7. Die Verantwortlichkeit des Einzelnen

Dieses Kapitel führt einen sehr wichtigen allgemeinen Grundsatz des Handelns Gottes ein: Jeder Mensch trägt vor ihm eine persönliche Verantwortung. Der Prophet hatte diesen Gedanken in einem anderen Zusammenhang bereits vorher berührt, wenn er über die Verantwortung des Wachtpostens (Hes 3,18–21) und die Rettung der Gerechten in Kapitel 14,13–21 sprach.

Die Verantwortlichkeit aller Generationen: V. 1–20

Der HERR widerspricht hier gegen ein dreistes Sprichwort, dass sich im Volk Israel zur Zeit Hesekiels breitgemacht hatte: „Die Väter essen unreife Früchte, und die Zähne der Söhne werden stumpf“ (V. 2; Jer 31,29.30; Klgl 5,7). Anders ausgedrückt: Wir bezahlen für die Verfehlungen derer, die uns vorangegangen sind. Damit versuchten sie sich zu entschuldigen und schoben die Verantwortung für das kommende Gericht auf andere, anstatt sich persönlich zu ändern.

Ihrer verdrehten Argumentation hält Gott eine knappe Antwort entgegen, indem er zunächst ein allgemeines Prinzip einführt: „Die Seele, die sündigt, die soll sterben“ (V. 4.20). Dann behandelt er unterschiedliche Fragestellungen, wobei er drei aufeinanderfolgende Generationen vorstellt:

  • In den Versen 5–9 wird uns ein Gerechter vorgestellt, der Recht und Gerechtigkeit ausübt

  • Sein verdorbener Sohn soll dagegen sterben (V. 10–13)

  • Der rechtschaffene Enkel wird wiederum leben, während sein ungerechter Vater sterben muss (V. 14–18)

Die Geschichte der letzten Könige Israels zeigt uns ein Beispiel, wo gottesfürchtige Menschen (Hiskia, Josia) trotz gottloser Vor- oder auch Nachfahren (Ahas, Manasse, Johjakim) folgten.

Nach dem Gesetz Moses wollte der HERR „die Ungerechtigkeit der Väter an den Kindern und Kindeskindern heimsuchen“, ja selbst „an der dritten und vierten Generation“ (2. Mose 34,7), doch finden wir bereits im 5. Buch Mose einen wichtigen Zusatz, wonach die Väter nicht um der Kinder willen, bzw. die Kinder nicht um der Väter willen getötet werden sollten, da jeder für seine Sünde getötet werden sollte (5. Mose 24,16; 2. Kön 14,6; 1. Mose 18,25). Diese beiden Gesichtspunkte hatten zur Zeit Moses ihre Gültigkeit und sind auch heute noch wahr: Wenn der Unglaube der Eltern die Erziehung der Kinder auch prägen mochte, war doch jeder Israelit vor Gott verantwortlich und dieses Prinzip wurde in der Zeit Hesekiels umso wichtiger, als das Volk zerstreut und seine Verantwortlichkeit als Kollektiv damit zweitrangig werden würde.

Die Verantwortung in Verbindung mit einer Verhaltensänderung: V. 21–32

Eine zweite Frage kommt auf: Bewertet Gott jemanden ausschließlich am Ende seines Lebens? Einmal mehr weist Gott ihre Anschuldigungen, dass er widersprüchlich und inkonsistent handelt zurück und stellt fest:

  • Der Ungerechte, der zur Buße geführt wird, wird leben (V. 21.22 und 27.28)
  • Der Gerechte, der in Sünde fällt, wird sterben (V. 24 und 26)

Auch hier brauchen wir nur in die Geschichte Israels zurückzugehen, um in Salomo (1. Kön 11) oder Manasse (2. Chr 33,12–20) Beispiele gegen die falschen Anschuldigungen der Juden zu finden.

Auf die zweifache Anklage, ungerecht zu handeln (V. 25.29; 33,17.20) antwortet Gott beidesmal mit den Worten: „Ich habe kein Gefallen am Tod des Sterbenden“ (Hes 18,23.32) [Fußnote 1]. Es ist einfach, Gott der Ungerechtigkeit zu bezichtigen, um seine eigene Ungerechtigkeit zu rechtfertigen. Der Grundsatz, nach dem Gott jeden Einzelnen für seine Taten zur Rechenschaft zieht, spiegelt die Konsistenz seines Handelns wider und zeigt seine Gerechtigkeit und Weisheit. Außerdem sehen wir seine edle Haltung gegenüber allen Menschen.

Die Tragweite dieses Kapitels

Gott handelt dem Menschen gegenüber auf der Basis von zwei großen Prinzipien, die uns in der ganzen Schrift hindurch begegnen:

  • Seine Regierungswege beziehen sich auf das Leben eines Menschen auf der Erde. Gott handelt auf der Grundlage seiner Taten: „Was irgend ein Mensch sät, das wird er auch ernten“ (Gal 6,7)
  • Seine Gnade beschäftigt sich mit dem ewigen Bestimmungsort einer Seele

Die Unterscheidung dieser beiden Grundsätze ist fundamental, möchte man den Sinn dieses Kapitels erfassen. Im Alten Testament ging die Kenntnis des „Lebens“ und des „Todes“ nicht soweit, dass sie den ewigen Bestimmungsort der Seele umfasst hätte. Es ging vielmehr um das physische Leben und den physischen Tod auf der Erde. Das ewige Heil hin einzig und allein vom Glauben an Gott und den angekündigten Messias ab (1. Mose 15,6; Hab 2,4). Die Einhaltung der Gesetzesvorschriften, die in den 5 Beispielen in V. 5–9 zusammengefasst dargestellt werden, würde zur Verlängerung des Lebens auf der Erde führen (5. Mose 30,17–20). Darüber hinaus ist es unmöglich, dieses Kapitel zu benutzen, um falsche Lehrmeinungen wie die folgenden zu vertreten:

  • Die Lehre des ewigen Heils durch Opferungen: Die Verse 5–9 widersprechen der neutestamentlichen Lehre nicht: „Denn durch die Gnade seid ihr errettet, mittels des Glaubens; und das nicht aus euch, Gottes Gabe ist es; nicht aus Werken, damit niemand sich rühme“ (Eph 2,8–9).

  • Die Verlierbarkeit der Errettung: Die Verse 24–26 lehren nicht, dass ein Kind Gottes das ewige Leben wieder verlieren könnte, denn das Neue Testament macht nachdrücklich klar, dass uns nichts von der Liebe des Christus scheiden kann (Röm 8,35–39; Joh 10,28–29). Allerdings bleibt es genauso wahr, dass ein Gläubiger sein physisches Leben durch ungerichtete Sünden wieder verlieren kann (Apg 5,1–11; 1. Kor 11,30; 1. Joh 5,16).
  • Das Ende der Existenz der Seele: Obwohl Hesekiel feststellt, dass die Seele, die sündigt, sterben soll (V. 20), dürfen wir das nicht so verstehen, als ob die Seele (als Sitz der Persönlichkeit verstanden) nach dem physischen Tod aufhörte zu bestehen. Das hebräische Wort „Nephesh“, das hier mit „Seele“ wiedergegeben wird, hat mehrere Bedeutungen [Fußnote 2], wobei hier die „Person“ gemeint ist. Zahlreiche Stellen in der Schrift zeigen überdeutlich, dass die Existenz der Seele, bzw. des Geistes, nach dem Tod ohne Ende weiterbesteht (Pred 12,7; Lk 16,19–31; 20,38; 23,43; Phil 1,21.23; Off 6,9).

Die Anwendung auf uns heute

Das Sprichwort, das die Menschen in Vers 2 benutzen, hat sich heute kaum geändert. Auch jetzt hören wir davon, dass jemand nicht dafür verantwortlich ist, was er tut, da vieles auf Vererbung, Ausbildung, Umwelt, etc. zurückzuführen sei. Wir werden so systematisch angewiesen, die Schuld und Verantwortlichkeit unserer Verfehlungen bei anderen zu suchen (1. Mose 3,12.13; Röm 2,1).

Die aktuellen psychoanalytischen Theorien greifen diesen Gedanken auf, bieten aber keine Unterstützung für solche, die ihre Sünde entschuldigen und auf andere schieben möchten. Es stimmt, dass externe Einflussfaktoren eine Rolle spielen, doch zeigt Gott, dass weder die Herkunft, noch die Umwelt den moralischen Zustand einer Person bestimmen. Kein Mensch ist beispielsweise verpflichtet, dem schlechten Vorbild seiner Eltern zu folgen. Auf der anderen Seite kann auch niemand durch die Gottesfurcht seiner Eltern errettet werden.

Ebenso, wie sich eine Generation von den Verfehlungen der vorherigen distanzieren und befreien kann, wird ein Mensch von seiner persönlichen Schuld befreit (V. 22). Die Folgen von dem, was wir getan haben, können bleibend sein (Gal 6,7), doch wir dürfen wissen, dass die moralischen Leiden und Gewissensbisse in unseren Herzen und Gedanken verschwinden können. Ist es nicht schon oft so gewesen, dass Gottes Gnade eine Lösung für eine tragische Situation herbeigeführt hat, in die wir uns durch eigenes Verschulden manövriert hatten?

Das Ende des Kapitels zeigt uns einmal mehr die Liebe Gottes: Er möchte, dass „alle Menschen errettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen“ (1. Tim 2,4). In seiner Gnade hören wir immer wieder seine geduldigen Appelle an den Sünder: „Kehre um und lebe!“ (V. 32). Durch die ganze Bibel hindurch finden wir dasselbe Herz voller Liebe unseres Gottes, der sich um die Umkehr (V. 30) und innere Erneuerung (V. 31) des Sünders bemüht [Fußnote 3]. Er ist wahrhaftig ein „Gott der Vergebung“ und gnädig (Neh 9,17).

[Übersetzt von Stephan Keune]


Fußnote 1: Das Verb „leben“ wird noch 7 Mal in diesem Kapitel wiederholt (V. 9.17.21.23.27.28.32), wogegen das Verb „sterben“ nicht mehr als 2 Mal erwähnt wird (V. 13.18). Offensichtlich möchte Gott das Leben und nicht den Tod.

Fußnote 2: Atmung, Lebend, Menschlich, Persönlichkeit, Leben, Sitz der Emotionen und der Entscheidungen, etc.

Fußnote 3: Das „neue Herz“ und der „neue Geist“ werden zwar als Geschenke Gottes dargestellt (11,19; 36,26), müssen aber gleichzeitig persönlich erworben werden (wie es in den Worten „Schafft euch“ angedeutet wird).