Hat der Herr Jesus am Kreuz in den drei Stunden der Finsternis sühnende Leiden erduldet bevor er starb, oder wurde die Sühnung allein durch den Tod des Herrn Jesus bewirkt?

Die nachfolgenden Zeilen sind eine Entgegnung auf die Auffassung, dass für die Sühnung der Sünden allein der Tod Christi nötig war und dass man in der Bibel keinen Hinweis darauf findet, dass der Herr in den drei Stunden der Finsternis sühnende Leiden von Seiten Gottes erduldet hat.

Der Charakter der Sünde in den Augen Gottes

Sünde ist für den heiligen und gerechten Gott, der Licht ist, und in dem gar keine Finsternis ist (1. Joh 1,5), der „zu rein von Augen [ist], um Böses zu sehen“ (Hab 1,13) etwas Unerträgliches. Bereits die Sünde des ersten Menschenpaares zeigt, wie Gott durch sie beleidigt und verunehrt wurde. Adam und Eva waren nicht nur ungehorsam und missachteten damit die Autorität ihres Schöpfers, sondern stellten mit ihrem Tun auch unter Beweis, dass sie sowohl an der Wahrhaftigkeit Gottes (sie glaubten der Schlange mehr als Gott) und an seiner Liebe und Güte (obwohl er sie in paradiesische Verhältnisse gestellt hatte, war ihnen dies nicht genug) zweifelten.

Im Lauf der Jahrtausende und bis heute hat sich dieser Charakter millionen- und milliardenfach gezeigt. Darüber hat Gott einen heiligen und gerechten Zorn (Joh 3,36; Röm 1,18; 9,22; Eph 5,6; Off 14,10 u.v.a); er hasst das Böse (z.B. Sach 8,17; Off 2,6) und muss Sünde richten und Genugtuung bekommen. Gleichzeitig ist er auch Liebe und will die Welt erretten und nicht richten; er wird aber alle richten, die nicht an seinen Sohn glauben (Joh3,16–18). Dieses Gericht beinhaltet nicht nur den leiblichen Tod, der schon Adam angekündigt wurde, sondern den „zweiten Tod“, den Feuersee (Off20,14), das vollständige und endgültige Verlassensein von Gott in ewiger Pein – ewiges Verderben weg vom Angesicht des Herrn (2. Thes 1,9).

Christus – das Sühnmittel

Der Ausweg und die Grundlage dafür, dass Gott Adam und Eva nicht gleich mit dem leiblichen Tod bestraft hat, und auch dafür, dass er jetzt Gnade erweisen kann und trotzdem sich selbst nicht untreu wird, ist das Werk, dass der „Nachkomme der Frau“, unser Herr (1. Mo 3,15), ausgeführt hat, den Gott „gesandt hat als Sühnung für unsere Sünden“ (1. Joh 4,10). Gott hat den Herrn Jesus dargestellt als ein Sühnmittel (Röm 3,25), „durch den Glauben an sein Blut, zur Erweisung seiner Gerechtigkeit wegen des Hingehenlassens der vorher geschehenen Sünden“. Gott hat dieses Werk die ganzen Jahrtausende hindurch vor sich gehabt und konnte nur aus diesem Grund nachsichtig mit dem Menschen sein, obwohl dieser ihn fortlaufend beleidigte.

Durch das Werk des Herrn auf Golgatha ist der höchste Beweis dafür erbracht, dass Gott gerecht ist, wenn er so handelt und sich nicht untreu wird. Der Herr Jesus hat Gott vollkommen verherrlicht (Joh 13,31), d.h. seine Vollkommenheit in allen Punkten sichtbar gemacht. Am Kreuz hat der Herr endgültig bewiesen, dass die Schlange Unrecht hatte, dass Gottes Majestät nicht ungestraft missachtet werden kann und dass er wahrhaftig ist und nicht lügen kann, aber auch, dass er Liebe ist und nur segensreiche und gute Absichten hat.

Der Kelch, den der Herr getrunken hat, ist der Kelch des Zorns Gottes, den der Sohn Gottes in den drei Stunden der Finsternis getrunken hat. Der Herr ist auf Golgatha, wo er „unsere Sünden an seinem Leib auf dem Holz getragen hat“ (1. Pet 2,24), unser Stellvertreter geworden und hat dort den heiligen Zorn Gottes über die Sünde in vollem Ausmaß zu spüren bekommen. Er wurde dort „für uns zur Sünde gemacht“ (2. Kor 5,21), d.h. Gott hat in seiner Person die Sünde vor sich gehabt und bestraft, wie er uns in Ewigkeit hätte bestrafen müssen. Er hat dort die Sünde im Fleisch verurteilt, damit wir freigemacht werden können (Röm 8,3).

Die Wortwahl in Jesaja 53

Dieses Gericht, diese gerechte Bestrafung, die wir verdient hatten, ist, wie ich nicht zweifle, gemeint, wenn Jesaja schreibt: „... um unserer Übertretungen willen war er verwundet, um unserer Ungerechtigkeiten willen zerschlagen. Die Strafe zu unserem Frieden lag auf ihm, und durch seine Striemen ist uns Heilung geworden … der Herr hat ihn treffen lassen unser aller Ungerechtigkeit [oder Strafe]“ (Jes 53,5.6).

Die Wortwahl des Heiligen Geistes, „verwundet“, „Strafe“, „lag auf ihm“, „Striemen“ lässt mich hier an ein Geschehen denken, das mehr meint als den Tod, diesen aber einschließen kann. „Verwundet“ sein ist nicht dasselbe wie sterben. Wenn Strafe auf ihm lag, heißt das auch nicht unbedingt und ausschließlich Tod, sondern kann ebenso eine Last meinen, die zu tragen und auszuhalten ist; „Striemen“ sind eindeutig Spuren von Schlägen, die ebenfalls nicht zwingend zum Tod führen müssen.

Auch der Ausdruck „zerschlagen“, der ja ebenfalls in V.10 verwendet wird, deutet an, dass es um einen Vorgang vor dem Tod geht, der äußerst starke Schmerzen verursacht, daher wird er in V.10 auch mit „leiden lassen“ verbunden.

Für mich ist andererseits sehr klar, dass diese Ausdrücke nicht Leiden meinen können, die dem Herrn durch Menschen zugefügt wurden, denn sie wären nicht in der Lage, Heilung zu bewirken, weder vor dem Kreuz (z.B. die Geißelung, woran man bei Striemen denken könnte) noch auf dem Kreuz (selbst wenn man an den Tod des Herrn als bloße Folge der Kreuzigung denken würde). Es würde dem offenbarten Wesen Gottes widersprechen und der Sünde etwas von ihrem bösen, gegen Gott selbst gerichteten, Charakter nehmen, wenn man annehmen würde, dass Menschen (wenn auch unter der Vorsehung Gottes und seiner Zulassung) durch ihr böses Tun dazu beigetragen hätten, dass Heilung bei Sündern bewirkt wurde. Wenn V.10 sagt, dass der HERR ihn zerschlagen hat, heißt das für mein Verständnis ganz klar, dass Gott selbst aktiv und unmittelbar gehandelt hat. Sein gerechter Knecht musste von Gottes eigener Hand fremder Schuld und Sünde wegen leiden.

Christus hat für Sünden gelitten

Petrus schreibt im ersten Brief, dass „Christus einmal für Sünden gelitten“ hat (1. Pet 3,18). Es heißt hier nicht, dass Christus für Sünden gestorben ist, was ebenfalls wahr ist (1. Kor 15,3). Hier bedeutet Leiden mehr als den Tod, schließt diesen aber ein, wie der Vers weiter nahelegt. Im Zusammenhang der Stelle will Petrus sagen: Leiden für Gutes tun kann für einen Christen der Wille Gottes sein, Leiden für Böses tun aber nicht, denn der einzige, der Leiden für Sünden entsprechend dem Willen Gottes tragen sollte, war Christus[1].

Wenn wir für Böses, das wir tun, leiden müssen, bedeutet dies in der Regel (Gott sei Dank!) nicht den Tod. Die Leiden Christi fremder Sünde wegen, bedeuteten den Tod, aber eben nicht ausschließlich, sondern es geht auch hier um mehr.

Kein Pauschalgericht

Im Hinblick auf den oben erwähnten entehrenden und beleidigenden Charakter der Sünde und die ewige Strafe für den Sünder, bin ich fest davon überzeugt, dass die Sühnung der Sünden mehr erforderte als den Tod des Herrn, so fundamental wichtig dieser auch ist. Gott ist gerecht und verurteilt die Sünder „nach dem, was in den Büchern geschrieben war, nach ihren Werken. …und sie wurden gerichtet, jeder nach seinen Werken“ (Off 20,12.13). Die Bibel lehrt eindeutig, dass es kein Pauschalgericht geben wird, sondern dass jede einzelne Sünde von Gott registriert und bewertet wird und die Strafe entsprechend ausfallen wird.

Der Herr hat auf Golgatha, in Ehrfurcht gesagt, auch keine pauschale Strafe für die Sünden empfangen – das würde nach meinem Verständnis der Gerechtigkeit Gottes und seinem Handeln mit dem Sünder völlig widersprechen –, sondern hat jede einzelne vor Gott gebracht und die gerechte Strafe dafür empfangen. Christus hat für Sünden gelitten. Wie dies in den drei Stunden der Finsternis möglich war, bleibt für mich unbegreiflich; dieses Leiden für die Sünde nur auf seinen Tod zu beziehen, scheint mir aber zu kurz gegriffen zu sein.

Die Symbolik des großen Versöhnungstages

Eine weitere Stelle von Bedeutung ist Hebräer 13,11.12. Auch hier ist von den Leiden Jesu die Rede, die er außerhalb des Tores gelitten hat. Es wird hier Bezug genommen auf einen Vorgang am Versöhnungstag (3. Mo 16,27), wo die toten Körper der Opfertiere außerhalb des Lagers gebracht und dort verbrannt werden mussten.

Dabei ist es sehr lehrreich zu sehen, wie der Schreiber diesen Vorgang auslegt. Die Tiere wurden ja erst geschlachtet, das Blut gesprengt, das Fett geräuchert und schließlich wurden die Körper verbrannt. Wir würden nach menschlichem Verständnis schon wegen der Chronologie die Leiden des (lebendigen) Christus nicht mit dem Verbrennen von bereits geschlachteten Tieren in Verbindung bringen. Wie wir hier belehrt werden, ist aber selbst das Verbrennen ein Vorgang, der auf das Geschehen auf Golgatha hinweist, denn dieser Ort ist ohne Frage mit dem Ausdruck „außerhalb des Tores“ gemeint.[2]

Ohne Frage hat Christus auch in seinem ganzen Leben gelitten. Die Leiden in den drei Stunden der Finsternis auf Golgatha waren aber besondere Leiden, für die es Gott gefallen hat, den Vorgang des Verbrennens als vorbildliche Handlung anzuordnen. Das Verbrennen mit Feuer ist auch ein bekanntes Bild aus dem AT für Gericht Gottes (sowohl läuternd als auch strafend, verderbend), das im NT mehrfach aufgegriffen wird. Wir dürfen daher bei den Leiden in Hebräer 13,12 ebenfalls an Leiden des Gerichts denken, die den Herrn Jesus auf Golgatha getroffen haben. Der Herr hat das Gericht Gottes über die Sünden und die Sünde bis zum bitteren Ende erdulden müssen.

Auch in diesem Vers werden die Leiden wieder mit seinem Blut (seinem Tod) verbunden, so wie am Versöhnungstag auch das Blut zur Anwendung kam. Der Tod ist sozusagen der Schlusspunkt dieser Gerichtsleiden.

Übrigens geht es hier um die Sündopfer, die verbrannt werden mussten. Diese Sündopfer am Versöhnungstag waren die einzigen Sündopfer, von denen kein Israelit, nicht einmal ein Priester, essen durfte, sondern die (abgesehen vom Blut und Fett) komplett verbrannt werden mussten (3. Mo 6,23). Dieses kleine Detail bestätigt mich in der Auffassung, dass es bei den Leiden in Hebräer 13,12 um Gerichtsleiden zur Sühnung der Sünde geht. Hier kann kein Mensch auch nur den kleinsten Anteil haben.

Der Versöhnungstag gibt auch noch einen weiteren Hinweis darauf, dass das Werk der Sühnung, das der Herr vollbracht hat, mehr umfasst als den Tod des Erlösers. Für das Volk wurden zwei Ziegenböcke als Sündopfer gebracht. Der eine Bock wurde geschlachtet und von seinem Blut wurde in das Allerheiligste auf den Deckel der Bundeslade gebracht. Der zweite Bock, Asasel, wurde lebendig vor den Herrn gestellt (was dreimal gesagt wird), um ihn, beladen mit allen Sünden der Kinder Israel, lebend in die Wüste fortzuschicken (wo er dann sicherlich zugrunde gegangen ist, aber dies ist nicht Teil des Bildes).

Außer dem Vogel, der für die Reinigung eines Aussätzigen oder eines Hauses geopfert wurde (3. Mo 14), gibt es meines Wissens kein anderes Lebewesen im Gesetz, das lebendig als Opfer behandelt wurde. Trotzdem heißt es ausdrücklich auch für das Opfern des lebendigen Bockes, dass hierdurch Sühnung geschah (3. Mo 16,10).

Die göttlich-inspirierte Auslegung des Versöhnungstags (im Hebräerbrief) spricht wiederholt von dem einen Opfer, das Christus gebracht hat, das im Gegensatz steht zu den vielen Opfern und zu deren andauernder Wiederholung. Insofern können die Opfer am großen Sühnungstag auch nur zusammengenommen als vollständiges Bild der Sühnung gesehen werden. Alle Opfer dieses Tages stellen für sich gesehen einzelne Aspekte des umfassenden und gewaltigen Werkes dar. Tatsächlich bietet der Hebräerbrief auch hierfür den Beweis, indem er sowohl von dem Blut und dem Verbrennen der Sündopfer spricht, die geschlachtet worden sind, als auch auf den zweiten Bock hinweist, der ein Bild von Christus ist, „der einmal geopfert worden ist, um vieler Sünden zu tragen“ (Heb 9,28).

Die Symbolik dieses Tages passt in das Bild, das ich versucht habe, darzulegen. Das Tragen der Sünden des Volkes ist genauso ein Teil des einen Opfers unseres Herrn wie das Blutvergießen und findet ebenso auf Golgatha statt, aber es handelt sich um Aspekte, die wir unterscheiden dürfen. Ich sehe deshalb auch keine Schwierigkeit darin, das Tragen der Sünden zeitlich in die drei Stunden der Finsternis einzuordnen, die dem Tod des Herrn unmittelbar vorausgehen, auch wenn der Bock Asasel erst nach dem ersten Bock, der getötet wurde, geopfert wird.[3]

Übrigens unterstreicht die Anweisung, dass „alle Ungerechtigkeiten der Kinder Israel und alle ihre Übertretungen nach allen ihren Sünden“ auf den Kopf des lebendigen Bockes bekannt werden sollten (3. Mo 16,21), dass es bei der Sühnung nicht nur um Gottes Abrechnung mit der Sünde als Prinzip geht, sondern dass alle einzelnen Verfehlungen zur Sprache kommen müssen. Christus hat „unsere Sünden an seinem Leib auf dem Holz getragen“. „Er ist die Sühnung für unsere Sünden“.

Von Gott verlassen

Ich möchte nun zu dem Ausruf des Herrn in Matthäus 27,46 kommen: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“. Ich bin davon überzeugt, dass wir wissen können, warum der Herr diese Frage gestellt hat und dass wir nicht über die offenbarte Wahrheit hinausgehen, wenn wir auf diese Frage eine Antwort geben. Das möchte ich auch mit der Schrift belegen.

Psalm 22 spricht prophetisch von Christus

An vielen Stellen im NT finden wir Zitate und Wendungen aus diesem Psalm. Alle beziehen sich auf Christus. Matthäus 27,46 und Markus 15,34 geben den Ausruf aus V.2 wieder. In Matthäus 27,43 zitieren die Hohenpriester, Schriftgelehrten und Ältesten fast wörtlich V.9. Im NT wird bezeugt, dass der Herr gekreuzigt wurde, indem er durch Hände und Füße angeschlagen o. angeheftet wurde (Apg 2,23; Lk 24,40), und so wurde V.17b erfüllt. Lk 23,34 und Joh 19,24 zeigen, dass sich auch V.19 am Kreuz erfüllt hat, als die Soldaten die Kleider des Herrn verteilten und Lose darüber warfen. Johannes fügt extra hinzu „die Soldaten nun haben dies getan“. Er sagt nicht „ähnliches“ oder „vergleichbares“, sondern „dies“. Schließlich führt Hebräer 2,12 den V.23 an, was wiederum Christus zugesprochen wird „indem er spricht“.

Dieser Psalm weist in erstaunlicher Weise auf das Kreuz auf Golgatha und die Auferstehung des Messias hin. Insofern bin ich auch davon überzeugt, dass der Ausruf in V.2 prophetisch zu verstehen ist (und objektiv nur auf Christus anzuwenden ist, siehe unten). Wir haben damit tatsächlich ein Zeugnis Gottes im AT, dass der Messias von Gott verlassen werden würde.

Das Verlassensein war nicht nur ein subjektives Empfinden

Der Herr war tatsächlich von Gott verlassen, es war nicht nur sein Empfinden. Wenn der Herr so etwas sagt (und die Frage ist ja auch nicht, ob er verlassen war, sondern warum), dann entspricht das auch objektiv der Wahrheit. Er ist die Wahrheit in Person (Joh 14,6) und seine Worte können das nur bestätigen (Joh 8,25).

Wenn David so etwas aufschrieb, dann mag dies sein subjektives Empfinden in großer Not gewesen sein. Auch von anderen Gläubigen wird Ähnliches gesagt, wie z.B. von Jona (2,5). Hiob mag auch so gedacht haben. David selbst bekennt aber an anderer Stelle: „Ich war jung und bin auch alt geworden, und nie sah ich den Gerechten verlassen“ und weiter „der Herr […] wird seine Frommen nicht verlassen“ (Ps 37,25.28).

Es gibt im AT mehrere Stellen, in denen davon gesprochen wird, dass Gott sein Volk aufgrund ihrer Untreue verlassen hat, doch es wird – außer in Psalm 22,2 – nur an einer Stelle gesagt, dass Gott eine einzelne Person verlassen habe (2. Chr 32,31). Hier hat der Ausdruck aber eher die Bedeutung von: Gott stand ihm nicht bei. Diese Tatsache ist von großer Wichtigkeit. David, Jona, Hiob oder auch Hiskia waren nämlich von Natur aus Sünder, und hätten bzw. haben Gott insofern Grund gegeben, sie zu verlassen. Wenn er den Heiligen und Gerechten verlassen hat, der keine Sünde tat (1. Pet 2,22), der Sünde nicht kannte (2. Kor 5,21) und in dem keine Sünde war (1. Joh 3,5), wie die Apostel Petrus, Paulus und Johannes bezeugen, konnte es in ihm selbst keinen Grund geben.

Der Schluss, dass dies geschah, weil er mit unseren Sünden beladen war und stellvertretend für uns den heiligen Zorn Gottes im Gericht über die Sünden erduldet hat als er, zur Sünde gemacht, am Kreuz hing, ist für mein Verständnis nicht nur erlaubt, sondern sehr naheliegend. Ich bin zutiefst davon überzeugt und habe versucht darzulegen, dass wir nicht über die offenbarte Wahrheit hinausgehen, wenn wir dieses bekennen. Gott ist zu rein von Augen, um Sünde zu sehen (Hab 1,13), es kann keine Gemeinschaft zwischen ihm und Sünde geben. Er musste sich von dem abwenden, der in unbegreiflicher Liebe und Gnade gekommen ist, um sich selbst für unsere Sünden hinzugeben (Gal 1,4). In den drei Stunden der Finsternis, als er von seinem Gott verlassen war, wurde der Herr Jesus Christus arm wie nie ein Mensch arm geworden ist, damit wir durch seine Armut reich würden (2. Kor 8,9).

Das „Geheimnis“ seiner Person

An dieser Stelle stehen wir vor dem Geheimnis der wunderbaren Person Jesus Christus, wahrer Gott und wahrer Mensch. Dieses können und werden wir nie verstehen, sondern in Ewigkeit bewundernd anbeten. Wie kann eine Person, die selbst Gott ist, von Gott verlassen werden? Wir betreten hier heiligen Boden und müssen bei dem bleiben, was die Schrift sagt. Die Schrift sagt eben nicht, dass Gott von Gott verlassen wurde, sie sagt nicht einmal, dass der Vater den Sohn verlassen hat. Was sie sagt ist, dass „Jesus“ diesen Ausruf tat (Mt 27,46), der Name, den der Herr als Mensch trägt.

Der Wechsel in der Anrede

Der bedeutsame Wechsel in der Anrede des Herrn an seinen Gott ist ein weiteres Indiz dafür, dass er in dieser Zeit „für Sünden gelitten“ hat. Dabei ist auffällig, dass der Herr in den ersten Stunden auf dem Kreuz und auch direkt vor seinem Sterben noch Gott als „Vater“ angeredet hat (Lk 23,34.46). In der Zwischenzeit gibt es diesen besonderen Wechsel in der Anrede. Wenn der Herr den Namen „Vater“ gebraucht, spricht dies von ewiger Beziehung, von intimer Nähe und Gemeinschaft. Das Wesen Gottes, der Liebe ist, steht im Vordergrund.

In einer bestimmten Zeit auf dem Kreuz hat der Herr es aber (in besonderer Weise) mit „Gott“ zu tun, ein Name, der höchste Autorität bedeutet, der Gottes Heiligkeit und Gerechtigkeit vorstellt und damit seine Natur, die Licht ist, in den Vordergrund stellt. Wie oben dargestellt, ist dies in Übereinstimmung damit, dass Gott als der Richter ihn zur Sünde gemacht hat und seinen ganzen Zorn über die Sünde an ihm vollzogen hat.

Was beinhaltet das „Warum“ in dem Schrei des Herrn?

Wir dürfen versuchen, auf die „Warum-Frage“ des Herrn eine Antwort zu geben, ohne über die Schrift hinauszugehen. Wir müssen uns allerdings auch an dieser Stelle hüten, die wunderbare Person unseres Erlösers zu entehren, indem wir Vernunftschlüsse ziehen. Die „Warum-Frage“ scheint mir der Ausdruck unergründlichen Schmerzes seiner Seele zu sein, den der Kontext aus Psalm 22 auch zeigt. Sie zeigt, wie jemand geschrieben hat, wie wirklich und wahrhaftig unser Herr ein Opfer für die Sünde geworden ist. Aus der Frage zu schließen, der Herr habe es wirklich nicht gewusst, warum Gott ihn verlassen hatte, geht viel zu weit.

Psalm 22, als Prophetie auf Christus verstanden, gibt uns hier eine Hilfe. In V.4 gibt der Messias nämlich selbst die Antwort: „Doch du bist heilig“. Es war das Handeln Gottes gemäß seiner Heiligkeit, das Handeln im Gericht über die Sünde und die Sünden, was ihn veranlasste, den Herrn Jesus zu verlassen. Auch wenn dieser Vers nicht im NT zitiert wird, zeigt die Schrift deutlich, dass der Herr selbst, der Heilige und Gerechte, in vollkommener Übereinstimmung mit seinem Gott im Blick auf die Beurteilung der Sünde war. Es war ihm völlig klar, dass Gott Sünde und Sünden richten muss und was dieses Gericht beinhaltete. Er wusste, dass er der Sündenträger werden würde und dieses Gericht zu erdulden hätte.

Schlussfolgerung

Alle diese Gedanken führen mich zu der Überzeugung, dass der Herr Jesus am Kreuz in den drei Stunden der Finsternis sühnende Leiden, bevor er strb, erduldet hat, und dass die Sühnung nicht allein auf den Tod des Herrn Jesus beschränkt werden kann.

Wir sollten nicht spekulieren über Dinge, die uns nicht offenbart sind und keine Antworten geben, wo die Bibel keine gibt. Das würde bedeuten, etwas zu der offenbarten Wahrheit der Schrift hinzuzufügen. Es gibt aber auch die andere Gefahr, nämlich wegzunehmen von dem, was die Schrift lehrt. Möge der Herr uns vor beiden bewahren!



Fußnoten:

  1. Natürlich musste Christus niemals für Böses leiden, das er selbst getan hätte, denn er war ohne Sünde! Die Kraft dieser Stelle besteht in der Ermahnung, auf Christus in seinen Leiden für Sünden zu blicken, um selbst vor dem Sündigen bewahrt zu werden. Jede einzelne unserer Sünden hat zu seinen Leiden beigetragen!
  2. Es sind also in erster Linie die Handlungen am Versöhnungstag, die vorbildlich zu verstehen sind, nicht die Chronologie derselben. Im Gegenteil, wenn man versucht, die Reihenfolge im Blick auf das Sühnungswerk zu vergeistlichen, kommt man auf gefährliche Irrwege.
  3. Siehe die Anmerkung zur Chronologie des Versöhnungstages (bzw. Sühnungstages).