Es ist unsere Absicht, in die Betrachtung des zweiten der vier großen Propheten einzusteigen. Wir haben hier nicht denselben umfassenden Rahmen des göttlichen Ratschlusses vor uns, wie wir ihn in Jesaja vor uns hatten. Aber wir stehen im Begriff Bekanntschaft mit einem Buch zu machen, das, was die emotionale Seite betrifft, Jesaja in nichts nachsteht. Die erhabenen Züge seines unverwechselbaren Vorgängers passen dabei nicht weniger zu den großartigen Einblicken, die er durch die Inspiration sehen und weitergeben durfte, als der melancholische Stil des Sohnes Hilkijas zu dessen ernstem und berührenden Auftrag.
Jeremia begann seinen prophetischen Dienst, wie er selbst andeutet, im 13. Jahr Josias, des letzten gottesfürchtigen Königs Judas. Es ist das Jahr, das den ersten Bemühungen folgt, die Hauptstadt als auch das ganze Land von den Höhen, der Ascherim sowie den geschnitzten und gegossenen Bildern zu befreien (vgl. 2. Chr 34,4). Die Freude über diese Verheißung fügt der Größe seines Schmerzes allerdings nur hinzu, als sich die Reformation als völlig oberflächlich herausstellt und der bevorstehende Ruin sozusagen nur durch das Leben Josias hinausgeschoben werden kann, der schließlich im Alter von 39 Jahren stirbt. Dann folgen die traurigen Regierungszeiten Joas (=Schallum), den der Pharao Neko dadurch vom Thron stürzt, indem er Eljakim (=Jojakim) ins Amt stellt, der von seinem Sohn Jekonja (=Konja) gefolgt wird. Dieser wird wiederum binnen kürzester Zeit von Nebukadnezar durch „seinen Bruder“ (oder, wie wir es heute sagen würden, dem Bruder seines Vaters), Zedekia (=Mattanja) ersetzt. Unter diesen Königen ereignen sich dann, zeitgleich mit dem Kampf zwischen Ägypten und Babylon, der mit der unanfechtbaren Weltherrschaft der Babylonier endet, die abschließenden Katastrophen Jerusalems, welche in die unterschiedlichen Phasen der Gefangenschaft Judas münden. Welcher Zeitpunkt hätte passender sein können, die Übungen eines Herzens, wie Jeremia es besaß, auszudrücken? Diese Seelenübungen, die vom Heiligen Geist gewirkt werden, sind, was die Umstände und Personen angeht, die Form, in welche die einzelnen Teile der Prophezeiungen gegossen werden.
Was die äußere Struktur angeht, hat vielleicht kein anderes Buch die Kritiker so verwirrt wie dieses, sodass sich einer von ihnen, Dr. Blayney, angemaßt hat, es als einen „absurden Mix von zusammenhangslosem Material“ zu bezeichnen. Offensichtlich ist es bereits sehr früh schwierig gewesen, die Anordnung des Buches zu verstehen, was wir z. B. daran sehen können, wie auffällig unterschiedlich große Teile in der Septuaginta wiedergegeben werden. Ein Vergleich zeigt folgendes:
LXX Hebräisch
Kapitel 25,14–18 Kapitel 49,34–39
„ 26 46
„ 27–28 50–51
„ 29,1–7 47,1–7
„ 29,7–22 49,7–22
„ 30,1–5 49,1–6
„ 30,6–11 49,28–33
„ 30,12–16 49,23–27
„ 31 48
„ 32 25,15–39
„ 33; 51 26; 45
„ 52 52
Dr. Blayney hat versucht das Ganze chronologisch zu ordnen. Jedes Vorhaben dieser Art wird allerdings deutlich machen, dass weder das hebräische Original noch die Übersetzung der 70 einer zeitlichen Ordnung folgt.
Ich zweifle nicht daran, dass die hebräische Ausgabe, der die AV folgt, die Ordnung enthält, die dem inspirierten Schreiber (ob das jetzt Esra oder Baruk ist, tut nichts zur Sache) hinterlassen wurde, um das letzte Kapitel anzufügen, welches die Prophetie in passender Weise abrundet und gleichzeitig als eine Art Einleitung des Anhangs, nämlich der Klagelieder, des Propheten dienen. Kurz gesagt scheint die Nichtbeachtung einer zeitlichen Ordnung auf eine moralische Ordnung hinzuweisen, die, wie so oft in der Schrift, der Aufmerksamkeit derer entgangen ist, die nicht über die Beachtung rein äußerlicher Punkte hinauskommen.
Kapitel 25 hat eine verbindende Funktion zwischen der ersten und zweiten Hälfte dieses Buches. Die Anfangskapitel fallen zweifellos unter die ersten Aussprüche des Propheten und beschäftigen sich größtenteils mit Appellen an das Gewissen der Juden. Außerdem umfassen sie die Warnung über das unausweichliche Gericht Gottes, das vor der Tür steht. Natürlich beschränkt sich der Inhalt der ersten Kapitel nicht darauf. In diesem zentralen Kapitel wird das Gericht ganz klar vorhergesagt. Und dieses Gericht soll zunächst über das Land Juda und seine Nachbarn kommen. Nach einer Zeit der Knechtschaft von 70 Jahren trifft das Gericht dann auf den König von Babylon und das Land der Chaldäer. Wir lesen in Jeremia 25,13–19: „Und ich werde über jenes Land alle meine Worte bringen, die ich über es geredet habe: alles, was in diesem Buch geschrieben steht, was Jeremia geweissagt hat über alle Nationen. Denn viele Nationen und große Könige werden auch sie dienstbar machen; und ich werde ihnen nach ihrem Tun und nach ihrem Werk ihrer Hände vergelten. Denn so hat der HERR, der Gott Israels, zu mir gesprochen: Nimm diesen Becher Zornwein aus meiner Hand und gib ihn allen Nationen zu trinken, zu denen ich dich sende; damit sie trinken und taumeln und rasen wegen des Schwertes, das ich unter sie sende. Und ich nahm den Becher aus der Hand des HERRN und ließ alle Nationen trinken, zu denen der HERR mich gesandt hatte: Jerusalem und die Städte von Juda und ihre Könige, ihre Fürsten, um sie zur Einöde, zum Entsetzen, zum Gezisch und zum Fluch zu machen, wie es an diesem Tag ist, den Pharao, den König von Ägypten, und seine Knechte und seine Fürsten und sein ganzes Volk“.
Es ist also offensichtlich, dass das auserwählte Volk unter das Gericht und die Zerstörung der Nationen getrieben wird. Das Einzige, worauf sie sich durch ihre Ungerechtigkeiten einen Anspruch erworben haben, ist, dass die Züchtigung Gottes zuerst über sie kommt, weil sie diejenigen sind, die sich aufgrund ihrer bevorzugten Stellung und Vorrechte besonders schuldig gemacht haben. Das wirft ein helles Licht auf den Ausdruck in Kapitel 1,5: „zum Propheten an die Nationen habe ich dich bestellt“. Wie die verborgenen Ratschlüsse der göttlichen Gnade auch aussehen mochten, so war jetzt der Augenblick in den öffentlichen Regierungswegen Gottes gekommen, wo Juda „Lo-Ammi“ (Nicht-mein-Volk) werden sollte. Natürlich ändert das nichts daran, dass Gott sie später einmal am Tag der Segnung und Herrlichkeit in seiner Barmherzigkeit wiederherstellen wird. Dennoch ist es so, dass sie durch den Götzendienst (und nach einer göttlich vollkommenen Wartezeit auf Gottes Seite) zwischenzeitlich von ihrer einzigartigen Stellung, das Volk Gottes auf der Erde zu bilden, enthoben wurden. Wir sehen, dass das noch immer der Fall ist, wissen aber auch, dass sie nicht für immer verstoßen sind, „denn die Gnadengaben und die Berufung Gottes sind unbereubar“ (Röm 11,29). Die „Zeiten der Nationen“ und die Zerstreuung Israels sind ein beredtes Zeugnis davon.
Wir können also das Buch Jeremia in zwei große und fast gleich lange Teile gliedern: der Erste geht bis Kapitel 25 und besteht aus moralischen Appellen an das Volk. Der Zweite geht von diesem Kapitel weiter und stellt Einzelheiten des Gerichts über Israel und die Nationen dar, in denen sie sozusagen verschwinden; mitten in diesen Gerichtsankündigungen erinnert sich Gott an seine Barmherzigkeit und stellt sie vor dem Hintergrund des neuen Bundes durch seine unfehlbare Gnade wieder her.
Innerhalb dieser beiden Hauptteile gibt es natürlich noch weniger verbundene Abschnitte. Kapitel 1 zeigt uns die Berufung des Propheten. Kapitel 2–6 gehören zusammen und enthalten seine erste schwere Auseinandersetzung mit dem Volk. Die Kapitel 7–10 zeigen uns das Haus Gottes als Zeugen der Sünde des Volkes und des Startpunkts seines Gerichts. Sie erklären, dass sich Israel wegen seiner Gleichgültigkeit dem HERRN gegenüber ein Beispiel an den Vögeln des Himmels nehmen soll, deren Bewegungen und Zeiten sehr lehrreich sind (vgl. Jer 9,9). Obwohl er es mit großem Schmerz tut, muss der Prophet darauf bestehen, dass das göttliche Gericht sowohl auf sie als auch auf die umliegenden Nationen kommen muss. In den Kapiteln 11–13 werden sie an den gebrochenen Bund ihrer Väter erinnert, was jeder Vermittlung den Boden entzieht. Dennoch schließen sich Worte an, die über wiederherstellende Güte in der letzten Zeit sprechen. Abgeschlossen wird dieser Abschnitt mit einer ernsten Verurteilung der überheblichen Ungerechtigkeit Judas. Kapitel 14 und 15 machen die Anerkennung der göttlichen Zucht durch die Ausübung einer Hungersnot deutlich, zeigen aber auch die Tränen des Propheten und sein Bekenntnis für das Volk. Doch es folgt die Versicherung des HERRN, dass selbst Mose noch Samuel ihn zu denen hinwenden könnte, über die seine Entscheidung gefallen war, sie zu verlassen und zu zerstreuen. Kapitel 16 und 17 stellen die Trennung des Propheten von dem Volk vor, unterstreichen aber, dass der Segen letztendlich kommen wird. Außerdem geht es um den Wert, dem HERRN zu vertrauen und um den Ruf zur Buße. Ein plastisches Bild der religiösen Verhärtung gegenüber Gott ist das Thema der Kapitel 18–20, verbunden mit der Abscheu des Propheten, der das Volk durch Gerichtsankündigungen und einer tiefen inneren Anteilnahme zur Besinnung ruft. Eine Besonderheit zeigt sich in Kapitel 21–24 dahingehend, dass der Geist die beeindruckende Antwort Jeremias an Zedekia zum Anlass nimmt, um die einzelnen Gerichtsurteile über die Nachfolger Josias, d. h. Schallum, Jojakim und (Je-) Konja zu verkünden. Das Wehe über diese selbstsüchtigen Hirten wird durch die Verheißung des HERRN, David einen gerechten Spross zu erwecken, gefolgt. Das nimmt allerdings nichts von der Schärfe des Tadels weg, wobei in dem Bild der beiden Feigenkörbe eine Unterscheidung zwischen Gerechten und Gesetzlosen getroffen wird. Obwohl die Botschaft von Kapitel 25 zeitlich früher einzuordnen ist, schließt es den ersten Teil, wie wir bereits gesehen haben, ab. Es erklärt dabei die Absicht Gottes, alles dem König Babylons anzuvertrauen, der schließlich selbst dem Gericht ausgesetzt sein würde.
Der zweite Teil besteht aus mehr unzusammenhängenden Abschnitten, die nähere Einzelheiten enthalten. Kapitel 26, das zeitlich dem Beginn der Regierung Jojakims zuzuordnen ist, zeigt die Auswirkung, die der Ruf zur Buße von ihren Sünden durch Jeremia, hat. Hier kommt auch der Wunsch zum Ausdruck, dass Gott sich von dem Bösen abwenden möge, das sonst unausweichlich über sie kommen müsste. Die Kapitel 27 und 28 führen uns zu dem Beginn der Regierung Zedekias (nicht „Jojakims“, wie es die Abschreiber irrtümlich einfügten), vgl. V. 3.12.20 und Kapitel 28,1. Gott hatte souverän in Bezug auf die Regierung der Welt gehandelt und warnt hier nicht nur den König Judas, sondern auch dessen Nachbarn, vor der unvermeidbaren Unterwerfung unter den König Babylons. Der Tod Hanajas unterstreicht diese Warnung eindrücklich. Kapitel 29 verbindet den Segen Gottes mit allen, die seine demütigende Hand durch die Herrschaft Babylons anerkennen. Solche würden den Frieden dort finden, wo sie wohnten. Diejenigen jedoch, deren Prophezeiungen abweichen, können nicht als göttliche Botschafter betrachtet und gemäß ihrer Auflehnung dem HERRN gegenüber gerichtet werden. In Kapitel 31 und 32 wird deutlich, dass der Geist die Rückkehr aus der Gefangenschaft nicht auf den Überrest in den Tagen Kores beschränkt, sondern auf die beispiellosen Tage der Drangsal Jakobs vorausschaut, die seiner Befreiung vorausgehen und die Zeit kennzeichnen, in der sie nicht nur dem HERRN, sondern „ihrem König David, den ich ihnen erwecken werde“ (Jer 30,9) dienen werden. Zweifellos eine Bezugnahme auf den Tag des HERRN. Dann werden alle Geschlechter Israels in die Segnungen eingehen, anstatt nur eines Überrests nach Wahl der Gnade, wie es jetzt geschieht und vor dem Kommen Christi der Fall war. Das werden die Tage sein, wenn ganz Israel gerettet werden und die Herrschaft seines Messias unter dem neuen Bund erfahren wird. Kapitel 32 verdeutlicht das Gesagte durch ein Beispiel Jeremias, das ihre Wiederherstellung, ja selbst einen ewigen Bund mit ihnen, zum Gegenstand hat. Jeremia 33 lehrt uns, dass es zu dem Zeitpunkt, an dem der HERR die Gefangenschaft Judas und Israels wenden wird, nicht nur zu einer einmaligen Wohlfahrt kommt, sondern, dass der Messias, der „Spross der Gerechtigkeit“, im Land „Recht und Gerechtigkeit“ ausüben wird. Außerdem wird Jerusalem Jahwe-Tsidkenu, d. h. der HERR, unsere Gerechtigkeit, genannt werden (Jer 33,16). Und was für den König gilt, wird auch für das Priestertum gelten, und das für immer. Kapitel 34 betont noch einmal die Endgültigkeit, mit der der unmittelbar bevorstehende Ruin über Jerusalem und Juda kommen würde, wobei auch Einzelheiten erwähnt werden. Kapitel 35 stellt die Rekabiter, die ihrem Vater gehorsam sind, dem Ungehorsam Judas gegenüber. Kapitel 36 zeigt die Treue Gottes, trotz der Gefangennahme Jeremias und der Überheblichkeit Jojakims sein Zeugnis aufrechtzuerhalten. In den Kapiteln 37 bis 39 gibt uns Gott ein weiteres Zeugnis für diese Wahrheit unter Zedekia. Günstige Umstände können dem Wort Gottes seine Kraft nicht rauben, ebenso wenig, wie es dort keine Sicherheit geben kann, wo ihm nicht vertraut wird. Etwas Ähnliches bezeugen die Kapitel 40–44 von den Übriggebliebenen, nachdem es zum entscheidenden Schlag der Chaldäer gegen Jerusalem gekommen ist; das Volk steht den Königen in Sachen Untreue und Auflehnung in nichts nach und erntet das, was sie gesät haben, ob in Ägypten oder im Land. In Kapitel 45 versichert ein trauriger und gedemütigter Baruk das Eintreffen der Gerichte Gottes, spricht aber gleichzeitig von seiner persönlichen Bewahrung. Kapitel 46–49 zeigen uns Einzelheiten über sein Handeln mit den Heiden im Land, wogegen uns die Kapitel 50 und 51 das Gericht über die imperiale Macht Babylons selbst vorgestellt wird. Dieses Gericht wird gleichzeitig der Anlass und Weg für die Rückkehr Israels in ihr Land und zu ihrem HERRN und Gott sein.
Obwohl das 52. Kapitel nicht von Jeremia verfasst wurde, bildet es einen passenden Abschluss dieses Buches, indem es die Verbindung der Chaldäer mit dem König, der Hauptstadt und dem Tempel zeigt. Die Plünderung der Stadt und des Heiligtums ist ebenso wie die Gefangenschaft des Volkes vollständig. Gott hatte es weder versäumt die Vormachtsstellung Babylons vorherzusagen, noch den Wert einer Unterwerfung unter Babylon, der Zuchtrute für die Sünde Judas.
[Übersetzt von Stephan Keune]