„Kinder, noch eine kleine Zeit bin ich bei euch; ihr werdet mich suchen, und wie ich den Juden sagte: Wohin ich gehe, dahin könnt ihr nicht kommen, so sage ich jetzt auch euch“ (V. 33).
Der Herr Jesus wusste, dass die Erwartung der Jünger dahin ging, dass Er gekommen war, um auf dieser Erde sein Reich aufzurichten. Von dieser Erwartung wollte Er sie lösen und sie vorbereiten auf die Zeit, wo Er an das Kreuz und dann zurück in den Himmel gehen würde. Um ihre Herzen für das Bevorstehende zu gewinnen, beginnt Er deshalb seine Ausführungen mit diesem liebevollen Ausdruck „Kinder“, eigentlich im Griechischen sogar die Verkleinerungsform Kindlein, die eine besondere Zuneigung und Zartheit ausdrückt. Er ist sich dessen sehr wohl bewusst, was sein Weggehen für sie bedeuten würde.
Nur noch eine kleine Zeit würde der Herr bei seinen Jüngern sein. In diesen Reden bis Kapitel 16, in denen der Herr sie auf sein Weggehen vorbereitet, kommt dieser Ausdruck insgesamt neunmal vor (s. Joh 13,33; 14,19; 16,16 [2×]; 16,17 [2×]; 16,18; 16,19 [2×]). Nach dieser kleinen Zeit würde Er nicht mehr körperlich in ihrer Mitte als ihr Halt unter ihnen sein. Aber durch diese göttliche Liebe, in der sie untereinander und miteinander verbunden sind, bekommen sie diesen Halt, der nicht auf Angehörige eines einzelnen Volkes begrenzt ist, sondern der ganzen weltweiten Familie des Glaubens gilt.
Dieses „bei euch“ hatte Er exakt so auch zu den Juden gesagt (s. Joh 7,33), aber hier in Bezug auf die Jünger hat es doch einen ganz anderen Klang. Bei den Juden ist Er gewesen, ohne eine innere Beziehung zu ihnen zu haben. Aber bei seinen Jüngern ist Er doch nicht nur äußerlich gewesen, sie waren die Seinen, die Er liebte (s. V. 1). Deshalb auch diese zarte Anrede. Auch ist es schön, dass Er nicht sagt, dass Er nach einer kleinen Zeit von ihnen weggehen würde, sondern dass Er noch eine kleine Zeit bei ihnen sei. In Johannes 16 spricht Er dann auch ausdrücklich von seinem Weggehen, aber bis dahin stellt Er ihnen in den dazwischenliegenden Kapiteln auch jede erdenkliche Hilfsquelle und Trost für die Zeit seiner Abwesenheit vor. Hier ist Er noch ganz am Anfang seiner Belehrungen über die Zeit seiner Abwesenheit, deshalb drückt Er sich so zart aus: „Noch eine kleine Zeit bin ich bei euch.“
Die Jünger würden Ihn danach suchen, da es nicht zu ihren Vorstellungen gehörte, dass Er über das Kreuz zurück zu dem Vater gehen würde. Doch was der Herr den Juden in Johannes 7,34 und 8,21 schon gesagt hatte, das galt in diesem Augenblick auch noch für die Jünger. Ohne den Weg des Herrn Jesus über das Kreuz gibt es für keinen Menschen eine Möglichkeit, in den Himmel zu kommen. Und auch von sich selbst aus kann kein Mensch dorthin gelangen, der Herr Jesus muss selbst kommen, um erlöste Menschen dort einzuführen (s. Joh 14,3). Aber es gibt auch hier einen Unterschied zu dem, was Er in Johannes 7,34 den Juden gesagt hatte: Sie würden Ihn suchen und nicht finden. Diesen Nachsatz lässt der Herr hier bei den Jüngern weg. Das ist auffallend und auch sehr schön. Die Juden erwarteten einen Messias auf der Erde, und weil sie den Herrn Jesus so nicht akzeptieren wollten, suchten sie weiter und fanden Ihn nicht. Die Jünger hatten auch einen Messias auf der Erde erwartet, aber durch das Herabkommen des Heiligen Geistes ist ihnen dann doch deutlich geworden, wo der Herr Jesus hingegangen ist. Schon in seiner ersten großen Predigt in der Apostelgeschichte ist Petrus völlig klar über diesen Umstand (s. Apg 2,32–36). Sie hatten Ihn anfangs noch nach ihren früheren Vorstellungen als Messias gesucht (s. Mk 16,6; Lk 24,5), aber durch diese irdischen Beziehungen zu einem Messias konnten sie nicht zu dem Vater kommen. Dieses Suchen hatte jedoch schnell ein Ende genommen, als Er sich ihnen als seinen Brüdern offenbart hatte (s. Joh 20,17).
Frage: Ist es nur so zu verstehen, dass der Herr mit dem „wohin ich gehe“ das Ziel des Hauses des Vaters meint, oder ist darunter auch der Weg dorthin zu verstehen?
Antwort: Als der Herr den Juden diese Worte in Johannes 7 und 8 sagte, galt es diesen, weil sie noch im Unglauben waren. Damit macht der Herr deutlich, dass auf einem natürlichen Weg dieses Ziel des Hauses des Vaters niemals erreicht werden kann. Es gibt nur einen Weg zu dem Vater, und der ist der Herr Jesus selbst (s. Joh 14,6). Hier spricht Er zu den elf Jüngern, die Leben aus Gott hatten, die auch keine irdischen Erwartungen mehr haben sollten, sondern himmlische, nämlich das Haus des Vaters. Und warum konnten diese Jünger jetzt noch nicht zum Vater kommen? Weil die Stätte noch nicht bereitet war. Der Herr Jesus musste allein an das Kreuz gehen und allein als Mensch zu dem Vater gehen, denn nur dadurch würde die Stätte auch für andere Menschen bereitet werden. Dann wird der Herr nach Johannes 14,3 wiederkommen und uns zu sich in dieses Haus des Vaters nehmen. Hier in Vers 33 ist es also mehr das Ziel, das der Herr mit seinen Worten meint. In Vers 36 sagt der Herr diese Worte ja ein zweites Mal direkt zu Petrus. Da liegt der Schwerpunkt nicht auf dem Ziel, sondern auf dem Weg. Der Herr Jesus stand im Begriff, an das Kreuz zu gehen, und Er würde dort in das Gericht Gottes gehen, Er würde dort der Macht Satans begegnen; und auf diesem Weg durch den Sühnungstod zur Herrlichkeit konnte Petrus Ihm nicht folgen. Diesen Weg musste der Herr Jesus ganz allein gehen. Petrus würde Ihm später folgen. Wir wissen aus Johannes 21, dass Petrus durch den Märtyrertod gehen würde – auch ein Weg durch den Tod in die Herrlichkeit.
Ein gewisses Vorbild für diese Worte des Herrn haben wir in der Bundeslade beim Durchzug durch den Jordan in das verheißene Land. Zuerst musste nur die Bundeslade in diesen Fluss des Todes kommen, ganz allein. In diesem Sinn konnten auch die Jünger nicht dahin gehen, wohin der Herr Jesus gehen würde, an das Kreuz, in das Gericht und den Tod.
„Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr einander liebet, damit, wie ich euch geliebt habe, auch ihr einander liebet. Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt“ (V. 34.35).
Für die Zeit seiner Abwesenheit gibt der Herr jetzt seinen Jüngern dieses neue Gebot, einander zu lieben. Hatte Er ihnen in Vers 33 gesagt, was sie nicht konnten, so sagt Er ihnen nun, was sie sehr wohl können. Sie können einander lieben, so wie der Herr sie geliebt hatte. Wenn Er, an den sie sich bis dahin anlehnen konnten, körperlich nicht mehr bei ihnen sein konnte, sollten sie einander Stütze und Hilfe geben, indem sie einander lieben.
Warum nennt der Herr dieses Gebot ein neues Gebot? Weil wir diese Liebe nur in der Kraft des neuen Lebens zeigen können. Es ist ein Gebot ganz anderer Art, als Gott sie seinem irdischen Volk gegeben hatte. Der Maßstab im Alten Testament war: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (3. Mo 19,18; Mt 22,39). Diese Gebote alter Art richteten sich an eine durch die Sünde verdorbene Natur, das neue Gebot richtet sich an das neue Leben in dem Gläubigen. Johannes schreibt später in seinem ersten Brief darüber, und er nennt es dort erst ein altes Gebot deshalb, weil sie es damals, als der Herr bei ihnen war, von Ihm empfangen hatten; dann nennt er es ein neues Gebot, weil sie es nur durch den Besitz des neuen Lebens verwirklichen können. Das, was wahr ist in Ihm, ist jetzt auch wahr in den Gläubigen (s. 1. Joh 2,7.8). Die Kennzeichen dieses neuen Lebens sind zuerst Gehorsam (s. 1. Joh 2,3) und dann Bruderliebe (s. 1. Joh 2,10).
Es ist nicht eine Empfehlung des Herrn, sondern ein Gebot, eine Ermahnung mit Autorität; aber die Gebote des Herrn sind nicht schwer (s. 1. Joh 5,3). Wenn wir bedenken, dass der Herr dieses Gebot den Jüngern auf dem Obersaal kurz nach dem letzten Passahmahl und der Einsetzung des Gedächtnismahles gibt, dann zeigt uns das Lukasevangelium, mit welchen Gedanken die Jünger in diesen Augenblicken beschäftigt waren; nämlich, wer unter ihnen für den Größten zu halten sei (s. Lk 22,24 ff.). Hatte der Herr ihnen nicht in seinem ganzen Leben gezeigt, dass die Liebe zu dienen liebt, dass es ihr Wesen ist, sich unterzuordnen?
Wenn wir über dieses Gebot des Herrn, einander zu lieben, nachdenken, dann dürfen wir das nicht mit der Bruderliebe verwechseln, auch nicht mit einer freundlichen, netten Brüderlichkeit. Diese Liebe hier, die in dem Herrn Jesus seinen Jüngern gegenüber vollkommen ausgelebt und zur Anwendung gekommen ist, ist die göttliche Liebe. In der griechischen Sprache werden drei verschiedene Ausdrücke für Liebe verwendet: eros, philia und agape. Eros beschreibt dabei die rein fleischliche Liebe; philia beschreibt mehr eine wechselseitige Zuneigung aufgrund von Anziehung und Sympathie; und agape beschreibt eine Liebe, die liebt, ohne dass sie in dem Gegenstand der Liebe etwas Liebenswertes voraussetzt oder findet, sie liebt ohne Bedingung. Wenn von der Liebe Gottes gesprochen wird, wird immer agape benutzt (s. z. B. 1. Joh 4,7 ff.).
Diese Liebe ist immer in Einklang mit der Heiligkeit und Gerechtigkeit Gottes. Die göttliche Liebe kann nie in Widerspruch zu Gott selbst, der auch Licht ist, geraten, sondern sie unterstützt geradezu die göttliche Wahrheit und das göttliche Licht. Man hat manchmal den Eindruck, als würde unter Gläubigen eine gewisse Freundlichkeit mit der Liebe gleichgesetzt: Wenn einer dem anderen immer nette Worte sagt und man miteinander immer mit einem gewissen Maß an Höflichkeit oder Freundlichkeit umgeht, dann sei das diese göttliche Liebe. Das ist sie aber nicht. Auch in 2. Petrus 1,7 wird die Bruderliebe von der Liebe unterschieden, die Liebe ist das Ziel auch der Bruderliebe. Liebe ist das selbstlose Interesse oder sogar die selbstlose Hingabe zum Wohl anderer. Man vergisst sich selbst, indem man anderen zu ihrem Nutzen und Segen Gutes tun möchte.
Genau das hat der Herr getan, so haben wir das am Anfang dieses Kapitels gesehen. Der Maßstab der Liebe der Gläubigen untereinander ist die Qualität und die Reichweite der bedingungslosen Liebe des Herrn zu den Seinen. Dazu fordert der Herr die Jünger und damit auch uns hier auf. Diese Liebe ist nicht beschränkt auf einen Selbstzweck untereinander, sondern sie ist auch ein Zeugnis nach außen. Man würde durch diese Liebe, die die Jünger aneinander erweisen sollen, auch etwas von dem sehen, was der Herr durch sein Kommen auf diese Erde gebracht hatte.
Diese Liebe ist übrigens eine tätige Liebe. Wir sollen „nicht lieben mit Worten noch mit der Zunge, sondern in Tat und Wahrheit“ (1. Joh 3,18). Sie soll nicht nur viele ehrliche Worte haben, sondern sich auch in praktischer Hilfestellung erweisen; und schon gar nicht soll sie durch die Zunge etwas vortäuschen, obwohl im Herzen etwas anderes ist. Wie weit diese tätige Liebe zu gehen bereit sein soll, schreibt Johannes in 1. Johannes 3,16.17: buchstäblich bis zur Hingabe des eigenen Lebens für den Bruder. Diese Selbstaufgabe bis zum Hinlegen des eigenen Lebens hat unser Herr bewiesen. Das hat Er getan, um uns teilhaben lassen zu können an der unbeschreiblichen Herrlichkeit des Hauses seines Vaters!
Petrus schreibt von dieser Liebe, dass sie eine Menge von Sünden bedeckt (s. 1. Pet 4,8). Damit ist nicht gemeint, dass Liebe zu den Mitgeschwistern zu einer Toleranz gegenüber Bösem führt, sondern die Liebe deckt zu, indem sie durch das ausgewogene Vorstellen der ganzen Wahrheit selbst das Werkzeug wird, um das Böse gottgemäß zu ordnen und wegzunehmen – und zwar in dem kleinstmöglichen Kreis. Das ist der Dienst der Fußwaschung.
Diese Liebe wird also tätig in einem Rahmen, der unbedingt der göttlichen Heiligkeit entspricht. Aber sie ist aktiv, sie kann erkannt werden. Bis dahin waren die Jünger daran erkannt worden, dass sie mit Jesus gewesen waren (s. Apg 4,13). Aber jetzt würde Er nicht mehr sichtbar in ihrer Mitte sein. Jetzt würden sie durch etwas erkannt werden, was den Herrn in ihrer Mitte gekennzeichnet hatte. An dieser praktizierten Liebe würden alle Menschen, auch die Ungläubigen, erkennen, dass sie seine Jünger sind. Liebe untereinander hat einen Zeugnischarakter, es ist ein Erkennungsmerkmal, ein Markenzeichen. Übrigens nicht ein Erkennungsmerkmal dafür, dass wir zu seinen Kindern gehören oder seine Freunde sind, sondern dafür, dass wir seine Jünger sind. In Johannes 8,31 hatte der Herr zu den Juden gesagt: „Wenn ihr in meinem Wort bleibt, seid ihr wahrhaft meine Jünger.“ Dort ist das prägende Merkmal eines Jüngers Gehorsam, hier ist Liebe das prägende Merkmal eines Jüngers. Ein Jünger ist jemand, der von dem Herrn Jesus lernt, der Ihm folgt und der Ihm dient. Die Menschen erkennen uns als Jünger, die von ihrem Meister lernen, die Ihm folgen und Ihm dienen, wenn wir Liebe untereinander haben.
Grundsätzlich ist das bei uns der Fall, denn die neue Natur in uns kann gar nicht anders, als zu lieben. Aber ist das in der Praxis meines Lebens auch Wirklichkeit, dass ich innerhalb der Familie Gottes auch diese göttliche Liebe zu meinem Bruder oder meiner Schwester praktiziere? Müssen wir da nicht unser Zukurzkommen bekennen? Und wie sollen uns dann die Menschen erkennen können? Was ist unser Markenzeichen? Sind wir bekannt als solche, die sich ständig streiten oder sogar trennen? Haben wir nicht im Alltag unseres Glaubenslebens viel Streit und Uneinigkeit untereinander zu bekennen und zu beklagen? Ist das nicht leider auch schon manchmal zu einem gewissen Markenzeichen von uns geworden? Gewiss sind Trennungen nicht immer vermeidbar – keine Liebe ohne die Wahrheit –, aber müsste es uns nicht beschämen, wenn wir hauptsächlich als solche bekannt wären, die sich ständig trennen? Deshalb wollen wir uns noch einmal ganz bewusst in das Licht dieser Worte des Herrn stellen und uns fragen, was unser Markenzeichen heute ist, was uns prägt, woran wir zu erkennen sind! Tertullian soll einmal gesagt haben: „Christen erkennt man daran, dass sie einander lieben.“[1] Lasst uns aus dieser Betrachtung die Frage in unseren Alltag mitnehmen: Prägt uns wirklich diese aktive Liebe untereinander, die bereit ist, sich zu erniedrigen und dem anderen zu dienen?
Legen wir einmal die Betonung auf die beiden Wörter einander und untereinander. Das alte Gebot war, den Nächsten zu lieben wie sich selbst. Das neue Gebot ist, Liebe untereinander zu haben oder einander zu lieben. Da sind Menschen miteinander verbunden, die der Herr Jesus Kinder nennt. Der Nächste drückt doch mehr Distanz aus als der Ausdruck Kinder. Kinder sind untereinander verbunden, sie gehören zu einer Familie. Dieses neue Gebot richtet sich natürlich an jeden Einzelnen persönlich. Wir sollen einander nicht nur dann lieben, wenn wir selbst auch geliebt werden. Und doch beruht dieses neue Gebot auf Gegenseitigkeit, es ist keine Einbahnstraße.
In einer Zusammenstellung von verschiedenen besonderen Gesichtspunkten des Johannesevangeliums[2] wird auch von dem „Viereck der Liebe“ gesprochen. Dabei wird die obere Seite dieses Vierecks bezogen auf die ewige Liebe zwischen dem Vater und dem Sohn innerhalb der Gottheit (s. Joh 3,35; 5,20). Die beiden Seiten des Vierecks, die von oben nach unten verlaufen, werden bezogen auf die Liebe des Vaters zu den Glaubenden (s. Joh 17,23) und die Liebe des Herrn Jesus zu den Glaubenden (s. Joh 15,9). In beiden Fällen – oder um in diesem Bild zu bleiben, auf beiden Seiten dieses Vierecks – ist sowohl die Liebe des Vaters zu den Glaubenden als auch die Liebe des Herrn Jesus zu den Glaubenden von der gleichen Qualität und Art wie die Liebe zwischen dem Vater und dem Sohn. Das, was wir hier in Vers 34 vor uns haben, wird auf die untere Seite dieses Vierecks bezogen: Die Liebe von uns Glaubenden untereinander soll auch wieder von der gleichen Qualität und Art sein, wie der Herr Jesus uns geliebt hat. Bewegender Gedanke: Alle Beziehungen innerhalb der Familie des Glaubens sind von der gleichen Liebe geprägt. Welche Verantwortung legt das auf uns in unseren Beziehungen untereinander!
„Simon Petrus spricht zu ihm: Herr, wohin gehst du? Jesus antwortete ihm: Wohin ich gehe, dahin kannst du mir jetzt nicht folgen; du wirst mir aber später folgen“ (V. 36).
Petrus hat eine starke und aufrichtige Liebe zu dem Herrn Jesus, die ihn auch hier zu seiner Frage drängt. Aber bei Petrus ist noch zu viel Petrus, zu viel von sich selbst, zu viel Überzeugung von der Größe seiner Liebe wirksam. Er ist jetzt der Erste der Jünger, der die Worte des Herrn in diesen besonderen Kapiteln durch Fragen oder Bemerkungen unterbricht. Die weiteren Unterbrechungen kommen durch Thomas (s. Joh 14,5), Philippus (s. Joh 14,8) und Judas, nicht der Iskariot (s. Joh 14,22). Die Jünger offenbaren damit, dass sie die Ausführungen des Herrn nicht wirklich verstanden hatten, und sie sind sich nicht zu schade, Ihn darüber zu fragen.
Wieder geht es in der Antwort des Herrn um das Thema, wohin zu gehen Er im Begriff stand. Aber in diesen an Petrus gerichteten Worten kommt doch ein spezieller Fall zum Ausdruck. Er sagt zu ihm: „Du kannst mir jetzt nicht folgen, du wirst mir aber später folgen.“ Im Zusammenhang mit Johannes 21,18.19 verstehen wir, was Er andeutet: Petrus würde eine zweite Chance bekommen, Treue und Hingabe zu dem Herrn bis in den Tod zu beweisen. Er würde als Märtyrer in den Tod gehen.
Der Herr Jesus geht durch den Tod und die Auferstehung zu dem Vater. Auf diesem Weg kann Petrus Ihm jetzt nicht folgen, weil der Herr jetzt auf seinem Weg zurück zu dem Vater erst der Gewalt der Finsternis begegnet und dann am Kreuz in das Gericht Gottes geht. Diesen Weg musste der Herr allein gehen, so wie auch die Bundeslade allein in die Wasser des Todes gehen musste und das Volk Israel erst danach folgen konnte. Der Herr ist durch den Sühnungstod gegangen, um zu dem Vater gehen; Petrus würde durch den Märtyrertod gehen, um an dieses Ziel zu kommen.
Jakobus und Johannes ging es einmal bei einer anderen Gelegenheit um Ehre und Ansehen im Reich des Herrn. Der Herr hatte ihnen damals gesagt: „Ihr wisst nicht, um was ihr bittet. Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinke, oder mit der Taufe getauft werden, mit der ich getauft werde?“ Dabei dachte Er an seinen sühnenden Tod auf Golgatha, und die Jünger hätten eigentlich „nein“ antworten müssen, sie bejahten aber diese Frage des Herrn. Deshalb änderte Er dann die Bedeutung seiner Worte und bestätigte ihnen, dass sie den Kelch trinken würden, den Er trinken würde und mit der Taufe getauft werden würden, mit der Er getauft werden würde (s. Mk 10,35–40). Was diese beiden Jünger betraf, würde es um Leiden und Tod als Märtyrer gehen und nicht um den Aspekt der Sühnung, der allein auf den Herrn zutraf.
„Petrus spricht zu ihm: Herr, warum kann ich dir jetzt nicht folgen? Mein Leben will ich für dich lassen“ (V. 37).
Wenn der Herr so spricht, wäre es für Petrus angemessen gewesen, seine Worte in Demut und Gehorsam anzunehmen. Aber er fragt nach und untermauert seine Nachfrage mit einer sehr bedenklichen Aussage. Er dreht praktisch die Worte des Herrn aus Johannes 10,15 um. Hier ist ein Schaf, das sein Leben für den guten Hirten lassen will, aber niemals kann ein Mensch einen Sühnungstod für andere sterben. Petrus wird diesen Gedanken sicher auch nicht in seinem Herzen gehabt haben, denn von der ewigen Auswirkung des Sühnungstodes des Herrn hatten die Jünger damals noch gar nichts verstehen können. Erst als der Heilige Geist gekommen war, haben sie auch die Verse 31 und 32 verstehen können. Aber Petrus wollte sicher – in Verkennung seiner eigenen Kraft – zeigen, welchen Einsatz zu bringen er bereit war, wie stark seine Liebe zu dem Herrn Jesus war.
Petrus war aufrichtig. Aber wenn Gläubige auch aufrichtige Empfindungen haben, heißt das noch lange nicht, dass das, was sie empfinden, auch richtig ist und schon gar nicht, dass es in eigener Kraft vollbracht werden könnte. Dazu bedürfen wir einer gesunden selbstkritischen Haltung uns selbst gegenüber, die umso angemessener sein wird, je mehr wir uns in der Nähe unseres Herrn aufhalten – und eine Fehleinschätzung unseres Vermögens wird umso größer sein, je geringer der direkte Kontakt mit den Augen unseres Herrn ist. Kraft gibt es nur in Gemeinschaft mit dem Herrn! Das Fleisch nützt nichts (s. Joh 6,63).
Das große Problem bei Petrus war sein Ich. Es scheint, dass er nicht so sehr daran interessiert war, wo der Herr hingehen würde, sondern ihm schien es undenkbar, dass der Herr irgendwo hingehen würde, wo er, Petrus, nicht auch hinkommen könnte. Er konnte oder wollte diesen großen Abstand zwischen dem Herrn und sich nicht wahrhaben. Er wird hier in seiner Antwort anmaßend und bläht sich auf. Dadurch war er nicht empfänglich für die Belehrungen des Herrn über den Weg, auf dem die Jünger Ihm sehr wohl folgen konnten: den Weg der Liebe, den Er ihnen in den Versen 34 und 35 vorgestellt hatte. Diese Worte hatten anscheinend auf Petrus gar keinen Eindruck gemacht, denn er war in seinen Gedanken immer noch bei den Worten des Herrn aus Vers 33. Hätte er mehr auf die Aufforderung zur gegenseitigen Liebe geachtet und auf das Beispiel, das der Herr ihnen darin gegeben hatte, dann hätte er gewusst, dass die Liebe nicht das Ihre sucht, dass sie sich nicht aufbläht, dass sie nicht großtut (s. 1. Kor 13,4.5).
In Matthäus 16,21–23 meinte Petrus, er könne den Herrn belehren. Bei der Szene auf dem Berg der Verklärung meinte er, Mose und Elia auf eine Stufe mit dem Herrn stellen zu können (s. Mt 17,4; Mk 9,5; Lk 9,33). Und hier finden wir, dass er meint, er könne wie der Herr selbst sein Leben lassen. Das ist undenkbar für einen natürlichen Menschen, nur der Herr konnte sein Leben von sich selbst aus lassen (s. Joh 10,17.18). Petrus redet den Herrn Jesus hier auch als Herrn an, aber in seinen Worten wird deutlich, dass er die Worte des Herrn nicht für sich im Gehorsam annehmen will. Damit widerspricht er eigentlich dieser Anrede Herr. Ist es nicht auch bei uns schon einmal so, dass wir wohl die rechte Form und Ausdrucksweise unserem Herrn gegenüber benutzen, aber dass unser Leben und Verhalten zeigen, dass wir es damit gar nicht so genau nehmen?
„Jesus antwortet: Dein Leben willst du für mich lassen? Wahrlich, wahrlich, ich sage dir, der Hahn wird nicht krähen, bis du mich dreimal verleugnet hast“ (V. 38).
Mit der Wiederholung der Worte von Petrus möchte der Herr dessen Gewissen erreichen. Und dann muss Er ihm deutlich vorstellen, was noch vor Ablauf dieser Nacht durch ihn geschehen würde. Er leitet diese Worte wieder mit dem so nachdrücklichen „Wahrlich, wahrlich“ ein und sagt ihm dann, dass er nicht nur darin versagen würde, Ihm zu folgen und zu sterben, sondern dass er sogar auf eine äußerst demütigende Weise zu Fall kommen würde: Petrus würde seinen Herrn nicht nur einmal, nicht nur zweimal, sondern sogar dreimal verleugnen. Er würde mehrfach beteuern, nichts mit dem Herrn Jesus zu tun zu haben.
Nicht eine große Machtentfaltung des Teufels würde nötig sein, um Petrus zu Fall zu bringen, sondern die Begegnung mit einer einfachen Frau im Hof des Hohenpriesters würde genügen, ihm zu offenbaren, wie schwach er ist, wenn er nicht nahe bei seinem Herrn ist. Dadurch würde sein großes Selbstbewusstsein empfindlich getroffen werden. Deshalb betete der Herr für Petrus, damit sein Glaube durch diesen Fall nicht aufhören sollte (s. Lk 22,32). Wir kennen aus verschiedenen anderen Stellen die einzelnen Schritte des Herrn mit Petrus zu seiner persönlichen und öffentlichen Wiederherstellung (s. Lk 24,34; 1. Kor 15,5; Joh 21,15–19), und aus dem Ende seines zweiten Briefes können wir entnehmen, dass er aus seinem eigenen Fallen aus einer vermeintlichen Festigkeit gelernt hatte, sodass er dann allen Glaubenden diese Warnung zurufen konnte: „Hütet euch, dass ihr nicht ... aus eurer eigenen Festigkeit fallt.“ Dann zeigt er gleichzeitig auf, worin allein Sicherheit und Stabilität zu finden ist: „Wachst aber in der Gnade und Erkenntnis unseres Herrn und Heilandes Jesus Christus“ (2. Pet 3,17.18).
Bleibt Petrus durch diese Worte des Herrn ohne Perspektive? Sie stellen sicher einen scharfen Verweis dar; aber die Liebe, Gnade und Geduld mit ihm wird darin deutlich, dass der Herr seine Ankündigung des Märtyrertodes von Petrus aus Vers 36 hier nicht zurücknimmt. Er hatte Petrus vorher diesen Weg verheißen, und jetzt muss Petrus lernen, dass er zuvor durch ein tiefes Versagen gehen würde. Obwohl wir heute viel mehr besitzen als Petrus hier in dieser Szene, versagen wir doch oft genug ebenso schmählich. Wir haben überhaupt keine Veranlassung, uns irgendwie über Petrus zu stellen! Lernen wir doch daraus, uns immer möglichst nahe bei unserem Herrn aufzuhalten.
Auch diese warnenden Worte an Petrus sind ein Beweis der Liebe des Herrn bis ans Ende (s. V. 1) – auch in Bezug auf Petrus. Die Liebe des Herrn zieht sich vom ersten bis zum letzten Vers wie ein roter Faden durch dieses ganze Kapitel. Sie ruhte nicht, bis sein niedriger Dienst der Fußwaschung an den Jüngern geschehen war, bis alles Verunreinigende abgewaschen war, sie ruht auch heute nicht, bis alles Hindernde für die Gemeinschaft mit dem Herrn bei uns beseitigt ist. Diese Liebe bis ans Ende sieht voraus, was die Jünger empfinden würden, wenn ihnen klar würde, dass einer von ihnen den Herrn verraten würde; deshalb bereitet Er sie in dieser Liebe darauf vor. Diese Liebe bis ans Ende wird nicht ruhen, bis ein Werk vollbracht ist, das Gott vollkommen verherrlicht und Ihn in allen seinen Wesenszügen sichtbar gemacht hat. Diese Liebe bis ans Ende ruht auch nicht, bis Petrus völlig wiederhergestellt ist.
Und wenn wir an uns denken? Wir werden Ihm auch später einmal folgen, wie Er es Petrus hier verheißen hat. Was den Sühnungstod betrifft, können und werden wir Ihm darin nicht folgen, was einen Märtyrertod betrifft, werden wir ihn wohl kaum erleiden müssen, aber folgen werden wir Ihm alle dahin, wo Er jetzt ist. Seine Liebe bis ans Ende wird auch nicht ruhen, bis sie uns alle an diesen Platz gebracht hat, wo Er selbst jetzt schon ist!
Fußnoten:
- Tertullian (ca. 160–220 n. Chr.), frühchristlicher Theologe; er stellte sich Heiden vor, die Christen ansahen und sagten: „Seht ... wie sie einander lieben (denn sie selbst hassen einander); und wie sie bereit sind, füreinander zu sterben (denn sie selbst sind eher bereit, sich gegenseitig zu töten).“ {zitiert nach: https://christianhistoryinstitute.org/magazine/article/see-how-these-christians-love].
- August van Ryn: „Gedanken über das Johannesevangelium“ auf www.bibelkommentare.de.
