Wie verschieden waren doch die Herzenszustände der Jünger am Auferstehungstag: Petrus war gefallen, Thomas war ein Zweifler, Maria Magdalene war untröstlich, und die zwei Jünger auf dem Weg nach Emmaus waren enttäuscht. Aber mit welch göttlichem Geschick und mit welch vollkommener Gnade stellt der Herr sich auf die verschiedenen Herzenszustände ein: Er hat ein Wort der Wiederherstellung für Gefallene, ein sanft tadelndes und doch gleichzeitig ermunterndes Wort für Zweifler, ein tröstendes Wort für Unglückliche und ein erweckendes Wort, das die Herzen der Enttäuschten berührt und ihre Gewissen erreicht.

Enttäuschung

Die zwei Jünger auf dem Weg nach Emmaus könnte man treffend als „enttäuschte Gläubige“ bezeichnen. Von ihrer Not getrieben und von der Gnade angezogen, fühlten sie sich, wie andere Gläubige auch, zu Jesus hingezogen. Sie hatten Seine mächtigen Taten gesehen, Seinen Worten der Gnade zugehört und waren Seinem heiligen Weg der Liebe gefolgt. Sie waren überzeugt, dass Er der lang ersehnte Messias war, und hatten zuversichtlich darauf gewartet, dass das Joch der Römer gebrochen und Israel mit Macht aus der Hand aller Feinde befreit würde. Doch die Hohenpriester und die Schriftgelehrten hatten ihren Messias zu Tode gebracht. Statt Seinen Thron als König der Könige einzunehmen, war Er zwischen zwei Verbrechern an ein Kreuz genagelt worden. Statt sich Seine Feinde zum Fußschemel zu machen, war der Sohn Gottes von ihnen mit Füßen getreten worden. Die ganze Hoffnung der Jünger war damit auf einen Schlag vernichtet worden. Sie waren tief enttäuscht.

Das Ergebnis ihrer Enttäuschung sehen wir sehr bald: Sie kehren der kleinen Schar der Gläubigen in Jerusalem den Rücken zu und gehen, ohne zu zögern, „am gleichen Tag“ nach Hause nach Emmaus. Und als sie unterwegs waren, „besprachen sie sich miteinander“ (Lk 24,15) und waren „niedergeschlagen“ (Lk 24,17).

Gibt es nicht auch heute viele entmutigte und enttäuschte Gläubige, die ebenso der Gemeinschaft des Volkes des Herrn den Rücken zukehren und auf einem einsamen Weg davongehen? Und wenn sie dann ihren einsamen Weg verfolgen, sind sie dann nicht auch traurig und voll zweifelnder Überlegungen wie die Emmaus-Jünger?

Aber was war der Grund, dass die Emmaus-Jünger so enttäuscht waren? Weil sie mit ihren eigenen Gedanken über Christus beschäftigt waren statt mit den Gedanken Gottes. Und weil ihr Denken von menschlichen Gedanken vereinnahmt war, waren sie nicht in der Lage, göttliche Gedanken zu begreifen – sie waren „trägen Herzens, an alles zu glauben, was die Propheten geredet haben“ (Lk 24,25). Hinter ihrer Enttäuschung verbarg sich Unglaube. Unglaube lenkte ihre Füße weg vom Volk des Herrn; Unglaube ließ ihre Zungen ihre eigenen Gedanken und Überlegungen aussprechen, erfüllte ihre Herzen mit Niedergeschlagenheit und hielt ihre Augen, so dass sie den Herrn nicht erkannten. Und was war das für ein Gedanke des Unglaubens, der sie so vereinnahmte? Es war der Wunsch, Christus in ihre Umstände zurückzuholen, zur Erleichterung ihrer Umstände und zu ihrem irdischen Segen.

Gleichen wir nicht oft diesen Jüngern? Ist es nicht ein verbreiteter Gedanke unter Christen, dass Christus in diese Welt kam, um aus ihr einen besseren und glücklicheren Ort zu machen? Versuchen wir nicht immer noch manchmal, Christus in unsere Umstände zurückzuholen, um zeitlichen Trost oder irdische Herrlichkeit zu bekommen? Und sind wir dann nicht bitter enttäuscht, wenn wir uns in schwierigen Umständen befinden und merken, dass die Einsmachung mit dem Volk des Herrn uns in die Gemeinschaft bringt mit den Armen und Verachteten dieser Welt und dass diese Einsmachung Verachtung und Schande einschließt und vielleicht sogar Verlust und Leiden?

Jesus selbst

Und doch, wie gnädig geht der Herr Seinen irrenden und enttäuschten Heiligen nach. Auf welch gesegnete Weise erquickt und ermuntert Er diese traurigen und niedergeschlagenen Jünger auf dem Weg nach Emmaus. „Jesus selbst“ näherte sich ihnen!

Kein Bote wird gesandt, um diese irrenden Gläubigen in Seine Gegenwart zurückzuholen. Wenn alles gut geht in Seinem Volk, dann mögen Engel, Apostel, Propheten und andere Seine Befehle ausführen, wie es uns in so mancher schönen Szene im Wort Gottes gezeigt wird. Aber wenn ein Schaf verirrt ist – entmutigt und niedergeschlagen –, dann wird „Jesus selbst“ sich nähern, um es wiederherzustellen. Da muss an einem verirrten Gläubigen ein Werk getan werden, das keiner tun kann als nur „Jesus selbst“.

Wie gnädig handelt Er, nachdem Er sich genähert hat. Er deckt alles auf, was in unseren Herzen ist. Mit göttlicher Weisheit und unendlichem Zartgefühl räumt Er alle Schwierigkeiten der beiden Jünger aus und enttarnt die Wurzel des Unglaubens, die sich hinter ihrer Enttäuschung verbarg. Sie waren „trägen Herzens, zu glauben“ (Lk 24,25).

Doch damit hört Er nicht auf, denn so wichtig es auch ist, das bloßzustellen, was in unseren Herzen ist – es reicht nicht aus, um uns wiederherzustellen. Wir müssen unser Herz richtig kennen, um zu verstehen, inwiefern wir auf einem falschen Weg gegangen sind; aber wir müssen Sein Herz richtig kennen, damit unsere Füße wieder auf den richtigen Weg gebracht werden. Und auf diese Weise handelt der Herr mit den zwei Jüngern. Nachdem Er alles aufgedeckt hat, was in ihren Herzen war, offenbart Er jetzt, was in Seinem Herzen ist. Und indem Er das tut, verwandelt er ihre „trägen Herzen“ in „brennende Herzen“ (Lk 24,25.32). Er entfacht in ihren Herzen die Liebe zu Ihm, indem Er ihnen die Liebe offenbart, die in Seinem Herzen ist.

Um die Liebe Seines Herzens zu offenbaren, „erklärte er ihnen in allen Schriften das, was ihn betraf“ (Lk 24,27), und stellt ihnen die bewegende Geschichte Seiner Leiden und Seiner Herrlichkeit vor (Lk 24,26). In ihrer zu kurz greifenden Vorstellung hätten die Jünger Ihm diese Leiden gern erspart und Ihm auf diese Weise Seine Herrlichkeiten vorenthalten. Wir wissen, dass Er leiden musste, um „in seine Herrlichkeit einzugehen“ (Lk 24,26).

„In allen Schriften das, was ihn selbst betraf“ – was berührt unsere Herzen mehr als die Leiden und die Herrlichkeiten Christi! Und wenn wir die Leiden finden, sind wir nicht weit entfernt von den Herrlichkeiten. Psalm 22 spricht von Seinen Leiden, Psalm 24 von Seinen Herrlichkeiten. Die Geschichte Seiner Leiden wird erneut in Psalm 69 aufgegriffen, gefolgt von seinen Herrlichkeiten in Psalm 72. Ebenso folgen den Leiden Christi in Psalm 109 die Herrlichkeiten Christi in Psalm 110. Wenn wir zurückblicken auf Seine Leiden und nach vorn blicken auf Seine Herrlichkeiten, dann brennen unsere Herzen, wenn wir über Seine Liebe nachdenken, die Ihn ans Kreuz brachte, damit Er uns in die Herrlichkeit bringen kann.

Die zwei Jünger hatten nur über das nachgedacht, was sie selbst betraf; der Herr zeigte ihnen „das, was ihn selbst betraf“. Ihr Wunsch war es, Christus in ihre Umstände zu bringen. Er wollte sie in Seine Umstände einführen; Er wollte, dass sie Ihn als den Auferstandenen außerhalb der gegenwärtigen bösen Welt kennenlernten.

Gemeinschaft

Der Herr hatte ihre Herzen aufgedeckt und Sein Herz offenbart, aber mit welchem Ziel? Natürlich mit dem Ziel, dass sie sich insbesondere nach Seiner Gemeinschaft sehnten. Jetzt wird Er sie prüfen, um zu sehen, ob „das Ende des Herrn“ erreicht ist. So geschah es, dass Er „sich stellte, als wollte er weitergehen“ (Lk 24,28), als sie das Dorf erreicht hatten. Er hatte sich ihnen genähert, um ihre Herzen zu gewinnen; jetzt wird Er weggehen, um in ihren Herzen ein Verlangen nach Ihm wachzurufen. Und wie schön reagieren sie auf diese Prüfung des Herrn: „Sie nötigten ihn und sagten: Bleibe bei uns, denn es ist gegen Abend, und der Tag hat sich schon geneigt“ (Lk 24,29). Er wollte sie haben – hatte die Leiden des Kreuzes erduldet, um sie zu besitzen –, aber Sein Handeln mit ihnen bewirkte, dass sie schließlich Ihn haben wollten.

Haben wir das Böse in unseren Herzen in der Gegenwart der Liebe Seines Herzen schon so kennengelernt, dass wir sagen können: Wir sehnen uns über alles nach Seiner Gemeinschaft? Wenn ich das große Universum Gottes der Länge und Breite nach durchsuchen würde, wo würde ich wohl einen anderen finden, der mich durch und durch kennt und mich trotzdem liebt? Darum fühle ich mich in Seiner Gegenwart mehr zu Hause als in der Gegenwart des liebsten Menschen auf der Erde, der mir am nächsten steht.

Und die Liebe des Christus ist so groß, dass wir von Christus und Seiner Gemeinschaft so viel haben können, wie wir wollen. Das erfuhren auch die Jünger, als sie Ihn „nötigten“. Der Herr liebt es, genötigt zu werden, denn wir lesen: „Er ging hinein, um bei ihnen zu bleiben“ (Lk 24,29).

Christus erkennen

So kommt der Herr schließlich für einen kurzen Augenblick in ihre Umstände, aber nur, um sie aus ihren Umständen heraus in Seine Umstände einzuführen. Denn nachdem Er sich zu erkennen gegeben hat, entschwindet Er ihren Blicken. Wie bewegend ist auch die Weise, wie Er sich zu erkennen gibt: Er nahm „das Brot und segnete; und als er es gebrochen hatte, reichte er es ihnen“ (Lk 24,30). Diese ganze Handlung verkündete, wer Er war, und erinnerte sie an Seine Liebe bis zum Tod (vgl. Lk 22,19). Kein Wunder, dass „ihre Augen aufgetan wurden und sie ihn erkannten“ (Lk 24,31). Ja, aber wie erkannten sie Ihn? Nicht wie in den Tagen vor dem Kreuz, in ihren Umständen, sondern als Den, der tot war und jetzt lebendig ist von Ewigkeit zu Ewigkeit. Sogleich entschwindet Er ihren Blicken. Solange wir noch hier auf der Erde sind, können wir den Auferstandenen nur durch Glauben erkennen. Die Enttäuschung, die die Jünger ergriffen hatte, als sie Ihn auf der Erde verloren, wurde in Freude verwandelt, als sie Ihn in Auferstehung fanden.

Das unmittelbare Ergebnis ist, dass sie von ihren Irrwegen zurückgerufen werden. Obwohl sie bereits zwölf oder dreizehn Kilometer gegangen waren und obwohl es Abend werden wollte und der Tag sich schon geneigt hatte, kehrten sie sofort um. Sie hatten das aufrichtige Verlangen, sich der kleinen Gemeinschaft des Volkes des Herrn, die in Jerusalem versammelt war, wieder anzuschließen. Und als sie dort angekommen waren, befanden sie sich zu ihrer großen Freude in der Gegenwart des auferstandenen Herrn. Dort müssen alle menschlichen Überlegungen und jegliche Verwunderung der Anbetung und der „großen Freude“ weichen (Lk 24,41.52).