Als der Prophet Daniel im Buch Jeremia las, wurde ihm klar: Bald sind die 70 Jahre zu Ende, in denen  Jerusalem nach dem Willen Gottes zerstört bleiben wird (Dan 9,2; vgl. Jer 25,11.12; 29,10). Daniel demütigte sich vor seinem Gott und bat um Barmherzigkeit für sein Volk, die Stadt Jerusalem und das Heiligtum (Dan 9,3–19). Während er noch betete, kam der Engel Gabriel zu ihm und überbrachte ihm dazu eine wichtige Botschaft (Dan 9,20–23). Im Kern geht es um 70 Wochen, die vergehen müssen, bis das Volk Israel in den wunderbaren Segen des Friedensreiches eingehen wird.

Die 70 Jahrwochen

Es ist zum Verständnis dieser Botschaft unerlässlich, den Begriff „Woche“ richtig einzuordnen. Das hebräische Wort schabua, das mit „Woche“ wiedergegeben wird, bedeutet: eine Periode von sieben. Normalerweise geht es um sieben Tage. Aber das ist nicht zwingend. In Daniel 9 ist mit „Woche“ eine Periode von sieben Jahren gemeint. Wir haben es also mit 70 Jahrwochen zu tun, die insgesamt eine Zeitspanne von 490 Jahren ergeben (70 x 7 Jahre). Folgende Überlegungen stützen diesen Gedanken:

  • Daniel war mit der 70-jährigen Gefangenschaft seines Volkes beschäftigt, als der Engel Gabriel zu ihm kam (Dan 9,2). Diese 70 Jahre mussten die Juden außerhalb ihres Landes verbringen, weil sie 70-Mal das Sabbatjahr, das für alle 7 Jahre vorgesehen war, nicht beachtet hatten und das Land die Ruhe „nachholen“ sollte (3. Mo 25,3–7; 3. Mo 26,34.43; 2. Chr 36,21). Diese 70 Jahrsabbate ergeben einen Zeitraum von 490 Jahren, in denen das Volk untreu war. Und nun wurde Daniel durch den Engel erneut eine Zeitspanne von 490 Jahren vorgestellt! Am Ende dieser 490 Jahre würde aber nicht die Gefangenschaft als Strafe für Sünde stehen, sondern die Sühnung der Schuld und der Segen für das Volk im Land (vgl. Dan 9,24).
  • Die verschiedenen Ereignisse, die in Daniel 9,24–27 berichtet werden, können sich gar nicht innerhalb von 70 buchstäblichen Wochen erfüllen (Wiederaufbau einer Großstadt, militärische Bündnisse und Invasionen etc.). Die Prophezeiung erschließt sich nur, wenn man von Jahrwochen ausgeht. Das sollte im Folgenden noch deutlicher werden.

Der Startpunkt

Die Zählung der 70 Jahrwochen beginnt mit dem Befehl des Perserkönigs Artasasta (Artaxerxes Longimanus), dass Jerusalem wieder aufgebaut werden darf.[1] Das war im zwanzigsten Jahr seiner Regierung, wahrscheinlich im Frühjahr des Jahres 445 v. Chr. (s. Neh 2,1.5–10). Es geht nicht um frühere Erlasse zugunsten der Juden, da sich diese auf den Tempel und Altar in Jerusalem bezogen (Kores in 2. Chr 36,22.23, Esra 1,1–4, Esra 5,13; Darius I. in Esra 6,1.6–12; Artasasta in Esra 7,11–26).

7 Jahrwochen

Die Wiederherstellung der heiligen Stadt dauerte 7 Wochen, also 49 Jahre (Dan 7,25). Das Buch Nehemia berichtet besonders über die Aufrichtung der Stadtmauer, die in nur 52 Tagen erledigt wurde (Neh 6,15). Doch der Ausbau des Straßennetzes benötigte viel Zeit, zumal die Juden von Feinden bei ihren Arbeiten ständig behindert und bedrängt wurden. 

62 Jahrwochen 

Nach den sieben Jahrwochen war Jerusalem zu einer gut bewohnbaren und befestigten Stadt mit einer gewissen politischen Relevanz geworden. In den darauffolgenden 62 Jahrwochen, die eng mit den 7 Wochen verbunden werden, änderte sich das nicht grundsätzlich. In der 69. Jahrwoche (7 + 62 Wochen) geschah etwas ganz Besonderes: der Messias, der Friedefürst, trat auf.[2]

Nach 69 Jahrwochen

Doch nach den 69 Jahrwochen wurde der Messias ausgerottet (Dan 7,26). Das Volk Daniels verwarf den eigenen Fürsten, der somit seine Rechte über das Volk nicht geltend machen konnte. Das göttliche Gericht folgte auf dem Fuß: Das Volk des kommenden Fürsten zerstörte Jerusalem und das Heiligtum. Mit dem Volk sind die Römer gemeint, die im Jahr 70 n. Chr. Jerusalem verwüsteten (vgl. Joh 11,48), und aus deren Mitte in der Endzeit ein schrecklicher Fürst aufstehen wird (vgl. Off 13,1–8). Bis ans Ende wird die Stadt, die „Gründung des Friedens“ heißt, unwiderruflich durch Krieg und Verwüstungen gekennzeichnet sein. Schließlich wird in der Zeit des Endes eine überströmende Flut heraufsteigen, die alles in Jerusalem zerstören wird: der Assyrer bzw. der König des Nordens (vgl. Jes 8,8; 28,18; Dan 11,40).   

Offensichtlich vergeht zwischen der 69. Woche und der 70. Woche eine längere Zeit. Es ist die Zeit der Nationen, in der Jerusalem zertreten ist (Lk 21,24). Aus dem Neuen Testament wissen wir, dass Gott sich in dieser Zeit ein Volk aus den Nationen für seinen Namen sammelt (Apg 15,14). Wenn die Vollzahl der Nationen eingegangen sein wird (Röm 11,25), wird Gott mit seinem irdischen Volk wieder anknüpfen.

Die 70. Jahrwoche  

In Daniel 9,27 wird beschrieben, was in der heute noch zukünftigen letzten Jahrwoche geschehen wird, bevor Israel als Nation den ganzen göttlichen Segen empfängt:

  • Der römische Fürst wird mit der ungläubigen Masse des jüdischen Volkes ein Bündnis schließen. Dieses Bündnis währt insgesamt sieben Jahre.[3]  Es ist ein „Bund mit dem Tod“ und ein „Vertrag mit dem Scheol“, der einen Angriff auf Israel nicht verhindern kann (Jes 28,18–22).
  • In der Mitte der letzten Jahrwoche Daniels wird der römische Herrscher, der zu diesem Zeitpunkt von Satan seine volle Macht bekommen haben wird (vgl. Off 13,1–8), dem israelitischen Gottesdienst im Tempel ein Ende setzen.[4] 

    Der römische Herrscher wird anstelle dieses Gottesdienstes einen Götzendienst einführen, der in der Anbetung des Teufels, seiner eigenen Person und des Antichristen besteht (Off 13,4; 2. Thes 2,4). Und der Antichrist wird ein Gräuel im Tempel aufstellen: das sprechende Bild des römischen Herrschers (Dan 12,11; Mt 24,15; Off 13,14.15)

  • Die Juden werden sich durch das starke Römische Reich vor den feindlichen Mächten aus dem Norden gut beschützt fühlen. Aber weil diese Beschirmung mit einem schrecklichen Götzendienst – der speziell in Jerusalem praktiziert wird – einhergeht, sendet Gott seine Zuchtrute: den Assyrer (Jes 10,5).
  • Der Assyrer bringt die von Gott fest beschlossene Vernichtung über die Stadt Jerusalem, die bezeichnenderweise „das Verwüstete“ genannt wird.

Die Vollendung

Es ist bemerkenswert, dass Daniel in der Botschaft Gabriels zuerst auf das herrliche Ergebnis der Wege Gottes hingewiesen wurde (Dan 9,24): Nach 490 Jahren wird Gott seinem Volk alle Sünden vergeben. Dankbar wird der jüdische Überrest glauben und anerkennen, dass der Herr Jesus für ihre ganze Schuld am Kreuz bezahlt hat (vgl. Jes 53). Gott wird aus ihnen ein Volk von Gerechten machen und alle Segensverheißungen der Propheten werden sich erfüllen. Das Allerheiligste des Tempels wird dann gesalbt und ein Dienst zu Gottes Ehre eingerichtet (vgl. Hes 40–48).

Schlussgedanken

Die Prophezeiung über die 70 Jahrwochen macht sehr deutlich, dass Gott seinen Plan mit Israel punktgenau umgesetzt hat und auch noch umsetzen wird. Nachdem das Volk durch große Drangsale gegangen sein wird, wird Gott es unter der Herrschaft des Messias zum ewigen Segen führen.

Mit Interesse dürfen wir verfolgen, welche Wege der große Gott mit seinem irdischen Volk geht. Dabei ist uns bewusst, dass wir in der Zeit leben, die außerhalb der 70 Jahrwochen Daniels liegt. Wir warten deshalb nicht darauf, dass die Prophezeiungen der Endzeit eintreten, sondern wir warten auf den Herrn Jesus, den glänzenden Morgenstern (Off 22,16). Bald wird Er kommen, um uns in das Haus seines Vaters zu führen. Danach wird die „prophetische Uhr“ wieder zu ticken beginnen und die letzte Jahrwoche Daniels sich erfüllen.

Zusammenfassung

Die Weissagung über die 70 Jahrwochen in Daniel 9 ist ein wichtiges Puzzlestück in der Gesamtschau der biblischen Prophetie. Wir bekommen durch sie einen Panoramablick über die Geschichte des Volkes Israels, wobei es besonders um Jerusalem und den Tempeldienst geht:

  • 490 Jahre sind über das Volk Israel bestimmt. Dann wird ihre Schuld vergeben werden und das Friedensreich anbrechen, von dem die Propheten geredet haben.
  • Die Berechnung der 490 Jahre beginnt mit dem Edikt von Artasasta, Jerusalem wieder aufzubauen.
  • Nach 49 Jahren ist die Wiederherstellung Jerusalems abgeschlossen.
  • Nach 483 Jahren wird der Messias durch die Juden getötet. Die Zeitberechnung der 490 Jahre wird damit unterbrochen.
  • Einige Jahre nach der Verwerfung des Messias wird die „Stadt des großen Königs“ und der Tempel von den Römern zerstört.
  • Nachdem die Zeitberechnung der 490 Jahre für eine unbestimmte Dauer ausgesetzt wird, kommt es zu einem Schutzbündnis zwischen dem römischen Herrscher und dem Volk Israel. Dieses Bündnis währt sieben Jahre.
  • Nach 3,5 Jahren ersetzt der römische Herrscher den Opferdienst im Tempel durch einen Gräuelgötzen.
  • Infolgedessen dringt der Assyrer in Israel und Jerusalem ein und richtet eine große Verwüstung an.

 [Aus: „Im Glauben leben“]


Fußnoten:

  1. Für Daniel war damals alles noch zukünftig. Für uns heute sind die ersten 69 Jahrwochen Geschichte. Nur die Erfüllung der 70. Jahrwoche steht noch aus.
  2. Wenn man von Jahr 445 v. Chr. als Startpunkt der Berechnung ausgeht und davon 483 Jahre abzieht (69 x 7), kommt man auf das Jahr 38 n. Chr., was offensichtlich einige Jahre „zu spät“ ist. Manche argumentieren hier mit den unsicheren Zeitangaben des Altertums. Andere sagen, dass ein Jahr mit 360 und nicht 365 Tagen angesetzt werden sollte, was zu insgesamt 173.880 Tage führt, die bis zum Erscheinen des Messias gerechnet werden müssen. Diese an sich ungewöhnliche Abweichung vom Sonnenjahr wird unter anderem damit begründet, dass die zweiten 3,5 Jahre der letzten Jahrwoche Daniels im Buch der Offenbarung mit 1260 Tagen (360 + 360 + 360 + 180) angegeben wird (Off 11,3; 12,6), was aufs Jahr gesehen eben 360 Tage ergibt.
  3. Dieses militärische Schutzbündnis wird kaum von vornherein auf sieben Jahre beschränkt sein, sondern dieses Bündnis wird sieben Jahre währen – bis die beiden Bündnispartner durch das göttliche Gericht weggefegt werden.
  4. Es verbleiben somit noch 3,5 Jahre bis zum Ende. Diese Zeitperiode wird in der Bibel öfters genannt, und zwar mit Angabe der Jahre (Dan 7,25; 12,7; Off 12,14), der Monate (Off 11,2; 13,5) und der Tage (Off 12,6; vgl. Dan 12,11.12). Es ist die Zeit der „großen Drangsal“ (Mt 24,21).