Das Buch der Psalmen ist eine Sammlung von Gedanken, Gebeten und Lobgesängen, die durch verschiedene Personen in den unterschiedlichsten Umständen geäußert wurden. Alle wurden dabei durch den Heiligen Geist dazu bewegt. Auch seinen Titel bekam „das Buch der Psalmen“ (Apg 1,20) durch die Autorität der Inspiration.

Die Psalmen selbst bestehen entweder aus Erinnerungen und dem Ausdruck des momentanen Seelenzustands der Schreiber oder haben einen prophetischen Charakter. Sie umfassen eine Bandbreite, die vom Bekenntnis, Flehen und Lobpreis bis hin zur Lehre, Geschichte und Prophetie reicht.

Der Herr Jesus wird in ihnen entweder in einer direkten, persönlichen oder in einer mehr verborgenen Weise gesehen und gehört. Einigen Psalmen kann man zeitlich und örtlich Situationen im Leben des Herrn zuordnen und wenn wir sie von diesem Gesichtspunkt aus betrachten, entdecken wir in ihnen Äußerungen seines Herzens, die bestimmten Ereignissen zugehören. Ein Beispiel dafür ist Psalm 22. Dagegen gibt es jedoch andere, die solch einen spezifischen Charakter nicht aufweisen. In diesen Fällen handelt es sich um Gedanken und Erfahrungen, deren Charakter mehr offen und unbestimmt ist.

Das Letztere ist dabei als die Gemeinschaft der Heiligen mit Gott bekannt. Der Anlass dazu liegt manchmal in den Umständen, ein anderes Mal ist es eher freier und unbestimmter und resultiert nicht aus der gegenwärtigen Lage, sondern mehr aus einer allgemeinen Kenntnis Gottes, seiner Wege und Handlungen mit uns.

Die Gemeinschaft im Leben des Herrn Jesus war stets ungebrochen. Sein Geist oder Herz war der Altar, auf dem das Feuer beständig brannte (vgl. 3. Mose 6). Entsprechend hielt sich seine Seele auch dann im Heiligtum auf, wenn es keinen besonderen Umstand gab, der seine Gemeinschaft mit Gott leitete oder bewegte. Ja, das Feuer war stets am Brennen durch seine persönliche, innere Vorzüglichkeit.

Es gibt viel zu beobachten, wenn man einmal die Abgeschiedenheit des Herrn in seiner Anbetung betrachtet. Es wird von ihm gesagt, dass er noch vor dem Tagesanbruch aufstand oder an einen öden Ort ging, um zu beten, und es wird herausgestellt, dass er dort allein im Gebet war. An einer Stelle zog er sich zurück und betete. Er verbrachte ganze Nächte im Gebet, selbst dann, wenn seine Jünger anwesend waren. Er bekannte sich sogar zu ihren Gebeten, indem er sie lehrte und ermutigte, darin fortzufahren.

Warum war das so? Wenn er sie doch lehrte und ermutigte zu beten, dann aber selbst ebenfalls betete, warum schloss er sich ihnen im Gebet nicht einfach an?

Vielleicht kennen wir die Antwort. Seine Gebete trugen einen Charakter, die keine anderen Gebete hätten tragen können. Er wurde „um seiner Frömmigkeit willen“ erhört (Heb 5). Er brauchte keinen Mittler, sondern stand in seiner Person in völliger Annahme vor Gott. Er stützte sich nicht auf den Verdienst eines anderen. Er brauchte keinen blutbesprengten Sühndeckel. Hier sehen wir den Charakter seiner Gemeinschaft im Gebet. Und dazu gab es keinen Zugang irgendeines Anbeters (außer ihm selbst). Er betete gewissermaßen in einem neu errichteten Tempel, denn wo sonst können wir einen Ort finden, wo der Anbeter der Sohn Gottes ist, dessen Gebete auf einem Altar, wie wir ihn oben betrachtet haben, aufsteigen. Nein, davon hatte es auf dem Berg kein Muster gegeben. Er war ein Anbeter, der einer besonderen Ordnung angehörte, ebenso wie er ein Priester und ein Diener von einer besonderen Ordnung war. Er schuldete keinen Dienst, aber er lernte Gehorsam. Er war nicht verpflichtet anzubeten, dennoch tat er es. Er war der freiwillige Knecht (2. Mose 21,5; Hebräer 5,8) und der persönlich vollkommen anerkannte Anbeter. Deshalb sehen wir, wie er allein betete.

Nirgendwo lesen wir jedoch etwas von der Absicht, alles, was in den Psalmen zu finden ist, dem Herrn Jesus zuzuschreiben. Es gibt auch keine Notwendigkeit für eine derartige Vorstellung. Wenn wir Psalm 1 als Gegenbeispiel nehmen wollen, fällt uns auf, dass es nicht die Sprache des Herrn ist, sondern eine göttliche Beschreibung, ja die Beschreibung Gottes eines gesegneten und wohlhabenden Mannes. Ich zweifle nicht daran, dass wir dort in einem absoluten und vollkommenen Sinn Jesus in diesem glückseligen Mann sehen. Dennoch stammt der Ausspruch dieses Psalms nicht von ihm. Ich möchte sogar sagen, dass ich ihn persönlich nicht mehr so viel in den Psalmen sehe, wie das einmal der Fall gewesen ist.

Normalerweise wird von den Psalmen als den Aussprüchen Davids gesprochen – und das ist auch richtig. Denn obwohl auch Mose, Esra und andere die Schreiber von einigen Psalmen sind, wurde David vorwiegend mit einbezogen. Übrigens war David, was seine Erfahrungen angeht, reicher und verschiedenartiger (durch den Heiligen Geist, dem echten Meister der hebräischen Lyra) als jeder andere der Heiligen des Alten Testaments. Er kannte die Leiden aufgrund von Gerechtigkeit und von Sünde ebenso, wie er die Gefühlswelt eines Märtyrers und eines Bußfertigen kannte. Die Bandbreite seiner Erfahrungen reichte von Demütigung bis zu Ehre und Ruhm. Sein wechselvolles Leben gab dem Geist viele Gelegenheiten, seine Seele zu üben. Und aus all dem ergab sich schließlich ein solches Buch, das Buch der Psalmen. Darüber hinaus scheint der Herr David in Matthäus 22,43 als Schreiber anzuerkennen.

Ich möchte in Verbindung damit 2. Samuel 22 und 1. Chronika 16 als Beispiele für die Art und Weise der Entstehung vieler Psalmen anführen. Auf diese Kapitel gehen mehrere Psalmen zurück. Wir können hier lernen, dass die Verhältnisse, Umstände oder Handlungen Davids und anderer aus dem Volk Gottes, der Anlass für den Heiligen Geist wurden, ihnen Äußerungen und Offenbarungen einzugeben, die nicht nur für ihre jeweilige Situation und Zeit genau angemessen waren, sondern in ihrer vollen Bedeutung darüber hinausgingen. Wenn wir die Befreiung Davids aus der Hand Sauls sehen oder wie die Lade Gottes in das für sie vorbereitete Zelt gebracht wird, finden wir Anlässe, die der Geist benutzt, um sie in den Bereich und Umfang der Inspiration (das Ende vor dem Anfang kennend) aufzunehmen. Das Lied Hannas trägt ebenfalls diesen Charakter und könnte ein Psalm genannt werden. Das Ereignis ihrer baldigen Mutterschaft ist für den Heiligen Geist die Gelegenheit, sie als Gefäß oder Instrument zu benutzen. Er inspiriert sie, eine Äußerung zu machen, die nicht nur ihre gegenwärtige persönliche Freude zum Ausdruck bringt, sondern auch die Interessen und Freuden des zukünftigen Reiches Gottes (1. Sam 2).

Wenn ich es so sagen darf, ist das der Ursprung vieler Psalmen. Das ist die Geschichte ihrer Geburt, ihres Platzes und ihrer Zeit. Und David wird in dieser Weise besonders von dem Geist gebraucht. Am Schluss seines denkwürdigen Lebens, auf wunderbare Art ausgezeichnet durch die Hand und den Geist Gottes, sagt er in Bezug auf sich und seine Lieder: „Es spricht David, der Sohn Isais, und es spricht der hochgestellte Mann, der Gesalbte des Gottes Jakobs und der Liebliche in Gesängen Israels: Der Geist des HERRN hat durch mich geredet, und sein Wort war auf meiner Zunge“ (2. Sam 23,1–2). Und so wurde er benutzt – er war der Sänger, während der Heilige Geist der Komponist der Musik war. Davids Lieder waren die Gesänge des HERRN und sie waren das Mittel, durch welche er nach den Gedanken des Geistes weissagte. Seine Zunge war „der Griffel eines fertigen Schreibers“ (Ps 45,2). In Hebräer 4,7 spricht der Herr durch David und der Apostel drückt es durch die Worte aus: „in David … sagend“.

Eine andere Sache, die ich noch über die Gesänge des HERRN sagen wollte, ist etwas, womit ich mich schon seit längerem beschäftigt habe. Es ist die Tatsache, dass es von großem moralischem Wert ist, die prophetischen Wahrheiten in oder anhand der Psalmen zu betrachten. Ein Grund dafür ist, dass sie dort nicht als bloße Lehren vorgestellt werden, sondern mit wechselhaften Empfindungen der Seele gelebt und gefühlt werden. So lehrt uns der Apostel Paulus, dass „Israel zum Teil Verhärtung widerfahren ist“ (Röm 11,25) und die Zweige ausgebrochen wurden (Röm 11,19). Das sind Aussagen oder Lehrsätze, die verstanden und geglaubt werden müssen. Dieselbe Wahrheit wird jedoch auch in den Psalmen vorgestellt (vgl. Psalm 65), wo wir lesen: „Ungerechtigkeiten haben mich überwältigt“ (Ps 65,4). Hier ist es jedoch nicht nur die Darstellung einer Lehre, wie es der mehr didaktischen Art und Weise der Briefe entsprechen würde, sondern etwas, was gewissermaßen das Herz des armen Juden brach, wenn er darüber nachdachte. Die Feststellung des Apostels: „Und so wird ganz Israel gerettet werden“ (Röm 11,26) bringt uns zu einer weiteren Lehre des Apostels Paulus. Es ist derselbe Psalm, in dem auch diese Wahrheit ausgedrückt wird „unsere Übertretungen, du wirst sie vergeben“ (Ps 65,3). Hier ist es jedoch die jubelnde Vorfreude desselben armen und zerbrochenen Israeliten.

Und so kommt es, dass mit dem Studium dieser Wahrheiten in den Psalmen ein moralischer Wert verbunden ist. Es gibt nämlich die Tendenz in uns, die Wahrheit rein verstandesmäßig aufzunehmen und dann nur noch darüber zu reden. In den Psalmen wird die Wahrheit allerdings zusammen mit den Empfindungen der Seele vorgestellt. Wenn ich es einmal so ausdrücken darf, sind die Psalmen das Herz der göttlichen Mitteilungen. Sie befinden sich in der Mitte des Körpers, und man kann ihren Puls fühlen. Von dort geht das Blut ein und aus. Da finden die Zuneigungen des erneuerten Menschen ihren Ruheplatz und den Ort ihrer Übungen. Und es ist gut sich dort immer wieder aufzuhalten und Schriftstellen gemäß der Art, wie man sie dort kennengelernt und geübt hat, anzuwenden.

Ich brauche nicht explizit zu betonen, dass manche Psalmen Dialoge sind. Bei einigen sind sogar mehr als zwei Sprecher zu beobachten, während wieder andere das sind, was wir „Monologe“ nennen würden.

Um es noch einmal zu sagen: Einige Psalmen folgen einer gewissen Ordnung wie Kapitel in einem Buch. Andere sollten dagegen einzeln und getrennt voneinander gelesen werden.

Wollen wir sie im rechten Licht wahrnehmen und betrachten, müssen unsere geistlichen Sinne geübt sein (Heb 5,14). Die Gedanken Gottes können nur durch den Geist Gottes in einer lohnenden und heiligen Weise erkannt werden. Dennoch ist es gut, uns daran zu erinnern, dass für jeden von uns in dieser Welt das gilt, was wir in 1. Korinther 13,9 lesen: „wir erkennen stückweise.“

Im Folgenden beabsichtige ich nicht mehr als eine kleine Hilfe zu geben, um die Gedanken des Geistes in diesen gesegneten Äußerungen besser zu verstehen, ob es um die prophetische oder moralische Sicht oder beide zusammen geht. Der Leser wird sehr gut wissen, dass diese zwei Sichtweisen nicht ausreichend sind, um die frischen und lebendigen Quellen zu erschöpfen, die wir hier vor uns haben. Aber um eine Sache sollten wir doch bemüht sein, dass sie unsere Lippen wenigstens unbesudelt und ungestört zur Erfrischung anderer der Herde Gottes verlassen möchten. Möge es so sein, geliebter Heiland!

[Übersetzt von Stephan Keune]