinem Menschen in dieser Welt auch nur annähernd zu vergleichen, ausgenommen dem Antichrist. Auch dieser Mensch wird in der Zukunft öffentlich gegen den Herrn auftreten. Beide tragen die gleiche Bezeichnung in Gottes Wort: „Sohn des Verderbens“ (Joh 17,12; 2. Thes 2,3). Auch von dem Antichrist wird eine einzigartig negative Tatsache berichtet: Er wird zusammen mit dem Haupt des Römischen Reiches lebendig in den Feuersee geworfen werden (s. Off 19,20).
Die hier zitierte Stelle aus Psalm 41,10 bezieht sich in ihrem historischen Hintergrund ja auf David und Ahitophel. Aber Gott hatte die Lebensumstände Davids so angeordnet, dass sie in vielfacher Hinsicht auf die Person des Herrn Jesus hindeuten. Das gilt auch im Blick auf Judas und dessen Verrat an dem Herrn Jesus. Was Ahitophel damals in Bezug auf David getan hatte, ist ein Vorausbild dessen gewesen, was jetzt hier geschah. Da waren einerseits die Hasser, die sich Gedanken machten, wie sie David zu Fall bringen könnten und sich im Triumph darüber freuten, dass er liegen und nicht wieder aufstehen würde. Im Blick auf den Herrn Jesus hatten wir das in Johannes 11 gesehen, wo seine Hasser übereingekommen waren, dass es nützlich sei, wenn ein Mensch für das Volk sterben würde (s. Joh 11,50). Das waren die erklärten Feinde, seine Hasser, und von denen konnten solche Überlegungen erwartet werden. Aber dann kommt das Erschütternde, dass da einer ist, ein Vertrauter, der seine Ferse gegen den Freund erhebt, damit dieser zu Boden stürzt und daliegt. Wer würde erwarten, dass ein Freund so handelt? Was muss das damals für David gewesen sein, und vielmehr noch, was muss es für den Herrn Jesus im Blick auf Judas Iskariot gewesen sein!
In Matthäus 26,50 spricht der Herr Judas Iskariot mit den Worten an: „Freund, wozu bist du gekommen!“ Der Ausdruck, der hier mit „Freund“ übersetzt ist (hetairos), hat in der griechischen Sprache nicht diesen vertraulichen Klang einer inneren Beziehung, sondern bedeutet eher Genosse, Kamerad, Gefährte und beschreibt mehr einen äußeren Anhänger, einen Begleiter. Wenn der Herr aber später in Johannes 15,14.15 die elf Jünger seine Freunde nennt, dann gebraucht Er dort ein anderes griechisches Wort (philos), das mit Wertschätzung und Zuneigung zu tun hat.[1] Auffallend ist in diesem Zusammenhang auch, dass der Herr in seinem Zitat aus Psalm 41 gerade die Aussagen des ersten Teiles des Verses nicht wiedergibt, die von einer persönlichen Beziehung des Vertrauens sprechen. Diese gab es im Unterschied zu den übrigen Jüngern zwischen dem Herrn und Judas eben nicht.
Die Genauigkeit der Heiligen Schrift kann auch noch an einem anderen Detail gesehen werden. Der Herr sagt hier: „aber damit die Schrift erfüllt würde“; das bedeutet, dass sich in Judas und seinem Handeln die zitierte Stelle aus Psalm 41 absolut erfüllt hat. Es handelt sich nicht um eine Teilerfüllung oder um etwas, was sich erst zukünftig erfüllen wird, sondern es hat sich jetzt, zu diesem Zeitpunkt, erfüllt. Wenn Johannes über etwas schreibt, das nur eine Teilerfüllung hat, dann benutzt er eine andere Ausdrucksweise. Das sehen wir z. B. in einem Vergleich von Johannes 19,36 mit Vers 37: In Vers 36 („damit die Schrift erfüllt würde“) haben wir die direkte Erfüllung des alttestamentlichen Zitats, und in Vers 37 („wiederum sagt eine andere Schrift“) ist die zitierte Schriftstelle in Verbindung mit dem Geschehen an dem Kreuz erst zum Teil erfüllt, erst beim Kommen des Herrn in Macht und Herrlichkeit wird sie sich endgültig erfüllen (vgl. Off 1,7). Wie wunderbar genau ist doch das Wort Gottes!
Der Verrat des Judas war also deutlich im Alten Testament angekündigt worden. Auch in Psalm 55,13–15 spricht David geschichtlich von Ahitophel, und wir können den gleichen Hinweis auf die Tat von Judas Iskariot darin sehen. Ebenso bezieht sich die in Apostelgeschichte 1,20 aus Psalm 109,8 zitierte Stelle auch auf Judas Iskariot. Dreimal im Alten Testament wird also schon von ihm und seiner schrecklichen Tat gesprochen. Das könnte die Frage aufkommen lassen, wie weit er denn überhaupt für seine Handlung verantwortlich war, wenn seine Tat so konkret vorhergesagt war. Wir müssen festhalten, dass dadurch von der Verantwortung des Judas überhaupt nichts weggenommen wird. In Lukas 22,22 hatte der Herr Jesus gesagt: „Denn der Sohn des Menschen geht zwar dahin, wie es beschlossen ist; wehe aber jenem Menschen, durch den er überliefert wird!“ Der zweite Teil dieses Verses macht absolut klar, dass seine Verantwortung unbedingt bestehen bleibt.
Wenn in dem zitierten Psalm die „Ferse“ erwähnt wird, dann deutet das auch eine gewisse Hinterhältigkeit an. Aber wir denken auch daran, dass der Herr, wenn Er hier gerade diese Stelle zitiert, genau wusste, wo zum ersten Mal im Wort Gottes die „Ferse“ erwähnt wird (s. 1. Mo 3,15). In dieser Stelle geht es darum, dass Gott ankündigt, dass zwischen dem Samen der Frau und dem Samen der Schlange Feindschaft gesetzt würde, und dass Er der Schlange den Kopf zermalmen würde, der Same der Schlange aber Ihm die Ferse zermalmen würde. Judas würde seine Ferse erheben, um dazu beizutragen, dass dem Herrn Jesus gewissermaßen die Ferse zermalmt wird, dass Er sterben wird! Dieser Verrat war die Einleitung zu dem Tod des Herrn am Kreuz. Welche Empfindungen für seine Seele, wenn Er diesen Psalm jetzt zitiert!
„Von jetzt an sage ich es euch, ehe es geschieht, damit ihr, wenn es geschieht, glaubt, dass ich es bin“ (V. 19).
Wenn wir die Verse 18 und 19 nebeneinanderstellen, sehen wir den Herrn in Vers 18 als den treuen Diener, der im Gehorsam das Werk des Vaters tut. Alles sollte durch Ihn erfüllt werden. Aber in Vers 19 sehen wir Ihn als den ewigen, allwissenden Sohn Gottes, der die Zukunft kennt. In diesem Evangelium finden wir unseren Herrn immer wieder unter diesen beiden Aspekten: einerseits als den abhängigen und gehorsamen Menschen, der in allem das Werk des Vaters zu tun bereit war; und gleichzeitig als den über alles erhabenen Sohn Gottes, Gott selbst, der alles weiß und alles vermag.
Bis hierhin hatte keiner der Jünger sich darin hineinversetzt, was es für den Herrn bedeutete, dass Ihn einer der Jünger verraten würde. Erst in Vers 21 begannen sie, darüber nachzudenken. Wie einsam muss der Herr in seinen Empfindungen darüber gewesen sein. Selbst Petrus, der doch so viel gefragt und eingewendet hatte, hatte nicht nachgefragt, was der Herr mit seinen Worten gemeint hatte. Was muss es für ein Leiden für den Herrn gewesen sein, dass da einer war, der drei Jahre lang Tag für Tag seine Fürsorge und Zuwendung erlebt hatte und doch einfach kalt geblieben war. Es muss den Herrn sehr tief getroffen haben, dass die Härte und Bosheit eines menschlichen Herzens so furchtbar sein können, dass selbst die göttliche Zuwendung in Gnade bei diesem Mann nichts erreichen konnte.
Wenn sich dieser Verrat durch Judas verwirklichen würde, sollten die Jünger glauben, dass der Herr dieser „Ich bin“ ist. Es bewegt uns, dass der Herr in Johannes 18,1–11 bei dem tatsächlichen Verrat des Judas zweimal in dieser Szene mit genau diesen Worten: „Ich bin es“, vor die Schar der Soldaten und Hohenpriester und Pharisäer tritt (s. V. 5.8).
„Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer aufnimmt, wen irgend ich senden werde, nimmt mich auf; wer aber mich aufnimmt, nimmt den auf, der mich gesandt hat“ (V. 20).
Irgendwie unvermittelt kommen jetzt diese Worte des Herrn in Vers 20 zwischen der Ankündigung des Verrats und der tatsächlichen Enthüllung des Verräters vor uns, und sie werden sogar wieder mit dem charakteristischen „Wahrlich, wahrlich“ eingeleitet, was ihre besondere Wichtigkeit betont. Er hatte mit einem „Wahrlich, wahrlich“ in Vers 16 und 17 den ermuntert, der ausgeht zu einem Dienst der Fußwaschung, und jetzt ermuntert Er mit dem gleichen „Wahrlich, wahrlich“ den, der jetzt praktisch die Haustür aufmacht, um den Dienst der Fußwaschung zu empfangen.
Wir können in diesen Worten des Herrn also eine Rückbeziehung sehen zu dem Auftrag an die Jünger, einander die Füße zu waschen. Damit steht dann ein solcher Dienst in einer ganz erhabenen Beziehung. Derjenige, an dem ein Dienst der Fußwaschung geschieht, nimmt nicht nur den Bruder auf, der ihm diesen Dienst erweist, sondern dadurch auch den Herrn selbst, der diesen Bruder zu dem Dienst gesandt hat. Und mehr noch, sogar der Vater wird dadurch aufgenommen, der den Herrn Jesus gesandt hat.
Wollte der Herr mit diesen Worten nicht auch den elf Jüngern einen besonderen Trost aussprechen? Denken wir an ihre spätere Tätigkeit für ihren Herrn, z. B. in der Apostelgeschichte. Leicht hätten die Empfänger ihrer Botschaft wegen dieser Tat des Judas Zweifel an ihrer Berechtigung und Qualifikation für weitere Dienste für den Herrn haben und sie abfällig beurteilen können. Man hätte sie als unwürdig für weitere Dienste im Auftrag des Herrn missachten können. Aber der Herr sagt mit seinen Worten hier: Die Würdigkeit, ob jemand aufgenommen werden soll oder nicht, liegt nicht in der Person des Dieners, sondern in der Person dessen, der diesen Diener gesandt hat. Ein Diener ist aufzunehmen, weil sein Herr, der ihn gesandt hat, würdig ist.
Wir müssen dabei differenzieren zwischen der Person und der Lehre, die diese Person bringt. Der gleiche Schreiber dieses Evangeliums warnt nämlich in seinem zweiten Brief davor, solche aufzunehmen, die vortäuschen, im Namen des Herrn zu kommen und eine falsche Lehre bringen. Solche sollen nicht aufgenommen werden (s. 2. Joh 9–11).
Dadurch haben diese Worte aber sicher auch einen Bezug zu dem, was der Herr jetzt über Judas Iskariot andeutet. Die Jünger hätten im Blick auf Judas unsicher werden können, ob sie dabei selbst vielleicht etwas falsch gemacht hatten, weil sie Judas nicht erkannt hatten und mit ihm ausgegangen waren. Aber der Herr nimmt ihnen diese Sorge. Egal, wie die weitere Entwicklung dessen, den Er gesandt hatte, sein würde – wer ihn aufnahm, nahm den Herrn selbst auf. So war es ja tatsächlich auch bei Judas Iskariot geschehen, als der Herr Jesus in Matthäus 10 die zwölf Jünger ausgesandt hatte, um Kranke zu heilen, Tote aufzuerwecken, Aussätzige zu reinigen und Dämonen auszutreiben. Sie waren alle zwölf gleichermaßen von Ihm befähigt und bevollmächtigt worden, diese Dinge in seinem Namen zu tun.
Wir sehen bei Judas auch, dass eine religiöse Fassade oder Maskierung nicht dauerhaft Bestand haben kann. Bei manchen Menschen wird es noch während ihres Lebens offenbar, wie hier bei diesem Verräter. Bei anderen mag es so sein, wie es der Herr in Matthäus 7,22.23 sagt, dass sie in seinem Namen geweissagt und Dämonen ausgetrieben und viele Wunderwerke getan haben, und es doch erst in der Ewigkeit offenbar wird, dass der Herr sie niemals gekannt hat.
Fußnoten:
