Oft wird gefragt, ob es einen Unterschied zwischen den Begriffen „Reich Gottes“ und „Reich der Himmel“ gibt. Den ersten benutzt Lukas in seinem Evangelium durchgehend, während der zweite 32 Mal im Matthäusevangelium vorkommt. Matthäus gebraucht darüber hinaus 4 Mal den Begriff „Reich Gottes“, wobei sich die Textkritiker an einer Stelle (Mt 19,24) nicht ganz sicher sind, ob dort „Reich Gottes“ oder „Reich der Himmel“ zu lesen ist.

Zu Beginn möchte ich bemerken, dass die beiden Begriffe manchmal austauschbar sind bzw. der Anschein wird erweckt, dass sie es sind. Vergleiche zum Beispiel folgende Stellen: Mt 3,2 mit Mk 1,15; Mt 5,3 mit Lk 6,20; Mt 6,33 mit Lk 12,31; Mt 13,11 mit Lk 8,10 etc. Wenn der Begriff des Reiches der Himmel also keine grundsätzlich andere Bedeutung hat, kommt die Bedeutungsverschiedenheit dieses Begriffes daher, dass „Reich der Himmel“ mit mehreren spezifischen Kennzeichen versehen ist (seien es gute oder schlechte), die den Bereich betreffen, in dem das Evangelium gepredigt wird, bzw. einmal gepredigt worden ist und der jetzt durch eine Abkehr von der ursprünglichen Wahrheit gekennzeichnet wird, wobei das wichtigste Merkmal die Abwesenheit des Königs ist, der sich im Himmel aufhält.

Auf diese Abkehr von der Wahrheit spielt der Herr an, wenn er in Matthäus 13,11 sagt: „Es ist euch gegeben, die Geheimnisse des Reiches der Himmel zu erkennen“. Nachdem er das Gleichnis vom Sämann vorgestellt hatte (V. 3) folgen noch sechs weitere Gleichnisse, in denen wir einerseits Dinge finden, die eindeutig gut sind, wie die Perle und den verborgenen Schatz, wo wir aber auch ausdrücklich schlechte Dinge sehen, wie das Senfkorn, das zu einem großen Baum wird oder den Sauerteig, der den ganzen Teig durchsäuert. Im Weiteren wird eine Vermischung, wie bei dem Unkraut inmitten des Weizens und dem Netz mit den guten und schlechten Fischen, vorgestellt. Dagegen werden in Lukas 13,18 (fünf Kapitel nachdem dasselbe Gleichnis vom Sämann eingeführt wurde) die Gleichnisse vom Sauerteig und dem Senfkorn ausschließlich mit dem folgenden Ausdruck eingeleitet: „Wem ist das Reich Gottes gleich“. Wenn die Sphäre des Reiches Gottes im Lukasevangelium also auch gleich der des Reiches der Himmel im Matthäusevangelium ist, sehen wir doch, dass das Böse im letzteren detaillierter beschrieben wird. In der Tat gerät das „Reich der Himmel“ in seiner geheimnisvollen Gestalt, in eine Lage, bzw. manövriert sich selbst in einen Zustand, der von einer Abwendung von den Dingen gekennzeichnet ist, die durch das Eingehen des Herrn im Himmel eingeführt werden konnten, nämlich die Kirche und die damit verbundenen Wahrheiten, die durch die Sendung des Heiligen Geistes auf dieser Erde bekannt gemacht wurden, nachdem Christus in den Himmel aufgefahren war. Im Allgemeinen handelt es sich bei dem Begriff „Reich Gottes“, so wie er in den Evangelien benutzt wird, um einen etwas umfassenderen Ausdruck, der den Gedanken an moralische oder persönliche Kraft enthält (vgl. Lk 17,20; 18,27). Dagegen beinhaltet der Begriff „Reich der Himmel“ eine mehr dispensationale Sichtweise und berücksichtigt besondere irdische Aspekte (vgl. Mt 18,23–31; 20,1–16).

Gleichzeitig muss man einräumen, dass wenn „das Reich Gottes“ (Lk 13,18.20) dieselbe Interpretation enthält wie die ähnlichen Gleichnisse in Matthäus 13, wir diesen Ausdruck ebenfalls mit einer Abkehr von Gott verbinden müssen: in diesem Fall wäre es nur so, dass die entsprechenden Kennzeichen nicht so stark entwickelt würden.

Während die beiden Begriffe „Reich Gottes“ und „Reich der Himmel“ ursprünglich in einem bestimmten Sinn identisch waren, wird in Verbindung mit dem „Reich der Himmel“ selten, wenn überhaupt, von einer Sache der Macht gesprochen. Außerdem wird das Reich der Himmel nicht als etwas gegenwärtig Existierendes gesprochen, sondern mehr, dass es „nahe sei“. Deshalb wurden Petrus auch die Schlüssel des Reiches der Himmel gegeben, während das Reich Gottes durch die Predigt des Herrn seinen Anfang fand. „Wenn ich aber durch den Finger Gottes die Dämonen austreibe, so ist also das Reich Gottes zu euch gekommen“ (Lk 11,20). In der Apostelgeschichte sehen wir dem gegenüber, wie Petrus das Reich der Himmel Cornelius und seinen Begleitern öffnet, auf die der Heilige Geist fiel (Apg 11,15). Der Begriff umfasst also, in Verbindung mit den Geheimnissen, jede Form des Christentums, die es während der Zeit der Verkündigung des Evangeliums annehmen würde. Im Tausendjährigen Reich wird das Reich in einer zweifachen Weise gesehen, die wir in Matthäus 13 finden: „Der Sohn des Menschen wird seine Engel aussenden, und sie werden aus seinem Reich alle Ärgernisse zusammenlesen und die, welche die Gesetzlosigkeit tun. … Dann werden die Gerechten leuchten wie die Sonne in dem Reich ihres Vaters.“ (V. 41+43). Der Ausdruck „Reich Gottes“ ist also allgemeiner im Gegensatz zu dem Begriff des Reiches der Himmel, der einen mehr dispensationalen Aspekt enthält, welcher mit Verantwortung verbunden ist. Die Einzelheiten der Abkehr und des Abfalls gehören genauso zu dem letzten Begriff wie die Beschreibung der zukünftigen Herrlichkeit. Als Beispiel dafür bietet sich das Gleichnis von den zehn Jungfrauen in Matthäus 25 an.

Aus diesem Grund predigten die Apostel auch nie das Reich der Himmel, wogegen das Reich Gottes, besonders bei Paulus, ein ganz normales Thema war: „Und nun siehe, ich weiß, dass ihr alle, unter denen ich, das Reich predigend, umhergegangen bin, mein Angesicht nicht mehr sehen werdet.“ (Apg 20,25). In Kapitel 28 sehen wir, wie der Apostel alle aufnahm, die zu ihm kamen und das Reich Gottes predigte, sowie mit aller Freimütigkeit die Dinge lehrte, „die den Herrn Jesus Christus betreffen“ (Apg 28,30–31). Es ist klar, dass er nicht das Reich der Himmel verkünden konnte, weil das eine schlechte Sache gewesen wäre, da die Erde in fast allen Fällen im Mittelpunkt gestanden hätte. Außerdem hätte der Gedanke an die Kraft, die mit dem Reich Gottes (was nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude im Heiligen Geist ist (Röm 14,17)) verbunden ist, nur einen geringen Platz eingenommen.

Obwohl die Herrschaft der Könige von Juda beide vorschatten, finden wir die Begriffe „Reich der Himmel“ und „Reich Gottes“ nicht im Alten Testament. Es wird allerdings eine Sprache gebraucht, die, wie in Ps 22,28: „Denn des Herrn ist das Reich, und unter den Nationen herrscht er“, einen deutlichen Bezug auf sie nahm.

Wahrscheinlich stammen beide Ausdrücke (besonders der Begriff „Reich der Himmel“) aus dem Buch Daniel, wo sie in Kapitel 2,44 in folgende Worte gekleidet werden: „der Gott des Himmels wird ein Königreich aufrichten, das in Ewigkeit nicht zerstört werden wird“. In Kapitel 4,26 lesen wir Ähnliches: „… sobald du erkannt haben wirst, dass die Himmel herrschen“. In dem Gesicht über den Sohn des Menschen (dieser Titel wird in den Evangelien auf unseren Herrn bezogen und er blieb auch bis in den Tod mit ihm verbunden) sehen wir es noch deutlicher, wenn er „mit den Wolken des Himmels“ kommen wird und ihm Herrschaft und Herrlichkeit und Königtum gegeben wird, wobei das Königtum „ein solches“ ist, „das nie zerstört werden wird“ (Dan 7,13–14). Wir wissen, dass er abgelehnt, verworfen und gekreuzigt wurde, als er sich Israel vorstellte. Aber wir wissen auch, dass wir die Wiederkunft von ihm erwarten, den die Herrlichkeit aufgenommen hat. In der Zwischenzeit, während seines Aufenthalts im Himmel, ist alles, was die eigentliche Entfaltung angeht, außer Kraft gesetzt worden. Das Reich der Himmel besteht in einem Geheimnis. Dagegen wird alles an seinen wahren Platz gelangen, wenn er das Reich persönlich in Empfang nimmt. Eigentlich hätte das Reich beginnen sollen, als er hier auf der Erde erschien, aber er wurde nicht angenommen und deshalb währen die Geheimnisse bis heute, wobei sich der König gleichzeitig im Himmel befindet.

Einige werden derartige Fragen, die solche offensichtlich winzigen Dinge betreffen, als trivial empfinden. Dennoch entfaltet solch eine Untersuchung auf wunderbare Weise den Charakter der Evangelien, die, jedes für sich, ein unabhängiges Zeugnis über die Person und den Charakter des Herrn ablegen. Es ist sicher, dass es nie die Absicht des Heiligen Geistes war, diese Zeugnisse zu einer Einheitsform zu verdichten, wie es die Art und Weise der meisten Harmonisierungsversuche und des Diatessarons (Eine Evangelienharmonie – lat. harmonia evangelica - die unter Berücksichtigung aller Daten über das Leben und Wirken des Herrn, die in den vier kanonischen Evangelien genannt werden, versucht, eine einheitliche Lebens- und Wirkungsgeschichte des Herrn Jesus zu erzählen) ist. Jeder Evangelist besitzt seinen eigenen besonderen Blickwinkel, unter dem er unseren Herrn betrachtet, wobei die vier zusammen ein in sich geschlossenes und wunderschönes Porträt bilden. Unsere Vorstellung von seiner Person muss alle Züge enthalten, die uns die Evangelisten gewähren, um die Gedanken Gottes als Ganzes zu erfassen, der kein einziges Wort umsonst aufschreiben ließ.

[Übersetzt von Stephan Keune. Aus der „Bible Treasury“, Band 10, S. 122–123.]