Salomo war ein begnadeter und eifriger Dichter. Er verfasste 3000 Sprüche und 1005 Lieder (1. Kön 5,12). Von seinen Sprüchen sind viele erhalten geblieben, von seinen Liedern sind nur zwei übrig geblieben: Psalm 127 und das Lied der Lieder.[1]

Dieses Lied zeigt eindrücklich die Liebe zwischen der Braut Sulamith und ihrem Bräutigam Salomo. Dabei fällt auf, dass die Liebe der Braut nicht so reif und beständig wie die Liebe des Bräutigams ist. Um diesen Unterschied zwischen Braut und Bräutigam soll es im Folgenden gehen. Wir wollen das Geschehen dabei unter dem Blickwinkel beleuchten, dass die Braut auf uns und unsere mangelnde Liebe hinweist, während der Bräutigam ein Bild des Herrn Jesus ist, der uns stets mit vollkommener Liebe umgibt.

Die Worte  

Die Worte der Braut nehmen in diesem Bibelbuch einen deutlich größeren Raum ein als die Worte des Bräutigams. Sie kommuniziert nicht nur mit dem Bräutigam, sondern auch viel mit anderen, zum Beispiel mit den Töchtern Jerusalems (Hld 1,5.6; 5,16 etc.). Das allein wäre noch nicht auffällig. Doch vergleichen wir dieses Verhalten einmal mit dem des Bräutigams! Er redet ständig zu seiner Geliebten und offenbart ihr seine Liebe. Lediglich zweimal wendet sich der Bräutigam nicht an seine Braut (Hld 5,1b und 6,8.9). Zeigt uns das nicht, wie sehr der Bräutigam die Braut liebt und wie viel ihm daran liegt, dass sie um seine Liebe weiß?

Unsere Herzen sind oft nicht völlig auf den Herrn Jesus ausgerichtet. Das können unsere Worte auf verschiedene Weise offenbar machen. Er aber ist uns immer zugeneigt und unermüdlich bemüht, unsere Herzen auf sich und seine Liebe zu lenken und sie brennend zu machen (vgl. 2. Thes 3,5; Lk 24,32).

Die Erfahrungen

Was wir soeben gesehen haben, wird noch klarer, wenn wir einen weiteren Unterschied zwischen Braut und Bräutigam ins Auge fassen: Die Braut ist immer wieder mit sich und ihrer Vergangenheit beschäftigt, in der nicht alles glattlief. Sie redet von ihren vielfältigen Erfahrungen, die sie gemacht hat, als der Bräutigam nicht an ihrer Seite war (Hld 1,5; 3,1–5; 5,2–8).

Bei dem Bräutigam ist das anders. Alles dreht sich bei ihm um die Braut. Am Tag der Vermählung ist er nicht mit seiner herrlichen Prachtsänfte und seiner prächtigen Krone beschäftigt, sondern ihn fesselt die Schönheit seiner Braut (Hld 3,9–4,1). Und als die Braut vor seinen Ohren davon spricht, dass sie den Ertrag ihres Weinbergs – immerhin 1000 Sekel Silber – ihrem Bräutigam geben möchte, geht er darauf gar nicht ein. Er will nicht die Silbersekel sehen, sondern ihre Stimme hören (Hld 8,12.13).

Wir sind zu oft mit uns selbst und unseren schmerzlichen Erfahrungen beschäftigt. Gewiss müssen wir uns vor dem Angesicht Gottes richten, aber ansonsten sollten wir von allem wegsehen – hin zu Ihm (vgl. Heb 12,2). Der Herr Jesus zeigt uns auf vollkommene Weise, was es bedeutet, sich dem Gegenstand der Liebe völlig zu weihen. Besonders deutlich wird das in den letzten Stunden seines Lebens auf der Erde. Als der Herr Jesus darüber bestürzt war, dass einer von seinen Vertrauten Ihn überliefern würde, sagte Er zu den Jüngern: „Euer Herz werde nicht bestürzt“ (Joh 13,21; 14,1). Und als Er verhörte wurde und Ihn viele hasserfüllte Augen anstarrten, blickte Er seinen gestrauchelten Jünger Petrus an und bahnte ihm damit den Weg zur Wiederherstellung. Am Kreuz hängend, betete Er für seine rücksichtslosen Feinde, sorgte Er für seine Mutter und tröstete Er den bußfertigen Schwerverbrecher mit der Aussicht auf das Paradies. Das ist selbstlose Liebe!

Das Aussehen

Von der Braut lesen wir, dass sie einen Makel hat: Sie beklagt die starke Bräunung und Verbrennung ihrer Haut, die sie sich bei unfreiwilligen Arbeiten in den Weinbergen zugezogen hat (Hld 1,5). Von dem Bräutigam aber wird gesagt, dass er „weiß und rot“ sei (Hld 5,10). Er sieht gesund und vital aus, die Sonne hat ihn nicht verbrannt (vgl. mit Klgl 4,7.8). Der Bräutigam redet jedoch niemals über das, was ihn an der Braut stören könnte. Er sagt vielmehr: „Ganz schön bist du, meine Freundin, und kein Makel ist an dir“ (Hld 4,7).

Es ist uns bewusst, dass wir nicht makellos sind. Die Sünde ist in uns, und wir alle straucheln oft (1. Joh 1,8; Jak 3,2). Die Spuren unseres Versagens können wir nicht leugnen. Der Herr Jesus aber ist ohne Makel. Er tat keine Sünde, kannte keine Sünde, wurde nicht von Sünde versucht, und Sünde ist nicht in ihm (1. Pet 2,22; 2. Kor 5,21; Heb 4,15; 1. Joh 3,5). Es ist nun etwas Großes, dass wir Gläubigen der Stellung nach vollkommen gemacht sind (Heb 10,14). Wir sind heilig und tadellos vor Gott in Liebe (Eph 1,4). Sicher übersieht Christus nicht die Flecken oder Runzeln seiner Braut (Eph 5,27), aber ist es nicht die Freude seines Herzens, uns durch sein Wort immer wieder auf die herrliche Position hinzuweisen, in die Er uns durch sein vollkommenes Opfer gebracht hat? Und nicht nur das: Seine Liebe stellt auch gern das heraus, was Er in unserem praktischen Leben zu Gottes Ehre bewirkt hat. So sagte Er zu den Jüngern, nachdem sie sich gestritten hatten, wer für den Größten zu halten sei: „Ihr seid es, die mit mir ausgeharrt haben in meinen Versuchungen“ (Lk 22,28). Diese Liebe ist auch heute noch bereit, jede Schönheit in den Seinen anzuerkennen!

Die Erkenntnis

Die Braut weiß manchmal nicht, wo sich ihr Bräutigam befindet. Sie fragt darum nach, wo er in der Mittagszeit weidet, wo er lagert (Hld 1,7). Zweimal irrt sie sogar zu später Stunde in der Stadt umher, wo sie ihren Geliebten verzweifelt sucht (Hld 3,1–3; 5,6–8). Der Bräutigam ist nicht unwissend – er weiß immer, wo seine Braut sich aufhält, und im passenden Augenblick ist er zugegen. Der Bräutigam ist offensichtlich völlig mit den Gedanken und Gewohnheiten seiner Geliebten vertraut.

Weil wir die Gedanken unseres Herrn nicht gut verstehen, irren wir manches Mal durchs Leben, ohne die enge Gemeinschaft mit Ihm zu genießen. Wir gehen niedergeschlagen, wie die Emmaus-Jünger, unseren Weg. Doch Er kennt uns und ist mit allen unseren Wegen vertraut. Und Er sucht die Gemeinschaft mit uns, wie Er es auch bei den beiden Emmaus-Jüngern tat. Dabei drängt Er sich nicht auf: Er wartet stets darauf, dass wir Ihm die „Türe öffnen“ (vgl. Hld 5,2.4; Lk 24,28.29; Off 3,20).

Die Beständigkeit

Bei der Braut sehen wir Fortschritte: Sie lernt seine Liebe immer mehr wertzuschätzen. Drei Stellen aus dem Hohelied zeigen ihr Wachstum: „Mein Geliebter ist mein, und ich bin sein, der unter den Lilien weidet“ (Hld 2,16). Und: „Ich bin meines Geliebten; und mein Geliebter ist mein, der unter den Lilien weidet“ (Hld 6,3). Und schließlich rückt das, was sie hat, völlig aus dem Gesichtskreis: „Ich bin meines Geliebten, und nach mir ist sein Verlangen“ (Hld 7,11). Wir sehen bei der Braut nicht nur, dass ihre Liebe sich entwickelt, sondern auch, dass ihre Liebe schwankt. So sagt sie einerseits zweimal zu den Töchtern Jerusalems, dass sie vor Liebe krank sei (Hld 2,5; 5,8); andererseits lesen wir zwischen diesen Worten, dass sie wenig liebevoll ihren Bräutigam abweist, der erwartungsvoll an die Tür ihres Hauses klopft und um Einlass bittet (Hld 5,3).

Bei dem Bräutigam bemerken wir weder Wachstum in der Liebe, noch erkennen wir Schwankungen: Die Flamme seiner Liebe brennt ständig mit voller Intensität (vgl. Hld 8,6.7). Als seine Braut ihm aus Bequemlichkeit die Tür nicht öffnet, gibt er ihr sofort ein deutliches Zeichen seiner Liebe (Hld 5,5). Und als die Braut ihn einige Zeit später findet, macht er ihr keine Vorwürfe, sondern spricht wertschätzende Worte, die denen entsprechen, die er vor der Zurückweisung geäußert hat (siehe Hld 6,4–9; vgl. Hld 1,15; 4,1–5).

Wenn wir an wechselhafte Liebe denken, gehen unsere Gedanken rasch zu dem Apostel Petrus. Dieser Mann war „krank vor Liebe“, als er seinem Herrn Treue bis in den Tod schwor und ihn mit dem Schwert in aussichtsloser Lage verteidigen wollte. Doch gerade er war es auch, der seinen Herrn dreimal schmählich verleugnte und keinen Funken Liebe zeigte. Als der Meister nach seiner Auferstehung ihn dreimal fragte, ob er Ihn liebe, antwortete er schließlich traurig: „Herr, du weißt alles; du erkennst, dass ich dich lieb habe“ (Joh 21,17). Es ist, als würde Petrus sagen: „Ich habe dich lieb, auch wenn ich das nicht gezeigt habe und es für niemand erkennbar war. Aber weil du allwissend bist, erkennst du unter dem Schutt meines Versagens doch meine Liebe, die du durch deine eigene Liebe in mir entfacht hast.“ So sollten wir auch denken, denn unsere Liebe ist oft kalt, schwankend und manchmal unsichtbar.

Aber die Liebe des Herrn Jesus ist unveränderlich, denn Er ist derselbe gestern und heute und in Ewigkeit (Heb 13,7). Die Liebe, die Er heute zu uns hat, ist die Liebe, die Er „gestern“ am Kreuz gezeigt hat und mit der Er uns bald in der Herrlichkeit ewig umgeben wird. Seine Liebe bleibt (vgl. Joh 13,1). Aber: Bleiben wir auch in seiner Liebe? Nur wenn wir uns im Sonnenschein seiner Liebe aufhalten, wird unsere Liebe zu Ihm wachsen und nicht mehr so vielen Schwankungen unterworfen sein. Wir werden unsere Liebe besonders darin zeigen, dass wir seine Gebote halten (Joh 15,21).

Eine Übersicht 

Das Lied der Lieder ist ein Buch, in dem viel kommuniziert wird, insbesondere zwischen Braut und Bräutigam. Eine Übersicht über die jeweiligen Sprecher mag an dieser Stelle nützlich sein. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass es nicht immer einfach ist, eindeutig auszumachen, wer gerade spricht, sodass Ausleger manchmal zu unterschiedlichen Ergebnissen gekommen sind.

Überschrift: Das Lied der Lieder, von Salomo (Kap. 1,1)

Braut spricht zum Bräutigam (Kap. 1,2–4) – Küsse mich, ziehe mich!

Braut spricht zu den Töchtern Jerusalems (Kap. 1,5.6) – Seht mich nicht an!

Braut spricht zum Bräutigam (Kap. 1,7) – Wo lässt du lagern?

Bräutigam spricht zur Braut (Kap. 1,8–11) – Du bist anmutig!

Braut spricht zu Töchtern Jerusalems (Kap. 1,12–14) – Mein Geliebter ist wie eine Zyperntraube.

Bräutigam spricht zur Braut (Kap. 1,15) – Du bist schön!

Braut spricht zum Bräutigam (Kap. 1,16–2,1) – Du bist schön! Ich bin eine Narzisse, eine Lilie.

Bräutigam spricht zur Braut (Kap. 2,2) – Du bist wie eine Lilie inmitten von Dornen.

Braut spricht zu den Töchtern Jerusalems (Kap. 2,3–7) – Ich bin krank vor Liebe!

Braut spricht zu den Töchtern Jerusalems (Kap. 2,8–9) – Mein Geliebter kommt!

Bräutigam spricht zur Braut (Kap. 2,10–14) – Mache dich auf, meine Freundin, meine Schöne, und komm!

Brüder sprechen zu Braut und anderen (Kap. 2,15) – Fangt uns die Füchse!

Braut spricht zu den Brüdern (Kap. 2,16) – Mein Geliebter ist mein und ich bin sein.

Braut spricht zum Bräutigam (Kap. 2,17) – Wende dich, sei mein Geliebter!

Braut spricht zu den Töchtern Jerusalems (Kap. 3,1–5) – Ich suchte ihn … und fand ihn schließlich.

Umstehender spricht zu anderen (Kap. 3,6) – Wer ist sie, die da heraufkommt?

Umstehender spricht zu anderen (Kap. 3,7–10) – Siehe da, Salomos Tragbett!

Umstehender spricht zu den Töchtern Jerusalems (Kap. 3,11) – Kommt heraus, und betrachtet Salomo!

Bräutigam redet zur Braut (Kap. 4,1–15) – Ganz schön bist du, deine Liebe ist schön, du bist wie ein Lustgarten.

Braut redet zum Bräutigam (Kap. 4,16) – Komm in deinen Garten, Geliebter!

Bräutigam redet zur Braut (Kap. 5,1a) – Ich bin in meinen Garten gekommen.

Bräutigam redet zu Freunden (Kap. 5,1b) – Esst, trinkt euch fröhlich!

Braut redet zu den Töchtern Jerusalems (Kap. 5,2–8) – Ich suchte ihn und fand ihn nicht.

Töchter Jerusalems reden zur Braut (Kap. 5,9) – Was ist dein Geliebter vor anderen?

Braut redet zu den Töchtern Jerusalems (Kap. 5,10–16) – Mein Geliebter ist ausgezeichnet vor Zehntausenden.

Töchter Jerusalems reden zur Braut (Kap. 6,1) – Wohin ist dein Geliebter gegangen?

Braut redet zu Töchtern Jerusalems (Kap. 6,2.3) – Mein Geliebter ist in seinen Garten gegangen.

Bräutigam redet zur Braut (Kap. 6,4–7) – Du bist schön, meine Freundin.

Bräutigam redet anderen (Kap. 6,8.9) – Ich habe viele Frauen, doch nur eine ist meine Taube.

Unbekannter fragt andere (Kap. 6,10) – Wer ist die, die da hervorglänzt wie die Morgenröte?

Bräutigam spricht zu Freunden (Kap. 6,11.12) – Ich bin in den Nussgarten gegangen.

Töchter Jerusalems sprechen zur Braut (Kap. 7,1) – Kehre um Sulamith, dass wir dich anschauen!

Braut spricht zu Töchtern Jerusalems (Kap. 7,1) – Was wollt ihr an der Sulamith sehen?

Töchter Jerusalems sprechen zur Braut (Kap. 7,1) – Es sieht aus wie der Reigen von Machanaim.

Bräutigam redet zur Braut (Kap. 7,2–10) – Wie schön bist du!

Braut redet zu Bräutigam (Kap. 7,10–8,3) – Komm, lass uns aufs Feld hinausgehen!

Braut redet zu Töchtern Jerusalems (Kap. 8,4) – Weckt die Liebe nicht auf!

Umstehender redet zu anderen (Kap. 8,5) – Wer ist sie, die da heraufkommt von der Wüste?

Bräutigam redet zur Braut (Kap. 8,5) – Unter dem Apfelbaum habe ich deine Zuneigungen geweckt.

Braut redet zum Bräutigam (Kap. 8,6.7) – Lege mich wie ein Siegelring an dein Herz, an deinen Arm!

Brüder der Braut reden zueinander (Kap. 8,8.9) – Was machen wir mit unserer kleinen Schwester, wenn man um sie werben wird?

Braut redet zu Brüdern (Kap. 8,10) – Ich habe in seinen Augen Frieden gefunden.

Brüder reden zur Braut (Kap. 8,11) – Salomo hat einen Weinberg und bekommt 1000 Sekel Silber als Pacht.

Braut zum Bräutigam (Kap. 8,12) – Dir sollen die 1000 Sekel Silber von meinem Weinberg gehören.

Bräutigam zur Braut (Kap. 8,13) – Lass mich deine Stimme hören!

Braut zum Bräutigam (Kap. 8,14) – Eile schnell wie eine Gazelle zu mir.

[Aus „Im Glauben leben“]

Fußnoten:

  1. Das Bibelbuch ist auch bekannt unter dem Titel „Das Hohelied“. Bei dem Ausdruck „Das Lied der Lieder“ kommt etwas besser zum Ausdruck, dass es sich im Hebräischen um die höchste Steigerungsform handelt. Dieses Lied der Liebe ist also das schönste Lied, das es gibt. Die Liebe ist es nun einmal, die alles überragt: „Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; die größte aber von diesen ist die Liebe“ (1. Kor 13,13).