Römer 7 ist hauptsächlich ein Kapitel der Erfahrungen, und dennoch beschäftigen sich die ersten sechs Verse mit einer lehrmäßigen Darstellung der Bedeutung des Todes Christi für den Gläubigen in Bezug auf das Gesetz. Besonders in Vers 4 wird dies beschrieben.

Vers 1 erinnert uns daran, dass der Tod die Herrschaft des Gesetzes beendet, er ist sozusagen die Landesgrenze des Herrschaftsgebietes des Gesetzes. Die Verse 2 und 3 veranschaulichen die Wirksamkeit dieses Prinzips, indem sie zeigen, wie es sich in der Beziehung von Mann und Frau auswirkt. Vers 4 zeigt uns, wie der Geist Gottes vor unseren Herzen dieses Prinzip auf den Tod Christi anwendet. Der Gläubige ist im Tod Christi dem Gesetz gestorben. Seine Geschichte, als Sklave des Gesetzes, wurde dort gerichtlich beendet.

Wir sagen gerichtlich beendet, um es zu unterscheiden von dem tatsächlichen oder dem individuell wahrgenommenen Ende – aber vielleicht ist folgende Illustration hilfreich:

Stellen wir uns vor, eine große Streitsache käme vor Gericht. Es dreht sich um die Gültigkeit einer testamentarischen Übertragung eines umfangreichen Grundbesitzes, und das Ergebnis ist ein gerichtlicher Entscheid, der dem derzeitigen Eigentümer des Gutes das Eigentumsrecht abspricht und es dem Kläger zubilligt. Damit ist das Verfügungsrecht des vorherigen Eigentümers sofort gerichtlich beendet. Einige Tage bewohnt er jedoch noch das angestammte Gutshaus, bis er schließlich mit Sack und Pack ausziehen muss und der neue Eigentümer unter den Glückwünschen seiner Diener und Gefolgsleute einzieht. Das Verfügungsrecht des vorherigen Eigentümers über den Grundbesitz ist jetzt tatsächlich beendet. Doch es gibt immer noch viel zu tun. Viele Angestellte und Verwalter und eine Menge Unterlagen müssen übertragen und manche Einzelheiten geregelt werden. Nach einigen Monaten ist der letzte offene Punkt geklärt. Die ganze Übertragung mit allen ihren Konsequenzen ist abgeschlossen. Jetzt ist das Verfügungsrecht des vorherigen Eigentümers über den Grundbesitz auch der individuellen Wahrnehmung nach beendet.

Die Illustration ist wie immer unvollkommen, aber sie hilft bei der Unterscheidung zwischen dem, was gerichtlich am Kreuz vollkommen vollbracht ist, und dem, was tatsächlich erlangt wird bei der Bekehrung, und dem was in der individuellen Wahrnehmung des Gläubigen gelernt und anerkannt wird. Letzteres ist nicht etwas, das ein für alle Mal geschieht, sondern etwas, das Schritt für Schritt, „hier ein wenig, da ein wenig“, unter der Leitung des Geistes Gottes verwirklicht werden muss.

In Vers 4 wird also das Gesetz als der alte Ehemann betrachtet. Bis Christus kam, wandte sich der gläubige Jude an das Gesetz, um die nötige Ausrichtung und den nötigen Rat zu bekommen, und kam jedoch im selben Moment, in dem er diesen Rat erlangte, zu der tiefen Überzeugung seines eigenen Zukurzkommens und der Notwendigkeit der eigenen Verurteilung, falls das Gesetz ohne Gnade auf seinen Fall angewendet würde. Psalm 119 ist eine schönes Beispiel der „weiblichen“ Zuneigungen zu dem alten Ehemann. Das Gesetz wird unter den verschiedensten Titeln verherrlicht, und der Geist, der alles durchweht, ist: „Wie liebe ich dein Gesetz“ (Vers 97). Und doch findet man überall eingestreute Bekenntnisse des Versagens verglichen mit den heiligen Anforderungen des Gesetzes, man findet das Rufen um Belebung – das Gesetz könnte nie beleben (Gal 3,21) – und das Bitten um Befreiung.

Wir sind jedoch „dem Gesetz getötet worden durch den Leib des Christus“, das heißt durch Seinen Tod, denn Er trug den für Ihn bereiteten Leib nur, um darin zu leiden (Heb 10,5–9). Dass Er gestorben ist, und damit unsere Verbindung mit dem Gesetz gerichtlich gelöst hat, geschah mit dem Ziel, dass wir „eines anderen werden, des aus den Toten Auferweckten.“

Der Gläubige darf jetzt aufblicken zu dem auferstandenen Christus, mit dem Ihn jetzt ein neues Band verbindet – ein Band, das viel feiner und zarter ist, als es je in Verbindung mit dem Gesetz hätte sein können. Suchen wir Hilfe, Führung, Weisheit, Rat, oder kurz gesagt, all die Dinge, derentwegen sich die Frau an den Mann wenden sollte – wenn beide dem göttlichen Ideal entsprechen? Dann wenden wir uns an den auferstandenen Christus, mit dem wir jetzt völlig verbunden sind. Er ist die lebendige Quelle dieser Dinge. Unter Seiner Liebe und Führung und fürsorglichen Pflege bringt der Gläubige Frucht für Gott.

„Herrlich!”, mögen wir in unseren Herzen ausrufen. „Der Gedanke ist wirklich bewundernswert, aber ach, wenn es eine Sache der täglichen Erfahrung wird, wenn wir versuchen es praktisch auszuleben, in welche tiefen Schwierigkeiten werden wir dann gestürzt.“

In der Tat. Deshalb folgt der wunderbare Abschnitt von Vers 7 bis 25, der im höchsten Maße praktisch ist. Diese Schwierigkeiten und Anfechtungen, diese Seelenqualen, entstammen alle dem reichen Schatz der Erfahrungen, die Paulus selbst bei der praktischen Verwirklichung der Sache gemacht hat.

Es ist beachtenswert, dass der erste Lichtstrahl inmitten der Dunkelheit erscheint, als er die völlige Verderbtheit des Fleisches erkennt (Vers 18). Und das ist in der Tat das „Hougomont“ des großen „Waterloo“[1] unserer Seele – der Punkt um den herum der ganze Kampf der Anfechtungen und Seelenqualen wütet. Der Gläubige, der diesen Punkt wirklich und entschieden erobert hat, wird bald lernen, von der eigenen Wertlosigkeit weg auf Christus den Auferstandenen zu blicken. Und in Seinem Auferstehungsleben und durch Seinen Geist (Röm 8,2) wird die ganze „Frucht für den Tod“ verwandelt werden in „Frucht für Gott“ und in den Weg des Sieges.

[Übersetzt von Marco Leßmann]


[1] Die erfolgreiche Verteidigung des Schlosses Hougomont war ein entscheidender Teilerfolg auf dem Weg zum Sieg Wellingtons über die Armeen Napoleons.