„Er entging ihrer Hand“: So schreibt der Evangelist (Joh 10,39). Nachdem ihr Versuch, Ihn zu ergreifen, auch dieses Mal gescheitert war, verfolgten sie Ihn offenbar nicht weiter, als Er durch einen Aufenthalt in Peräa jenseits des Jordans in den Machtbereich des Herodes Antipas zurückkehrte. Dort konnte Er vergleichsweise Ruhe genießen. Was also zog Ihn zurück nach Judäa, in den Zuständigkeitsbereich von Pontius Pilatus, wo Er sich wieder in Reichweite der feindlichen Juden befand? Die Herrlichkeit Gottes und die Not der Schafe der Herde waren die Beweggründe. Für sie richtete Er sein Angesicht dorthin. Denn Er wollte die Werke dessen wirken, der Ihn gesandt hatte, solange es Tag war (Joh 9,4). Und dieses Werk erforderte zu dieser Zeit seine Anwesenheit in Bethanien, in der Nähe von Jerusalem. Dieses Dorf, das in der Geschichte des Evangeliums nicht erwähnt wird[1], sollte fortan einen Platz in den heiligen Aufzeichnungen haben und unauslöschlich mit dem Herrn Jesus verbunden sein und mit einer Familie, die Er liebte.

Bethanien

Dieses Dorf lag an der Ostseite des Ölbergs und war weniger als zwei Meilen von Jerusalem entfernt. Während die Lage[2] von Bethphage lange Zeit unbekannt war, wurde nicht nur die Lage, sondern auch das Dorf Bethanien nie vergessen. Eine Beschreibung davon von einem, der es in den letzten Jahren besucht hat, wird hier nicht fehl am Platz sein:

Was mir bei all meinen Besuchen in Bethanien besonders auffiel, war seine Einsamkeit. Es sieht so aus, als wäre es von der ganzen Welt abgeschottet. Keine Stadt, kein Dorf, keine menschliche Behausung ist von dort aus zu sehen. Durch eine Öffnung in der felsigen Schlucht erscheint die Wüste im Vordergrund, und dicht dahinter erhebt sich der steile Hang des Ölbergs. Als Jesus sich von Jerusalem nach Bethanien zurückzog, folgte Ihm kein Geräusch der geschäftigen Welt – keine lärmende Menge störte sein Nachsinnen. Im stillen Haus der Martha oder in einer einsamen Nische des abgelegenen Tals von Bethanien ruhte Er aus, lehrte und betete. Wie erfreut war ich eines Abends, als ich auf einer felsigen Bank am Rande des Dorfes saß und die Geschichte von Lazarus las, als ich einen vorbeigehenden Dorfbewohner sagen hörte: „Dort ist das Grab des Lazarus, und dort ist das Haus der Martha.“ Das mögen nicht die wirklichen Orte sein, wahrscheinlich sind sie es auch nicht; aber dies ist Bethanien, und das Wunder, das dort gewirkt wurde, lebt noch in der Erinnerung seiner Bewohner. Und wenn dann noch die unveränderlichen Merkmale der Natur hinzukommen – die Felsen, die einsame Schlucht, der Ölberg –, werden nur wenige an traditionelle „heilige Orte“ denken. Von dem Platz aus, an dem ich saß, sah ich die blauen Berge jenseits des Jordans, wie Martha und Maria sie von ihrem Haus aus gesehen hatten, wo Jesus verweilte, als sie zu Ihm sandten und sagten: „Herr, siehe, der, den du lieb hast, ist krank“ (Joh 10,40; 11,3). Ich sah auch die Straße „von Jerusalem nach Jericho“, die an dem Dorf vorbeiführte und über die felsigen Abhänge in die Wüste hinabführte. Auf diesem Weg wurde Jesus erwartet, und man kann sich vorstellen, mit welch ernsten, sehnsüchtigen Augen die Schwestern ihn entlangsahen – immer wieder zurückkehrend und suchend, von der ersten Morgendämmerung bis zur Abenddämmerung. Und als Er endlich kam und Martha die Nachricht hörte, kann man sich die rührende Szene vorstellen – wie sie die Straße entlanglief und mit leuchtenden Augen und bebenden Lippen den halb vorwurfsvollen und noch halb hoffnungsvollen Schrei ausstieß: „Herr, wenn du hier gewesen wärest, so wäre mein Bruder nicht gestorben.“

Bethanien ist heute und war anscheinend schon immer ein kleines, armes Bergdorf, das nur durch seine Abgeschiedenheit bezaubert und nur durch seine Verbindungen interessant ist. Es ist eine bemerkenswerte Tatsache, dass das große Wunder Christi für das Dorf wie eine neue Taufe war, die ihm einen neuen Namen verlieh. Er heißt jetzt El Azariyeh, was man mit „Der Ort des Lazarus“ übersetzen kann. Die „Palmen“ sind alle verschwunden, die ihm seinen alten Namen Bethanien, „Haus der Datteln“, gaben; aber die Felsen ringsum und die terrassenförmigen Hänge darüber sind noch mit ehrwürdigen Feigenbäumen übersät, als ob sie zeigen wollten, dass sein Schwesterdorf Bethphage, „Haus der Feigen“, nicht vergessen ist, obwohl seine Lage verloren ist.[3]

Das war der Fall, als Porter schrieb. Heute ist das nicht mehr so.

Die Familie

Dort wohnte eine dreiköpfige Familie – zwei Schwestern und ein Bruder, Martha, Maria und Lazarus. Eine weitere Person wird von Matthäus und Markus als Bewohner des Dorfes genannt – ein Simon, der Aussätzige. In seinem Haus salbte Maria den Herrn – offensichtlich ein Freund der Familie, denn Martha konnte unter seinem Dach fleißig dienen (Joh 12,2.3). Es ist nichts über ihn bekannt, was den Gedanken stützen könnte, dass er ein Verwandter der Familie war oder als Ehemann von Martha in einer engeren Verbindung stand. „Jesus liebte Martha und ihre Schwester und Lazarus“, lesen wir (Joh 11,5), was darauf hindeutet, dass diese drei den gesamten Familienkreis bildeten. Dass Martha ein eigenes Haus besaß, ist bei Lukas eindeutig belegt (Lk 10,38). In dieses Haus hat sie einmal den Herrn aufgenommen. Wie sie dazu kam, ein Haus zu haben, ist eine Frage, deren Lösung außerhalb unserer Möglichkeiten liegt.

Bei Lukas, nicht bei Johannes, werden uns Martha und Maria zum ersten Mal vorgestellt. Ihre Charaktere sind durch den „geliebten Arzt“ klar gekennzeichnet. Martha war die aktive, emsige, mit der Hausarbeit beschäftigte Frau. Das blieb sie auch, solange wir von ihr hören. Maria war die Ruhigere. Martha war mit vielem Dienen beschäftigt. Zweifellos war die Bewirtung des Herrn und der Zwölf mit nicht wenig Arbeit verbunden. Maria saß zu den Füßen Jesu und nahm seine Worte in sich auf. Martha setzte ihre Arbeit als Dienerin fort und war offensichtlich ganz damit beschäftigt, die Gäste in Simons Haus zu bewirten. Maria, die im Lukasevangelium zu Jesu Füßen gesessen hatte, findet sich auch in Johannes 12 zu seinen Füßen – beim ersten Mal empfängt sie von Ihm, beim letzten Mal dient sie Ihm.

Die Liebe Christi

Maria muss glückliche Zeiten mit dem Herrn in ihrem Haus verbracht haben. Wir wagen zu sagen, Zeiten, denn wir glauben, dass Er mehr als einmal in diesem Haus zu Besuch war und den Bewohnern mit seiner Gnade und Wahrheit diente. Er liebte auch sie. Von der Liebe Gottes zur Welt lesen wir zu Beginn des Dienstes des Herrn (Joh 3,16). Von der Liebe Christi zu den einzelnen Menschen lesen wir jedoch nicht zu Beginn seines Wirkens. Das war auch gut so. Denn als Mensch, der hier ist, um den Willen des Vaters zu tun, wird uns seine Liebe als eine Liebe zu den Gläubigen gezeigt, die sich zuvor als solche erwiesen haben. Deshalb wird von Ihm nie gesagt, dass Er die Welt liebt. Er liebt die Gläubigen, wie Paulus bezeugt (Gal 2,20). Johannes bestätigt dies (Off 1,5). Und wenn wir auch von der Liebe Christi sprechen, der für uns gestorben ist, so ist doch niemand befugt, in Bezug auf sich selbst davon zu sprechen, bevor er nicht durch den Glauben an Christus das Heil empfangen hat. Christus liebt auch die Versammlung (Eph 5,25). Würde jemand Markus 10,21 zitieren, um dem zu widersprechen, was wir vorgebracht haben? Die Erklärung ist einfach. Offensichtlich war der Jüngling von Natur aus anziehend. Es gibt solche Charaktere auf der Erde, natürlich eine Frucht des Werkes des Schöpfers. Der Herr, so können wir verstehen, konnte lieben, was Er von Gottes Werk in diesem Geschöpf sah, obwohl Er ihn nicht dafür lieben konnte, dass er sich vom Weg wahrer Jüngerschaft abwandte.

In Johannes 3 lesen wir, wie gesagt, von der Liebe Gottes, und dort finden wir die erste Andeutung, dass sie sich an eine verdorbene Welt wendet. In Johannes 11 lesen wir zum ersten Mal im Evangelium von der Liebe des Herrn zu einem Mitglied des menschlichen Geschlechts. Und jedes Mitglied jener Familie in Bethanien war ein Objekt seiner Liebe. Sehr wahrscheinlich war es, wie die Menschen sagen würden, eine ungewöhnliche Familie. Aber jedes ihrer Mitglieder war ein Gegenstand göttlicher Gnade und auch ein Teilhaber der göttlichen Natur (2. Pet 1,4). Und obwohl uns Maria als die anziehendere der beiden Schwestern erscheint, ist es interessant, dass der heilige Geschichtsschreiber, wenn er von der Liebe des Herrn zu ihnen schreibt, Martha zuerst erwähnt. Höchstwahrscheinlich war sie die Älteste und wäre daher natürlich zuerst genannt worden. Aber in Anbetracht der Art und Weise, wie ihr Charakter von den Menschen und nicht zu ihrem Vorteil mit dem ihrer Schwester verglichen wurde, war es in der Tat eine Gnade des Heiligen Geistes, den Evangelisten anzuweisen, zu schreiben: „Jesus liebte Martha und ihre Schwester und Lazarus.“ Wir betrachten dies als ein Beispiel für echte göttliche Leitung.

Die Nachricht

Wir wissen weder, wann der Herr das letzte Mal in Bethanien war, noch, wie lange die Krankheit des Lazarus angedauert hatte, ob Tage oder nur Stunden. Die Schwestern waren jedoch offenbar der Ansicht, dass die Krankheit von einer Art war, die sich der Wirkung gewöhnlicher Heilmittel entzog und nur durch das Eingreifen der göttlichen Macht beseitigt werden konnte, die von Christus ausgeübt werden sollte, wenn Er es wollte. Darauf schienen sie sich verlassen zu haben. Also schickten sie zu Ihm. Offensichtlich wussten sie, wo Er war. Der Bote fand Ihn, nachdem er, dessen können wir sicher sein, ohne zu trödeln oder unnötig zu zögern seinen Weg fortgesetzt hatte, und überbrachte dann die rührende Botschaft: „Herr, siehe, der, den du lieb hast[4], ist krank“ (Joh 11,3). So frei sie auch im Umgang mit Christus waren, so gab es doch keine übermäßige Vertrautheit, kein Vergessen des großen Unterschieds zwischen Ihm und ihnen. „Herr“ begann die Nachricht. Sie sprachen Ihn mit einem Titel des Respekts an. Als sie Ihm dann den Stand der Dinge in Bezug auf Lazarus mitteilten, verlangten sie nichts, schlugen nichts vor. Sie machten Ihn mit der Tatsache vertraut und beließen es dabei, jedoch in der Gewissheit, dass seine Liebe sie in einer solchen Zeit nicht im Stich lassen würde. Sie verließen sich darauf. Und sie sollten nicht enttäuscht werden. Er, der den Sohn des königlichen Beamten in Kapernaum geheilt hatte, als Er selbst meilenweit von dieser Stadt entfernt war, hätte, wenn Er gewollt hätte, Lazarus in Bethanien heilen können, als Er noch jenseits des Jordan war. Aber Er tat es nicht. Der Bote überbrachte die Botschaft und kehrte zurück, aber ohne das Versprechen der Gegenwart des Herrn in Bethanien noch der Heilung des Kranken.

„Diese Krankheit ist nicht zum Tod, sondern zur Verherrlichung Gottes, damit der Sohn Gottes durch sie verherrlicht werde“, sagte der Herr. Was schlossen die Schwestern aus diesen Worten? Wir können uns gut vorstellen, mit welcher Unruhe sie die Rückkehr ihres Boten erwarteten. Und wenn sie den Weg beobachteten, auf dem er den mühsamen Aufstieg vom Jordantal hinaufkommen musste, waren sie vielleicht enttäuscht, als sie feststellten, dass er allein gekommen war. Er würde die Antwort des Herrn überbringen, an die der Meister Martha offenbar später erinnerte (Joh 11,40). Sollte eine Genesung stattfinden? War das die Bedeutung der Worte: „Diese Krankheit ist nicht zum Tod“? Ihr Bruder muss seinem Ende sehr nahe gewesen sein, als der Bote zurückkam, wenn nicht sogar schon tot, denn er war schon vier Tage tot, als der Herr Bethanien erreichte. Gab es keine Nachricht, dass der Herr zu ihnen kam?, fragten sie wahrscheinlich besorgt. Der Bote, der den Auftrag hatte, die Nachricht nach Bethanien zu bringen, hatte kein Wort davon gehört. Sie wussten, dass der Herr die Macht hatte. Sie glaubten, dass Er den Willen hatte, zu intervenieren. Sie verließen sich auf seine Liebe. Hatten sie sich vergeblich darauf verlassen?

Gottes Herrlichkeit

Aber es gab noch etwas anderes zu bedenken. Lazarus vor dem Tod zu retten, war eine Sache. Die Verherrlichung Gottes war eine andere. In diesem Fall würde Gott durch die Auferweckung von Lazarus aus den Toten mehr verherrlicht werden als dadurch, dass er vor der Gruft bewahrt würde. Die Schwestern würden natürlich an Lazarus und an sich selbst denken. Der Herr, als Sohn und als vollkommener Diener, dachte zuerst an die Herrlichkeit des Vaters. In Johannes 12,28 sehen wir erneut, dass dies sein erstes Ziel war: „Vater, verherrliche Deinen Namen.“ Auch in Johannes 17,1 bittet Er darum, als Sohn verherrlicht zu werden, damit Er, der Sohn, den Vater verherrlichen kann. Und im Rückblick auf sein Lebenswerk kann Er im selben Kapitel sagen: „Ich habe dich verherrlicht auf der Erde, das Werk habe ich vollbracht, das du mir gegeben hast, dass ich es tun sollte“ (Joh 17,4). Die wirkliche Verherrlichung Gottes stand immer vor Ihm. So blieb Er noch zwei Tage an dem Ort, wo der Bote Ihn gefunden hatte. Der Glaube der Schwestern wurde in der Tat auf die Probe gestellt. Der Herr hatte nicht gesagt, dass Er nicht zu ihnen kommen würde. Aber Er hatte auch nicht gesagt, dass Er kommen würde. Wie unruhig müssen sie gewartet haben, den Klang seiner Schritte zu hören.

Nach Bethanien

War diese Verzögerung nun mit wahrer Liebe vereinbar? Sie war es. Die Liebe sucht das Wohlergehen ihrer Gegenstände. Die Liebe zu Martha, Maria und auch zu den Jüngern ließ den Herrn zwei Tage lang nicht von dem Ort östlich des Jordans weichen, wo Ihn die Nachricht erreicht hatte. Danach kündigte Er seine Absicht an, nach Judäa zurückzukehren. Die Jünger, erstaunt über diesen Entschluss, erinnern Ihn an das Verhalten der Juden Ihm gegenüber. „Rabbi, eben suchten die Juden, dich zu steinigen, und wieder gehst du dahin?“ Die menschliche Klugheit hätte es geboten, sich dort aufzuhalten, wo Er von seinen Feinden unbehelligt war. Es war jedoch noch der Tag des Dienstes. Er würde also gehen. Und als Er die Zwölf mit dem Tod des Lazarus bekannt machte, sagte Er ihnen, Er werde hingehen, um ihn aus dem Schlaf zu wecken, das heißt um ihn von den Toten aufzuerwecken. Warum hatte Er seine Reise verzögert? Ein Teil der Wahrheit kommt nun ans Licht. „Ich bin froh um euretwillen, dass ich nicht dort war, damit ihr glaubt.“ Zur Ehre Gottes und zur Stärkung des Glaubens der Jünger sollte die göttliche Absicht in diesem Tod offenbart werden. „Aber lasst uns zu ihm gehen“, schloss der Herr seine Mitteilung. „Zu ihm gehen“, sagte Er. Lazarus war tot. Aber Lazarus hatte nicht aufgehört zu existieren. Er war immer noch ein lebendiges Wesen, wenn auch nicht in seinem Körper. Lazarus schlief. Er würde hingehen, um ihn aus dem Schlaf zu erwecken. Der Tod beendet nicht die Existenz eines Menschen, wie auch der sterbende Schächer erfuhr, der nach dem Tod bei Christus im Paradies sein sollte.

Thomas

Hier tritt Thomas in Erscheinung. Nur in diesem Evangelium haben wir einen Hinweis auf seine Gedanken. Im Gespann mit Matthäus bei der Aussendung der Zwölf an Israel (Mt 10,3) öffnet er hier (Joh 11,16) seinen Mund und wendet sich an die Zwölf: „Lasst auch uns gehen, damit wir mit ihm sterben.“ Der Herr war für Thomas wertvoll. Er wollte das Los mit Ihm teilen, die Gefahr mit Ihm teilen und, wenn es sein musste, auch mit Ihm sterben. Thomas hatte ein Herz für Christus, obwohl er später an der Richtigkeit des Zeugnisses anderer über die Auferstehung des Herrn zweifelte. Doch davon später.

Sie erreichen Bethanien

Der Meister begleitete die Zwölf. Er ging den langen Aufstieg vom Jordantal hinauf und erschien außerhalb des Dorfes. Man sah Ihn und seine Jünger herankommen, bevor Martha Ihm begegnete. Als sie die Nachricht von seiner Ankunft erhielt, ging sie Ihm sofort entgegen. Sie trafen sich außerhalb des Dorfes – ein betrübtes Herz in der Gegenwart dessen, der ihren Kummer bald in Freude verwandeln würde. „Herr, wenn du hier gewesen wärst, so wäre mein Bruder nicht gestorben“, waren die ersten Worte ihrer Begrüßung. „Aber auch jetzt weiß ich, dass, was immer du von Gott erbitten magst, Gott dir geben wird“ (Joh 11,21.22). War in ihren einleitenden Worten ein Vorwurf enthalten? Da Maria sie auch gebrauchte, sollten wir dazu neigen, sie als Worte der Klage zu betrachten. Lag in den folgenden Worten die Hoffnung, dass Lazarus wieder zum Leben erweckt werden könnte wie der Sohn der Witwe von Nain? Ihre Worte scheinen darauf hinzudeuten, während ihre Sprache über den Herrn beweist, dass sie nicht verstand, dass Er wirklich eine göttliche Person war, eins mit dem Vater. Denn sie spricht von Ihm, dass Er Gott bitten würde, und verwendet dafür ein Wort, das auf Menschen in Bezug auf Gott angewandt wird, die natürlich nicht eins mit Ihm sind.[5]. Eine unmittelbare Antwort kam vom Herrn: „Dein Bruder wird auferstehen.“

Ja. Aber wann? „Ich weiß“, erwiderte Martha, „dass er auferstehen wird in der Auferstehung am letzten Tag.“ Die Auferstehung der Toten war ein Artikel im Glaubensbekenntnis eines jeden orthodoxen Juden (Heb 6,2). Waren die Worte des Herrn auf eine zukünftige Anwendung beschränkt? In Kürze würde Er einen Beweis für ihre wahre Bedeutung geben. Und nun ging von Ihm eine Offenbarung aus, die Er nie zuvor gewährt hatte: „Jesus sprach zu ihr: Ich bin die Auferstehung und das Leben; wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt; und wer lebt und an mich glaubt, wird nicht sterben in Ewigkeit. Glaubst du dies? Sie spricht zu ihm: Ja, Herr: Ich glaube, dass du der Christus bist, der Sohn Gottes, der in die Welt kommen soll“ (Joh 11,23–27). Die Auferstehung und das Leben nannte Er sich, derjenige, der Macht über den Tod hat und der auch vor ihm bewahren kann. Dies ist eine sehr wichtige Ankündigung, die etwas von der Zukunft der Heiligen Gottes skizziert, die der Herr Jesus herbeiführen wird.

Auferweckung

In Johannes 5 offenbarte der Herr im Tempel zu Jerusalem öffentlich die Wahrheit der zwei Auferstehungen, nämlich die der Gerechten und die der Ungerechten. Dies war eine Offenbarung, die alle Sterbenden betrifft. Bei dieser Gelegenheit, außerhalb, aber in der Nähe des Dorfes Bethanien, offenbarte Er eine Wahrheit, die allein die Gläubigen betrifft. Er sprach daher zu Martha, einer Gläubigen, aber nicht öffentlich vor einer Menschenmenge. Zwei moralische Klassen werden von der Auferstehung betroffen sein: die Gerechten und die Ungerechten. Es gibt auch zwei Zustände, in denen Gläubige zu finden sein werden. Diejenigen, die gestorben sind, bevor der Herr kommt, um zu regieren, werden aus den Toten auferweckt werden. Diejenigen, die leben, wenn Er für seine Heiligen in Wolken kommt, und auch diejenigen, wenn Er kommt, um zu herrschen, werden niemals sterben. Er ist die Auferstehung, also wird Er seine entschlafenen Heiligen aus dem Grab hervorrufen; denn wer an Ihn glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt. Er ist auch das Leben; so wird Er alle Lebenden bei seinem Kommen bewahren, damit sie niemals sterben; „denn wer lebt und an ihn glaubt, wird niemals sterben“. Er ist also die volle Antwort auf das, was seine Heiligen benötigen werden.

Wie weit Martha diese wichtige Mitteilung verstand, können wir nicht beurteilen. Wie weit wir sie verstehen, muss jeder für sich selbst entscheiden. Ist jemand geneigt, die Auslegung in Frage zu stellen, die wir für den letzten Satz der Erklärung des Herrn angeboten haben? Wir glauben, dass die Reihenfolge der Worte dies zulässt. „Wer lebt und an mich glaubt, wird nicht sterben in Ewigkeit.“ Würde man die Verben leben und glauben vertauschen, so könnte man annehmen, dass der Begriff Leben das geistliche Leben durch den Glauben an den Herrn meint. Steht es jedoch an erster Stelle, spricht es vom natürlichen Leben und bezieht sich auf diejenigen, die bei der Ankunft des Herrn oder bei seinem Erscheinen in dieser Welt lebend vorgefunden werden.

Während wir über die Auferstehung sprechen, möchten wir den Leser an die Reihenfolge erinnern, in der sie die Christen betrifft. Davon berichtet 1. Thessalonicher 4,15–17. Die Toten in Christus werden zuerst auferstehen; dann werden die lebenden Gläubigen entrückt werden, um dem Herrn in der Luft zu begegnen. Außerdem warnt uns 1. Korinther 15,51–55 vor der Plötzlichkeit des Kommens des Herrn für die Christen. Und von der Zeitspanne zwischen der Auferstehung der Gerechten und der Auferstehung der Ungerechten spricht Offenbarung 20,4.5 ausdrücklich. Es werden tausend Jahre sein.

Kehren wir zurück. Martha antwortete dem Herrn und bekannte Ihn als den Christus, den Sohn Gottes, der in die Welt kommen sollte – ein Bekenntnis, das vielleicht nicht mehr umfasste als ihre Vorstellung von Ihm als Mensch –, und ging zu ihrer Schwester Maria, die im Haus sitzen geblieben war.

Maria

Die Familie muss in Ehren gehalten worden sein, denn viele Juden waren aus der fast zwei Meilen entfernten heiligen Stadt gekommen, um den Schwestern anlässlich des Todes ihres Bruders zu kondolieren. Während sie Maria umringten und mit ihr weinten, sprach Martha heimlich zu ihrer Schwester und teilte ihr die willkommene Nachricht von der Ankunft des Herrn mit. „Der Lehrer ist da und ruft dich.“ Sie erhob sich sofort, um Ihm entgegenzugehen, und ihre Bekannten folgten ihr, ohne zu wissen, was sie vorhatte. Sie ahnten, dass sie zum Grab gehen und dort weinen würde. Ihr Ziel war es, den zu treffen, der sie liebte.

Als sie die Stelle erreichte, an der der Herr außerhalb der Stadt war, fiel sie zu seinen Füßen nieder, ein Geschöpf mit gebrochenem Herzen, auf dem Boden liegend vor dem Sohn Gottes. „Herr, wenn du hier gewesen wärst, so wäre mein Bruder nicht gestorben“, war alles, was ihr über die Lippen kam. Beide Schwestern glaubten an seine Macht, zu heilen. Aber der Tod war nun eingetreten und die Gelegenheit zur Heilung war vorbei. Wir können sie uns zu den Füßen Christi vorstellen. Aber jetzt wird der Blick von ihr auf Ihn gerichtet. Maria weinte; auch die Juden, die bei ihr waren, weinten; und der Herr „seufzte tief im Geist und erschütterte sich“ (Joh 11,33). Wie tief fühlte Er den Kummer seines Volkes, die Frucht des Sündenfalls. Er seufzte im Geist. Es wird nicht gesagt, dass dieses Seufzen hörbar war. Wir lesen nicht, dass die Juden es bemerkten. Sie machten keine Bemerkung dazu. Aber wir wissen es, und wir lernen dadurch, wie wirklich, wie tief Er mit dem Schmerz seiner sündigen Geschöpfe fühlen kann.

Am Grab

Im Geist seufzend sagte Er: „Wo habt ihr ihn hingelegt?“ War es nur, um zum Grab zu gehen und dort zu weinen? Das war alles, was Maria und ihre Begleiterinnen tun konnten, ein Ausdruck tiefer, aber hilfloser Trauer. Der Herr aber war im Begriff, seine Worte an Martha zu veranschaulichen: „Ich bin die Auferstehung.“ Dennoch seufzte Er im Geist und weinte auch offen. Alle Anwesenden konnten Letzteres bemerken. Er weinte. Zweimal lesen wir, dass Christus weinte. Er weinte über Jerusalem, als Er als König in die Stadt einzog; Er weinte, als Er das Leid voraussah, das sie mit Sicherheit über sich bringen würde – ein Leid, das noch nicht zu Ende ist. Er weinte um sie. Er weinte auch (Joh 11,35) in der Gesellschaft der trauernden Schwestern, weinte mit denen, die weinten, und begleitete sie so zum Grab. Die Juden weinen, die Schwestern weinen, Jesus weint! Was für eine Gesellschaft! Sie weinten, die nichts für Lazarus tun konnten. Er weinte, dessen Stimme die Toten aufwecken konnte. Und nun, da Er sich dem Grab näherte, seufzte Er wieder in sich selbst. Sein Mitgefühl war echt, es war tief. „Siehe, wie lieb hat er ihn gehabt“, sagten einige, als sie seine Tränen sahen. „Konnte dieser, der die Augen des Blinden auftat, nicht bewirken, dass auch dieser nicht gestorben wäre?“ War das ein Vorwurf? Es sieht so aus. Seine Antwort war ein Seufzen (Joh 11,37.38).

Als einer von ihnen hatte Er sich gezeigt, als Er weinte, ein Mensch unter Menschen. Jetzt nimmt Er am Grab seinen Platz als derjenige ein, der befiehlt und dem man gehorchen muss. „Nehmt den Stein weg“, war sein erstes Wort. Sie nahmen den Stein weg, trotz Marthas Intervention. Es lag sicher etwas in seinem Verhalten und in seinem Wort, das die Umstehenden dazu veranlasste, eifrig zu gehorchen. Es war nicht schwer, den Stein zu bewegen. Menschliche Kraft konnte das leicht tun. Die Auferweckung der Toten dagegen erforderte die Ausübung göttlicher Macht, direkt oder übertragen. Wer war derjenige, der jetzt in der Gestalt eines Gebieters erschien? Alle Anwesenden sollten es hören und, wenn sie wollten, auch verstehen. Es war der Sohn des Vaters. Er erhob seine Augen zum Himmel und sagte: „Vater, ich danke dir, dass du mich erhört hast. Ich aber wusste, dass du mich allezeit erhörst; doch um der Volksmenge willen, die umhersteht, habe ich es gesagt, damit sie glauben, dass du mich gesandt hast“ (Joh 11,41.42). Wer auf Erden könnte Gott im Himmel so ansprechen außer Ihm?

Alle Anwesenden konnten an diesem Tag hören, dass der Sohn auf der Erde mit dem Vater im Himmel verkehrte. Die Krankheit, so hatte der Herr gesagt, geschah zur Ehre Gottes, und der Sohn Gottes sollte dadurch verherrlicht werden. Auch Martha sollte, wenn sie glaubte, die Herrlichkeit Gottes sehen (Joh 11,40). Was für eine Antwort würden nun die vorwurfsvollen Äußerungen einiger Umstehender erhalten (Joh 11,37)!

Er hatte es befohlen, und der Stein wurde weggenommen. Er befahl abermals und rief[6] mit lauter Stimme: „Lazarus, komm heraus.“ Und der Verstorbene kam heraus, an Händen und Füßen mit Grabtüchern gebunden, und sein Gesicht war mit einem Schweißtuch umbunden. Alles war da, um den Gehorsam gegenüber dem Befehl zu erschweren – seine Glieder gebunden, sein Gesicht mit einem Schweißtuch umbunden. Das Befehlswort aber war ein Wort der Macht. Das Leben kehrte in den Körper zurück, die Kraft, die Vitalität in die Glieder. Aber war er wirklich gestorben? Hatte das Leben tatsächlich seine Gestalt verlassen? Der Herr verkündete die Tatsache seines Todes, zwei Tage nachdem der Bote seine Krankheit gemeldet hatte (Joh 11,14). Die Schwestern waren sicher, dass Lazarus gestorben war (Joh 11,21.32). Die Juden, die bei Maria waren, bezeugten es (Joh 11,37). Und vier Tage war er tot und begraben (Joh 11,17.39). Das Wunder konnte also nicht widerlegt werden. Wenn Lazarus aus dem Grab hervorkam, dann war es der Lazarus, der gestorben war. Seine Auferstehung war unbestreitbar. Ein Wort war gesprochen worden und Lazarus war wieder lebendig. Es gab keinen persönlichen Kontakt mit dem Herrn wie im Fall der Tochter des Jairus. Er sprach nur und es geschah. Er, der die ganze Schöpfung ins Leben gerufen hat, rief Lazarus durch sein Wort aus den Toten hervor.

„Ich bin die Auferstehung“, hatte Er gesagt. Damit bewies Er es: ein Vorgeschmack auf die Macht, die jeden entschlafenen Gläubigen aus dem Grab rufen wird; ein Vorgeschmack auch auf die Macht, die alle gottlosen Toten zum Erscheinen vor dem großen weißen Thron rufen wird. Nichts konnte Lazarus daran hindern, der Stimme Christi zu gehorchen. Nichts wird in der Lage sein, die Körper der gottlosen Toten im Grab zurückzuhalten. Gläubige können aus dieser Geschichte Ermutigung schöpfen. Wenn Er die Seinen aus dem Grab ruft, wird jeder von ihnen herauskommen. Ungläubige können durchaus zittern, wenn sie von der Wirkung seiner Stimme lesen. Dichter mögen über das „taube, kalte Ohr des Todes“ schreiben. Wenn jedoch Er, der die Auferstehung ist, spricht, ist das Ohr des Todes nicht mehr taub.

Noch ein Befehl, und diese Geschichte ist zu Ende. „Macht ihn los und lasst ihn gehen“ (Joh 11,44), sagte der Herr. Wie gerne muss dieses Wort befolgt worden sein. Jene Hände, die vier Tage zuvor die Grabtücher um den Leichnam gebunden hatten, befreiten ihn nun mit Eifer und mit einer Freude, die sich nicht in Worte fassen lässt, von den Fesseln des Todes. Unaussprechliche Freude, haben wir gesagt. Überschreitet dies die Grenzen des Möglichen? Von den Schwestern haben wir jetzt kein Wort mehr gehört. Die Geschichte endet hier, und wie passend! Die Freude, die zu groß war, um sie nach außen hin auszudrücken, hatte in einem Augenblick den Kummer verjagt, der so schwer auf ihnen lastete.

Bevor wir weitergehen, wollen wir noch auf die Vorgehensweise des Herrn in dieser Angelegenheit eingehen. Er hatte die Macht, Tote aufzuerwecken. In Galiläa zeigte Er sie. Er war im Begriff, Lazarus aufzuerwecken, wie Er seinen Jüngern sagte: „Ich gehe hin, um ihn aufzuwecken“ (Joh 11,11). Doch bevor Er das tat, bekundete Er sein tiefes Mitgefühl mit den Trauernden. Er seufzte und weinte. Es war das Mitgefühl dessen, der Allmacht hatte und im Begriff war, sie auszuüben. Die Zurschaustellung von Macht ist eine Sache; der Ausdruck von echtem, tiefen Mitgefühl ist eine ganz andere. Letzteres ist ein Hinweis auf das Herz des Mitfühlenden. Ist es nicht das, was wir erfahren wollen und dessen wir sicher sein wollen? Die Toten in Christus werden auferstehen. In der Zwischenzeit möchte der Herr, dass sein Volk durch das Bewusstsein seines Mitgefühls getröstet wird – des Mitgefühls dessen, der Mensch ist und wie ein Mensch fühlen kann, der aber der Sohn des lebendigen Gottes ist und auch die Auferstehung.

Er weinte an diesem Tag, und die Schwestern wie auch die Juden konnten es sehen. Er vergoss Tränen, wie das verwendete Wort andeutet, um seine Gefühle auszudrücken. Als Er bei einer anderen und späteren Gelegenheit über Jerusalem weinte (Lk 19,41), weil Er die Zukunft Jerusalems beklagte, die aus ihrer Gleichgültigkeit und Unbußfertigkeit resultierte, drückte Er seine Klage in Worten aus. In Bethanien weinte Er, und zwar offenbar schweigend, denn wir hören kein Wort von Ihm zwischen der Frage „Wo habt ihr ihn hingelegt?“ (Joh 11,34) und seinem Befehl „Nehmt den Stein weg“ (Joh 11,39). Die Tränen sind lautlos, aber sie können so laut sprechen wie die Stimme der Klage und bezeugen, dass die Gefühle im Innern auf diese Weise ein Ventil gefunden haben. Hier, und nur hier, wird gesagt, dass Er Tränen vergossen hat.[7] Dieser kurze Vers (Joh 11,35) in unserer Authorized Version, der nur aus zwei Worten besteht, ist voller Trost für trauernde Gläubige! Was für ein Herz hatte Er! Sollen wir nur „hatte“ sagen? Nein. Er lebt, lebendig in Auferstehung. Und was Er war, als Er auf Erden war, das ist Er immer noch den Seinen gegenüber. Wir erfahren heute sein Mitgefühl, wenn wir es brauchen. Wir werden seine Macht als die Auferstehung oder als das Leben erfahren, wenn Er uns, die wir gläubig sind, abruft, damit wir für immer bei Ihm sind. Wie wir sehen, handelte Er an jenem Tag in dieser Reihenfolge – zuerst zeigte Er sein Mitgefühl und dann seine Macht, die Toten aufzuerwecken.

Wir haben diesen Abschnitt unseres Evangeliums (Joh 11–12) mit „Das Zeugnis des Vaters für den Sohn“ überschrieben. Dies zeigt sich in Johannes 11, als der Herr, am Eingang der Gruft stehend, sich hörbar an seinen Vater wendet, bevor Er das Wort spricht, das Lazarus aus dem Grab herausruft. Indem Er sich so offen an den Vater wandte, wurde seine Machterweisung vom Vater eindeutig anerkannt. Denn wir können nicht annehmen, dass Er, der seine Herrlichkeit keinem anderen geben würde, es zugelassen hätte, dass ein bloßes Geschöpf behauptet, der Sohn zu sein, und durch dieses Wunder als solcher anerkannt würde. Er muss der Sohn sein und, wie Er an anderer Stelle von sich selbst behauptet, der eingeborene Sohn Gottes (Joh 3,16.18). Er war, Er ist der Sohn Gottes.

Ein Rat

Über die Gefühle der Schwestern, als Lazarus wieder lebendig aus dem Grab auftauchte, lesen wir, wie gesagt, nichts. Viele aber von den Juden, die gekommen waren, um mit ihnen seinen Tod zu beklagen, glaubten, als sie seine Auferstehung sahen, an den Herrn. Aber einige der Juden, die Ungläubigen, nehmen wir an[8] (denn nicht alle, die von Jerusalem nach Bethanien kamen, glaubten zu jener Zeit an ihn), gingen hin und berichteten den Pharisäern, was geschehen war. Diese beriefen einen Rat mit den Hohenpriestern ein und erklärten, sie seien um das Wohl der Stadt und des Volkes besorgt. Wäre dies ihr erster Versuch gewesen, den Herrn aufzuhalten, hätte man sie für aufrichtig halten können. Ihre wiederholten Versuche, Ihn bei früheren Gelegenheiten zu ergreifen, entbehren jedoch jeglicher Begründung für ihr jetziges Eingreifen. Dieser Mann, so waren sie sich einig, hatte viele Wunder getan. Sie konnten sie nicht leugnen und mussten auch die Wirkung, die sie auf die Menge ausübten, zugeben. „Wenn wir ihn so gewähren lassen, werden alle an ihn glauben, und die Römer werden kommen und sowohl unseren Ort als auch unsere Nation wegnehmen.“ Wir bekommen hier einen Einblick in ihre Beratungen und können gleichsam an der Tür des Ratssaals ihre Beratungen mit anhören. Wer aber hatte sich an dem römischen Joch gestoßen und wollte es am liebsten loswerden? Der Herr? Oder die Pharisäer? Wir alle wissen es. Zu diesem Zeitpunkt wurde sicherlich Heuchelei an den Tag gelegt, gepaart mit Unentschlossenheit im Rat, bis Kajaphas das Wort ergriff.

Kajaphas

Hier taucht er zum ersten Mal auf, der kurz darauf der Mann sein sollte, der im Rat des Synedriums als Hoherpriester den Herrn zum Tod verurteilte, indem er Ihn zunächst der Gotteslästerung bezichtigte. Er taucht in der Apostelgeschichte wieder auf. Vor ihn und Annas wurden Petrus und Johannes von den Tempeldienern gebracht (Apg 4,6). Er war ein Sadduzäer und erhielt sein Amt 17 oder 18 n.Chr. von der Hand des römischen Prokurators Valerius Gratus, der Hohepriester sozusagen nach seinem Gutdünken einsetzte und absetzte. Denn zwischen Annas und Joseph Kajaphas, so berichtet Josephus (Ant., XVIII. 2:2), gab es drei, die das Amt innehatten: (1) Ismael, der Sohn des Phabi; (2) Eleasar, ein Sohn des Annanus oder Annas, der das Amt zuvor innehatte; und (3) Simon, der Sohn des Kamithus. Die göttliche Ordnung des Hohepriestertums wurde außer Kraft gesetzt, und ein Heide, Valerius Gratus, setzte ein, wen er aus dem Haus Aaron wollte. Von Joseph Kajaphas ist bei Josephus wenig überliefert. Er wurde von Valerius Gratus zum Hohepriester ernannt und von Vitellius 36 n.Chr. abgesetzt. Wir erfahren mehr über ihn in der Heiligen Schrift als auf den Seiten des jüdischen Geschichtsschreibers.

Als Hoherpriester zu dieser Zeit, kurz vor dem Tod des Herrn, sprach er im Rat, als sie überlegten, was sie mit Christus tun sollten; und er erklärte, aber eigentlich, so schreibt Johannes, durch den Geist der Weissagung, dass der Tod des Herrn notwendig sei, um das Volk zu retten. „Ihr wisst nichts“, sagte Kajaphas zu den Pharisäern (und da er selbst ein Sadduzäer war, erklärt sich vielleicht seine Art, in jenem Rat zu sprechen). „Ihr wisst nichts und überlegt auch nicht, dass es euch [nicht uns] nützlich ist, dass ein Mensch für das Volk sterbe und nicht die ganze Nation umkomme“ (Joh 11,49.50). Dies war die letzte wirklich prophetische Verkündigung, die von einem Inhaber des Hohepriesteramtes in Israel ausging. In der Tat war er kaum in der Lage, zu verstehen, was der Evangelist in diesen Worten verborgen sah. Kajaphas dachte nur daran, die römische Eifersucht zu besänftigen, indem er den Herrn töten ließ. Johannes sah in ihnen eine Voraussage über den Herrn als Sündopfer, das den Ansprüchen eines heiligen Gottes für den gottesfürchtigen Überrest des Volkes genügt. „Damit nicht das ganze Volk umkommt“, sagte Kajaphas. Genau das hätte Johannes erwidern können. Aber was der Hohepriester dachte und wie Johannes seine Worte verstand, lag weit auseinander. Kajaphas dachte an die römische Macht und fürchtete ihren Zorn. Johannes dachte an das göttliche Gericht und an Gottes Vorkehrung, diesem Gericht durch einen von ihm auserwählten Stellvertreter zu entgehen. Mehr noch, Gottes Gedanken reichten über die Grenzen der Nation hinaus und schlossen die Heiden in den göttlichen Plan ein. Denn Christus sollte durch seinen Tod die zerstreuten Kinder Gottes in eins versammeln (Joh 11,52). Von Schafen, die nicht zur Herde des Judentums gehören, hatte der Herr bereits gesprochen (Joh 10,16) – Schafe, die nicht einmal zu den Zerstreuten gehörten, denen Petrus in späteren Jahren diente (1. Pet 1,1). Auch sie würde der Herr führen und sie sollten seine Stimme hören; und es sollte eine Herde und ein Hirte sein.

Kajaphasʼ Rat wurde befolgt. Die Unentschlossenheit des Rates hatte sofort ein Ende. Die beiden großen Parteien, die Pharisäer und die Sadduzäer, waren sich von nun an in der Angelegenheit einig. Der Herr musste sterben. Aber wann? Wer von ihnen wusste es? Sie warteten jedoch auf ihre Gelegenheit und gaben, als das Passahfest näher rückte, eine Bekanntmachung heraus, dass, wenn jemand wisse, wo der Herr in Jerusalem sei, er dies der Obrigkeit mitteilen solle, damit sie Ihn ergreifen könne.

Ephraim

In der Zwischenzeit zog sich der Herr, ohne Jerusalem zu betreten und in voller Kenntnis der Absicht des Rates, für eine kurze Zeit in eine Stadt namens Ephraim zurück, die nahe bei der Wüste lag, und verweilte dort mit seinen Jüngern. Bei dieser Stadt soll es sich um das moderne Et-Taiyibeh handeln – „ein Dorf“, (wir zitieren aus Smithʼs Dictionary of the Bible), „auf einem auffallend kegelförmigen Hügel, von dem aus man den ganzen Osthang, das Jordantal und das Tote Meer überblicken kann. Es liegt vier Meilen nordöstlich von Bethel und vierzehn Meilen von Jerusalem entfernt.“ Von dort kehrte der Herr sechs Tage vor dem Passahfest nach Bethanien zurück. Wenn wir das Johannesevangelium mit denen der Synoptiker vergleichen, stellen wir fest, dass er jeden Hinweis auf den Besuch des Herrn in Jericho und die Heilung des Bartimäus weglässt. Das kann nicht nach der Auferweckung des Lazarus stattgefunden haben. Soweit wir wissen, muss dies auf dem Weg nach Bethanien von östlich des Jordans geschehen sein. In Ephraim blieb Er; aber wie lange, hat unser einziger Informant, der Apostel Johannes, nicht angegeben, und wir wissen auch nichts über irgendeinen Dienst, den Christus während dieser Zeit verrichtete. Noch hatte Judas Ihn nicht verraten, noch war die Zurechtweisung nicht erfolgt, die den Anlass für dieses furchtbare Verbrechen bildete.

Das Passahfest rückte näher, und Scharen strömten in die Heilige Stadt, um dieses Fest zu feiern. Unter den Versammelten wurde nun die Frage erörtert, ob der Herr sich zeigen würde oder nicht. Es sollte nur noch wenig Zeit vergehen, bis Er diesen Punkt klären und in der Stadt erscheinen würde, indem Er sie auf eine nie erwartete Weise betrat. Davon lesen wir in Johannes 12, also verschieben wir jede Bemerkung darüber auf die folgende Abhandlung.


Fußnoten:

  1. Wir haben „nicht erwähnt“ gesagt, denn Lukas 10,38 nennt es nicht.
  2. In Smiths Dictionary of the Bible, zweite Ausgabe, in einem Artikel von Sir C.W. Wilson, erfahren wir, „dass das mittelalterliche Bethphage 1877 auf dem Weg vom Ölberg nach Bethanien entdeckt wurde; und Ganneau schlägt vor, es mit Kefr et-Tur zu identifizieren, dem Dorf am Ölberg, das sich in der erforderlichen Entfernung von der Stadt befindet“.
  3. Porterʼs Giant Cities of Bashan, S. 164.
  4. Siehe Anmerkung zu Johannes 21,15, zum Unterschied zwischen phileo, das hier von den Schwestern für die Zuneigung Christi zu Lazarus verwendet wird, und der Aussage des Evangelisten über die drei, wo agapao verwendet wird.
  5. Es gibt zwei Worte, aiteo und erotao, das letztere vertraut, das erstere flehentlich. Das erstere wird nie von Christus in Verbindung mit dem Vater verwendet und nur von Martha in Bezug auf Gott, was diese Bedeutung des Wortes bestätigt. Beide Worte werden von den Jüngern in Verbindung mit Christus gebraucht, nur das erste von den Jüngern mit dem Vater.“ (Anmerkung zu Johannes 14,16 in einer neuen Übersetzung des Neuen Testaments von J.N. Darby)
  6. Das hier vom Evangelisten gewählte griechische Verb wird sonst nie auf den Herrn angewandt. Es wird für die Menge verwendet, die ihn nach Jerusalem begleitete (Joh 12,13), und für die Menge, die seinen Tod verlangte (Joh 18,40; 19,6). Der Messias, so lesen wir in Matthäus 12,19, zitiert aus Jesaja 42,2, würde nicht schreien. Hier sprach Er, um die Toten zu wecken. Die Lautstärke seiner Stimme bei dieser Gelegenheit war damals etwas Besonderes und für Ihn einmalig.
  7. Meyer bemerkt zu dem von Johannes gewählten Verb: „Es ist bemerkenswert, dass hier dakry verwendet wird und nicht wieder claio. Sein Weinen ist ein Vergießen von Tränen in stillem Schmerz, nicht ein Weinen mit lauter Klage, nicht ein Klagen, wie über Jerusalem (Lk 19,41). Es ist eine feine Unterscheidung der Ausdrücke, ohne Zwang und wahrhaftig.“
  8. Aber Meyer, dem Alford folgt, meint, es seien einige gewesen, die glaubten und so handelten.