Das Geheimnis von Psalm 23
Tag und Nacht unter freiem Himmel sein. Keine festen Wände, kein Dach über dem Kopf. Nur du und die Natur. Du wanderst in der Hitze des Tages und erlebst die Kälte der Nacht mit einem kleinen Lagerfeuer. Und dann ist da noch die Herde Schafe, die du versorgen und beschützen musst. Willkommen im Leben eines Hirten vor 3000 Jahren!
David kannte dieses Leben. Als jüngster von acht Söhnen war er derjenige, der die Schafe der Familie hüten musste. Während seine älteren Brüder wichtigere Aufgaben übernahmen (zum Beispiel als Kämpfer in Sauls Heer[1]), verbrachte David seine Tage und Nächte in der Einsamkeit der Weidelandschaft.
Doch genau diese Zeit prägte ihn. Und aus diesen Erfahrungen entstand einer der berühmtesten Texte der Weltliteratur: der Psalm 23.
Wie Hirten in der Antike arbeiteten
Der Alltag eines Hirten
Hirte zu sein, war kein gemütlicher Beruf. Es war eine harte und gefährliche Aufgabe, die viel Aufmerksamkeit und Mut verlangte. Schauen wir uns an, was ein Hirte damals alles tun musste:
Morgens
Der Hirte führte seine Schafe aus dem sicheren Pferch hinaus auf die Weide. Er kannte die besten Plätze in der Umgebung – grüne Wiesen zum Fressen und ruhige Wasserstellen zum Trinken. Schafe sind vorsichtig: Sie trinken nicht gern aus stark fließenden Bächen, weil sie leicht ausrutschen könnten. Deshalb suchte der Hirte stille Quellen oder langsam fließendes Wasser.
Tagsüber
Der Hirte ging seiner Herde voraus. Die Schafe kannten seine Stimme und folgten ihm. Er achtete auf gute Wege, prüfte gefährliche Stellen und half verletzten Tieren. Manchmal bestrich er kleine Wunden mit Öl, das heilend und beruhigend wirkte. Zwei Werkzeuge gehörten zu seiner Ausrüstung:
- Der Stab – ein langer Stock mit gebogenem Ende, mit dem er Schafe zurückholen konnte, wenn sie sich in Gefahr begaben.
- Der Stecken – ein kräftiger Knüppel, den er zur Abwehr von wilden Tieren brauchte.
Nachts
Wenn die Dämmerung kam, musste der Hirte besonders wachsam sein. Das „Tal des Todesschattens“ war keine Metapher – es gibt in Israel und Umgebung tatsächlich viele enge Schluchten („Wadis“), die gefährlich sind: mit steilen Abhängen, plötzlichen Sturzfluten und schlechter Sicht. Dort lauerten Wölfe, Bären oder Löwen. David selbst schreibt später, dass er als Hirte einen Löwen und einen Bären getötet hatte, um seine Schafe zu retten (1. Sam 17,34–36).
Das Besondere: Ein Hirte kannte jedes einzelne seiner Schafe persönlich. Er gab ihnen Namen. Er wusste, welches Schaf besonders ängstlich war, welches gerne vorne lief, welches öfter verletzt war. Die Beziehung zwischen Hirte und Schaf war intensiv und persönlich.
Das literarische Meisterwerk
Psalm 23 ist nicht nur inhaltlich schön zu lesen – er ist auch ein sprachliches Kunstwerk. David konstruierte diesen Psalm unter der Leitung des Heiligen Geistes so präzise, dass jedes Wort zählt. Buchstäblich.
Die Zahl 55: Vollständigkeit
Im hebräischen Original (Masoretischer Text) hat Psalm 23 insgesamt 55 Wörter. Das ist bestimmt kein Zufall, wie wir gleich sehen werden. Die Zahl 55 ist die Summe aller Zahlen von 1 bis 10:
1 + 2 + 3 + 4 + 5 + 6 + 7 + 8 + 9 + 10 = 55
In der Bibel symbolisiert die Zahl 10 die vollständige Menge, das Ganze, z.B. die zehn Plagen, die Zehn Gebote, die zehn Jungfrauen im Gleichnis. David sagt uns damit: In diesem Psalm findest du alles, was du brauchst. Die ganze Fülle von Gottes Fürsorge ist hier zusammengefasst.
Die drei Worte in der Mitte: „Du bei mir“
Wenn du die 55 Wörter des hebräischen Originaltexts zählst, dann stehen genau in der Mitte – bei Wort 27, 28 und 29 – die drei Worte:
כִּי־אַתָּה עִמָּדִי (ki attah immadi): „Du bei mir.“ Auf Deutsch übersetzen wir: „Denn du bist bei mir“ (Ps 23,4).
Das ist das Herz des Psalms, die zentrale Botschaft dieses Liedes. Alles im Psalm kreist um diese drei Worte. Sie bilden das Zentrum, das Fundament, die Hauptaussage. Sie sind wie ein Wendepunkt: Bis hierhin redet David über Gott („Er weidet mich“), ab Vers 4 redet er zu Gott („Du bist bei mir“), wobei als das 28. Wort im Zentrum dieses Psalms „Du” steht als eine persönliche und direkte Beziehung zu dem guten Hirten.
Die versteckte Zahl 26: Der Name Gottes
Durch die drei Worte „du bei mir“ wird der Psalm in zwei Hälften geteilt. Jede Hälfte besteht aus 26 Wörtern. Das erscheint auf den ersten Blick zunächst logisch, das ist einfache Mathematik. Aber warum gerade 26? Dafür müssen wir einen zweiten Blick auf diese Zahl werfen.
Der Zahlenwert
Im hebräischen Alphabet hat jeder Buchstabe einen festen Zahlenwert. Dieses System nennt man Gematria.
Grundsystem:
- א (Aleph) = 1
- ב (Bet) = 2
- ג (Gimel) = 3
- ... bis י (Jod) = 10
- כ (Kaf) = 20, ל (Lamed) = 30... bis ק (Kof) = 100
- ר (Resch) = 200, ש (Schin) = 300, ת (Taw) = 400
Der Name Gottes – JHWH (oft als „Jahwe“ oder „HERR“ wiedergegeben) – besteht aus vier Buchstaben:
- J (Jod) = 10
- H (He) = 5
- W (Waw) = 6
- H (He) = 5
10 + 5 + 6 + 5 = 26
Die Zahl 26 ist also der Zahlenwert des Gottesnamens JHWH. David hat zweimal den Wert 26 in seinen Psalm eingebaut – einmal vor der Mitte, einmal nach der Mitte.
Das bedeutet: JHWH geht dir voran (erste Hälfte, 26 Wörter) und JHWH stärkt dir den Rücken (zweite Hälfte, 26 Wörter). Gott umgibt dich von allen Seiten!
Schau dir nochmal den Psalm an:
- Der HERR ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.
- Er lagert mich auf grünen Auen, er führt mich zu stillen Wassern.
- Er erquickt meine Seele, er leitet mich in Pfaden der Gerechtigkeit um seines Namens willen.
- Auch wenn ich wanderte im Tal des Todesschattens, fürchte ich nichts Übles, denn du bist bei mir; dein Stecken und dein Stab, sie trösten mich.
- Du bereitest vor mir einen Tisch angesichts meiner Feinde; du hast mein Haupt mit Öl gesalbt, mein Becher fließt über.
- Nur Güte und Huld werden mir folgen alle Tage meines Lebens; und ich werde wohnen im Haus des HERRN immerdar.
Der Psalm beginnt buchstäblich mit „Der HERR (JHWH) ist mein Hirte“ und endet mit „im Haus des HERRN (JHWH)“. Von Anfang bis Ende ist Gottes Name präsent.
Die Botschaft für dein Leben
David listet in diesem kurzen Psalm 23 verschiedene Aspekte auf, wie Gott für uns sorgt:[2]
-
Beziehung: „Der HERR ist mein Hirte“ – Es geht nicht um Religion, sondern um Beziehung.
-
Fürsorge: „Mir wird nichts mangeln“ – Gott kennt deine Bedürfnisse.
-
Ruhe: „Er lagert mich auf grünen Auen“ – Gott schenkt dir Entspannung.
-
Erfrischung: „Er führt mich zu stillen Wassern“ – Gott belebt deinen Geist neu.
-
Heilung: „Er erquickt meine Seele“ – Gott heilt seelische Wunden.
-
Leitung: „Er leitet mich in Pfaden der Gerechtigkeit“ – Gott zeigt dir den richtigen Weg.
-
Motivation: „Um seines Namens willen“ – Es geht um Gottes Ehre, nicht deine Leistung.
-
Erprobung: „Auch wenn ich wanderte im Tal des Todesschattens“ – Schwierige Zeiten gehören dazu.
-
Schutz: „Fürchte ich nichts Übles“ – keine Angst, auch nicht im Dunkeln.
-
Treue: „Denn du bist bei mir“ – Das Herzstück: Gottes Gegenwart.
-
Erziehung: „Dein Stecken und dein Stab, sie trösten mich“ – Manchmal korrigiert Gott auch.
-
Gemeinschaft: „Du bereitest vor mir einen Tisch“ – Mitten in der Bedrohung lädt Gott dich ein.
-
Salbung: „Du hast mein Haupt mit Öl gesalbt“ – Gott heilt und ehrt dich.
-
Fülle: „Mein Becher fließt über“ – Mehr als genug!
-
Segen: „Nur Güte und Huld werden mir folgen“ – Gutes folgt dir.
-
Hoffnung: „Ich werde wohnen im Haus des HERRN“ – Eine ewige Perspektive.
-
Ewigkeit: „Auf immerdar“ – Diese Beziehung endet nie!
Was Menschen von Schafen unterscheidet
Schafe sind nicht besonders intelligent. Sie folgen blind, verirren sich leicht, geraten in Panik und sind wehrlos gegen Feinde. Ohne Hirten haben sie keine Chance. Menschen dagegen sind anders. Gott hat uns einen Verstand, einen Willen und die Fähigkeit gegeben, zu entscheiden. Und genau da liegt die Herausforderung:
- Schafe haben keine Wahl – sie müssen dem Hirten folgen.
- Du hast die Wahl – du kannst dem Hirten folgen.
Psalm 23 beginnt mit: „Der HERR ist mein Hirte.“ Nicht „könnte sein“ oder „sollte sein“, sondern ist. Das ist eine Entscheidung. David sagt: „Ich habe mich entschieden, diesem Hirten zu vertrauen.“
Deine Herausforderung: Lebe den Psalm 23
Dieser Psalm ist keine schöne Theorie. Er ist eine Lebensweise. David hat das, was er hier beschreibt, wirklich erlebt – in den einsamen Nächten als Hirte, auf der Flucht vor König Saul, im Krieg, in Zeiten der Trauer.
Die Frage ist: Machst du den HERRN zu deinem Hirten?
Das bedeutet konkret:
1. Triff die Entscheidung
Sag bewusst: „Der HERR ist mein Hirte.“ Nicht der Hirte von anderen, nicht irgendein Hirte – mein Hirte. Das ist eine persönliche Beziehung.
2. Vertraue ihm täglich
Vertrauen heißt nicht, alles zu verstehen. Schafe verstehen auch nicht, warum der Hirte sie durch dunkle Täler führt. Aber sie kennen die Stimme ihres Hirten und folgen ihm.
Wo führt Gott dich gerade hin? Vielleicht verstehst du es nicht. Vielleicht sieht der Weg dunkel aus. Aber er kennt den Weg. Vertrau ihm.
3. Lerne, seine Stimme zu erkennen
Jesus sagte: „Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie, und sie folgen mir“ (Joh 10,27). Wie hörst du seine Stimme?
- Durch die Bibel (sein geschriebenes Wort)
- Durch Gebet (direktes Gespräch mit ihm)
- Durch andere Christen (Gemeinschaft)
- Durch den Heiligen Geist (das innere Empfinden)
4. Bleib in seiner Nähe
„Du bist bei mir“ – das ist keine Einbahnstraße. Gott ist bei dir, aber bleibst du auch bei ihm? Oder läufst du ständig weg, versuchst dein eigenes Ding zu machen, verlierst dich in Ablenkungen?
Die drei wichtigsten Worte des Psalms sind „du bei mir“. Bleib in seiner Nähe. Das geschieht nicht automatisch. Das ist eine tägliche Entscheidung.
5. Schreib deinen eigenen Psalm 23
Nimm dir Zeit und schreib auf, wo du Gott als deinen Hirten erlebt hast:
- Wann hat er dich auf „grüne Auen“ geführt – dir Ruhe geschenkt?
- Wann hat er deine Seele „erquickt“ – dich innerlich geheilt?
- Durch welche „Täler des Todesschattens“ musst du gerade gehen?
- Wo bereitet er dir einen „Tisch angesichts deiner Feinde“?
- Womit hat er deinen „Becher zum Überfließen“ gebracht?
Schreib es auf. Danke im Gebet dafür. Mach es zu deinem persönlichen Zeugnis.
Der HERR ist dein Hirte. Nicht irgendein Hirte. Nicht einer von vielen. Dein Hirte.
Er kennt dich beim Namen. Er geht dir voran. Er stärkt dir den Rücken. Und er ist bei dir – immer.
Die Frage ist nur: Folgst du ihm?
„Auch wenn ich wanderte im Tal des Todesschattens, fürchte ich nichts Übles, denn du bist bei mir“ (Ps 23,4).
Bonus für Schriftgelehrte
Psalm 23 (Masoretischer Text, hebräisch mit Wortzählung)[3]
Vers 1
1 יְהוָה (Der HERR)
2 רֹעִי (ist mein Hirte)
3 לֹא (nicht)
4 אֶחְסָר (werde ich Mangel haben)
Vers 2
5 בִּנְאוֹת (auf Weideplätzen)
6 דֶּשֶׁא (des Grases)
7 יַרְבִּיצֵנִי (lässt er mich lagern)
8 עַל (an)
9 מֵי (Wasser)
10 מְנֻחוֹת (der Ruhe)
11 יְנַהֲלֵנִי (führt er mich)
Vers 3
12 נַפְשִׁי (meine Seele)
13 יְשׁוֹבֵב (stellt er wieder her)
14 יַנְחֵנִי (führt er mich)
15 בְּמַעְגְּלֵי (auf Pfaden)
16 צֶדֶק (der Gerechtigkeit)
17 לְמַעַן (um … willen)
18 שְׁמוֹ (seines Namens)
Vers 4
19 גַּם (auch)
20 כִּי (wenn)
21 אֵלֵךְ (ich gehe)
22 בְּגֵיא (durch das Tal)
23 צַלְמָוֶת (des Todesschattens)
24 לֹא (nicht)
25 אִירָא (fürchte ich)
26 רָע (Unheil)
27 כִּי (denn)
28 אַתָּה (du)
29 עִמָּדִי (bist bei mir)
30 שִׁבְטְךָ (dein Stecken)
31 וּמִשְׁעַנְתֶּךָ (und dein Stab)
32 הֵמָּה (sie)
33 יְנַחֲמֻנִי (trösten mich)
Vers 5
34 תַּעֲרֹךְ (bereitest)
35 לְפָנַי (vor mir)
36 שֻׁלְחָן (einen Tisch)
37 נֶגֶד (angesichts)
38 צֹרְרָי (meiner Feinde)
39 דִּשַּׁנְתָּ (du salbst, machst fett)
40 בַשֶּׁמֶן (mit Öl)
41 רֹאשִׁי (mein Haupt)
42 כּוֹסִי (mein Becher)
43 רְוָיָה (ist übervoll)
Vers 6
44 אַךְ (nur)
45 טוֹב (Gutes)
46 וָחֶסֶד (und Gnade)
47 יִרְדְּפוּנִי (werden mir folgen)
48 כָּל (alle)
49 יְמֵי (Tage)
50 חַיַּי (meines Lebens)
51 וְשַׁבְתִּי (und ich werde wohnen)
52 בְּבֵית (im Haus)
53 יְהוָה (des HERRN)
54 לְאֹרֶךְ (für Länge)
55 יָמִים (der Tage)
Möchtest du die hebräischen Buchstaben lernen? Dann wäre diese Adresse ein guter Einstieg:
https://vokabeln.ozarmillim.de/
https://bible-zoom.de/wp-content/uploads/2021/09/Alefbet.pdf
Fußnoten:
- 1. Samuel 17,12–15: David nun war der Sohn jenes Ephratiters von Bethlehem-Juda, dessen Name Isai war und der acht Söhne hatte; und der Mann war in den Tagen Sauls alt, im Alter vorgerückt unter den Männern. Und die drei ältesten Söhne Isais waren hingegangen, sie waren Saul nachgefolgt zum Kampf; und die Namen seiner drei Söhne, die in den Kampf zogen, waren: Eliab, der Erstgeborene, und der Zweite: Abinadab, und der Dritte: Schamma. Und David war der Jüngste, und die drei Ältesten waren Saul nachgefolgt. David aber ging hin und kam wieder zurück von Saul, um das Kleinvieh seines Vaters in Bethlehem zu weiden.
- Daniel Melui: „Der gute Hirte ist bei mir”.
- https://biblehub.com/interlinear/psalms/23.htm.
