Ein Knecht Gottes wie der Apostel Paulus, der sowohl den Evangelisten als auch den Hirten der Seelen in seiner Person vereinte, konnte sich nicht mit einem äußerlichen Bekenntnis der Bekehrung oder einer äußerlichen Einnahme des christlichen Platzes zufrieden geben, egal wie viele solcher Bekenntnisse es gab. Nur innerliche Realität konnte ihn befriedigen. Die galatischen Versammlungen hatten ihren Ursprung in der begeisterten Aufnahme von Paulus und seiner Botschaft. In seinem Brief spricht er ihnen nicht ihr Bekenntnis oder ihre Stellung als Versammlung ab, sondern äußert ernste Bedenken und eine so akute Besorgnis über sie, dass er sie mit Geburtswehen vergleicht, weil er bis jetzt bei ihnen noch nicht feststellen konnte, dass Christus in ihnen zu sehen war und daher musste er sagen: „Ich bin eurethalben in Verlegenheit (o. Zweifel)“ (Gal 4,19–20).

Wir machen darauf aufmerksam, weil die Tendenz, sich mit einem bloßen Bekenntnis zufrieden zu geben, in unseren Tagen sehr stark ist. Es ist gut, wenn Menschen ihren Glauben an Christus bekennen, und so ihren Platz als „in Christus“ einnehmen – ob sie die Bedeutung davon kennen oder nicht. Den wahren Knecht Gottes verlangt jedoch danach, zu erkennen, dass Christus in ihnen gestaltet worden ist, denn nur dann weiß er, dass sie in Christus sind, und er muss in seinen Gedanken keine Zweifel ihretwegen mehr hegen.

Im zweiten Teil von Römer 5 finden wir die Not des Menschen und das göttliche Eingreifen im Hinblick auf die Not des Menschen – es geht dabei nicht um Vergehungen, sondern um die Natur und Vererbung. Adam war sozusagen die alte Urquelle der Menschheit, aber ach, die Quelle und der Strom, der aus ihr entsprang, sind hoffnungslos verschmutzt und verdorben. Gott griff ein, indem er in Christus, der einst bis zum Tod gehorsam war und jetzt aus den Toten auferstanden ist, eine neue Urquelle einsetzte. Bei Ihm ist alles Vollkommenheit und durch die volle Gabe der Gnade kommt der Gläubige unter dieses neue Haupt und wird Teilhaber an dieser neuen Quelle des Lebens. Kaum haben wir begonnen Römer 6 zu lesen, da begegnet uns auch schon der Ausdruck „in Christus Jesus“ – zum ersten Mal in diesem Brief auf uns angewandt. Wir sollen uns der Sünde für tot halten, „Gott aber lebend in Christus Jesus“ (Röm 6,11). Wir haben „ewiges Leben in Christus Jesus, unserem Herrn“ (Röm 6,23), und es „ist jetzt keine Verdammnis für die, die in Christus Jesus sind“ (Röm 8,1).

So wie – in Verbindung mit den heilsgeschichtlichen Wegen Gottes – die Nationen, die von Natur aus wie wilde Ölbaumzweige sind, „wider die Natur in den edlen Ölbaum eingepfropft worden“ sind (Röm 11,24), so sind – in Verbindung mit dem ewigen Ratschluss Gottes – wir Gläubige, die nichts als Sünder waren, in Christus eingepfropft worden und stehen jetzt in Christus. In der Natur wird immer das Gute in den wertlosen Stamm eingepfropft, in der Gnade Gottes, sei es in Seinen Wegen oder in Seinem lebendigen und ewigen Ratschluss, läuft es genau andersherum. Wir, die glauben, sind aus Gott in Christus Jesus (vgl. 1. Kor 1,30). Durch einen göttlichen Akt unendlicher Gunst sind wir zu Teilhabern des Lebens und der Natur Christi geworden. Von Ihm stammen wir ab und in Ihm stehen wir.

Wir sind jedoch nicht ohne den Geist Gottes in Christus. Wenn Römer 8,1 von uns als „in Christus Jesus“ spricht, dann spricht Vers 2 von dem Geist als dem „Geist des Lebens in Christus Jesus“, und  Er wohnt in uns, damit Er Sein „Gesetz“ oder Seine Herrschaft über uns ausüben kann, um uns dadurch von der Herrschaft, die die Sünde und der Tod vorher in uns ausübten, zu befreien. Als der „Geist des Lebens in Christus Jesus“ macht Er dieses herrliche Leben in dem Gläubigen sichtbar. Als der Geist Christi gestaltet Er Christus in uns; und das ist das Gegenstück dazu, „in Christus“ zu sein.

Betrachten wir noch einmal das Bild von dem Einpfropfen. Wenn es in der Natur möglich wäre, in dieser entgegengesetzten Richtung zu arbeiten, nämlich dass ein wilder Ölbaumzweig in einen guten Ölbaum eingepfropft wird, um an dessen Wurzel und Fettigkeit teilzuhaben, was wäre dann das Ergebnis? Natürlich, dass der ehemals wilde Ölbaumzweig beginnen würde, gute und kultivierte Früchte hervorzubringen. Dadurch, und nur dadurch würde dem Gärtner bewiesen, dass die Einpfropf-Operation echt und erfolgreich war. Dass der Zweig wirklich in dem guten Ölbaum ist, würde durch den guten Ölbaum selbst bezeugt, in der sichtbaren Form seiner guten Früchte, in denen er gestaltet ist.

Und gerade das war die Schwierigkeit bei den Galatern. Das wahre Evangelium war unter ihnen gepredigt worden, denn Paulus war der Prediger. Sie hatten es angeblich aufgenommen und waren dem Bekenntnis nach in Christus, aber statt dass Christus so eindeutig in ihnen gestaltet war, dass sie für ihn eiferten, wünschten sie, unter Gesetz zu sein, und der Apostel, der ihre geistliche Mutter war, hatte ihretwegen erneut Geburtswehen der Seele.

Was wäre wohl Paulus Eindruck, wenn er inmitten der bekennenden Christen heute stände? Welche Not würde es ihm bereiten! Aber Paulus ist nicht hier. Wäre es nicht gut, wenn wir alle etwas mehr beschwert wären über diese Sache – und möglicherweise auch beschwert über unseren eigenen Fall? Wenn die Selbstprüfung zur ständigen Gewohnheit wird, ist es nicht gut; und doch gibt es bei allen von uns Augenblicke, in denen sie sehr nützlich ist, weil sie zum Selbstgericht führt. Wenn das Ich gerichtet ist, füllt Christus allein das Blickfeld unserer Seelen aus. Der Geist des Selbstgerichts ist folglich immer gut.

Die Versammlung in Korinth war in einem armseligen Zustand. In seinem ersten Brief sagt Paulus ihnen ganz klar, dass sie fleischlich waren. In seinem zweiten Brief deutet er an, dass sie weltlich waren (vgl. 2. Kor 6,11–18). Zu solchen Gläubigen sagt er: „Weil ihr einen Beweis sucht, dass Christus in mir redet … so prüfet euch selbst, ob ihr im Glauben seid, untersucht euch selbst; oder erkennt ihr euch selbst nicht, dass Jesus Christus in euch ist? Es sei denn, dass ihr etwa unbewährt seid“ (2. Kor 13,3–5). Das, was heute dem Bekenntnis nach die Versammlung ist, ist voller Fleischlichkeit und Weltlichkeit. Müsste nicht daher der Apostel die gleichen Dinge zu uns heute sagen?

Wenn er an die Galater schreibt, sagt er von sich selbst: „Ich bin mit Christo gekreuzigt, und nicht mehr lebe ich, sondern Christus lebt in mir“ (Gal 2,20). Paulus war also ein leuchtendes Beispiel dessen, was er so ernstlich in den Galatern suchte. Im weiteren Verlauf des Briefes beschreibt er auch „die Frucht des Geistes“ näher als „Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Gütigkeit, Treue, Sanftmut, Enthaltsamkeit“ (Gal 5,22–23). Diese neun Eigenschaften stellen uns das Leben Christi vor. Sie predigen uns den Charakter Christi – die Frucht des Geistes und die sichtbaren Ergebnisse davon, dass Christus in uns gestaltet worden ist.

Möge jeder von uns diese Dinge ernstlich erwägen, denn in Tagen von viel äußerlichem Bekenntnis, kommt es besonders auf die Wahrheit im Innern an.

[Übersetzt von Marco Leßmann]