Wir stehen hier am Ende der alttestamentlichen Geschichte des irdischen Volkes Gottes, und das Buch Daniel gibt uns den Wendepunkt, an dem Gott Seine direkte Regierung über Sein Volk und über die Erde beendet und die Zeiten der Nationen (Lk 21,24) beginnen lässt. In diesen Zeiten der Nationen leben wir heute übrigens noch immer – das gibt dem Buch Daniel auch eine große Aktualität für unsere Tage.

Gott lässt jetzt in Seiner Vorsehung die Welt von den großen vier Weltreichen beherrschen. Das ist nicht ein Ergebnis menschlicher Politik oder Kriegsführung, sondern Er selbst hat diesen Wandel herbeigeführt. In 2. Chr 36,16 lesen wir, dass Zedekia, der letzte König von Juda, so treulos gehandelt hatte, dass keine Heilung mehr war. Gott hatte daraufhin den König von Babel gegen Juda heraufkommen lassen und Sein Volk in die Gefangenschaft gegeben. Zu diesem Zeitpunkt beginnen die Zeiten der Nationen, und sie werden andauern bis zur Erscheinung des Herrn Jesus in Herrlichkeit auf dieser Erde, wenn Er Sein Reich aufrichten wird.

Überblick über das Buch Daniel:

  • Kap 1: Einleitung; moralische Haltung des treuen jüdischen Überrestes in Daniel und seinen drei Freunden

  • Kap 2: der Traum Nebukadnezars; die Herrlichkeit des Menschen in den vier Weltreichen

  • Kap 3–6: der moralische Charakter des ersten und zweiten Weltreiches

  • Kap 7: das Gesicht Daniels; die gleichen vier Weltreiche in der Gestalt von reißenden Tieren; nicht mehr ihre menschliche Herrlichkeit, sondern ihre ungezähmte Wildheit

  • Kap 8–12: die Entwicklung des dritten und vierten Weltreiches

Das Buch Daniel ist von überragender Bedeutung für das Verständnis der gesamten Prophetie. Wenn man Daniel und die Offenbarung zusammen hat, dann hat man das ganze Bild der Prophetie, die sich nicht in erster Linie nur auf Israel bezieht. Jesaja, Jeremia, Hesekiel haben immer Israel als das irdische Volk Gottes im Mittelpunkt ihres Dienstes. Letzten Endes gibt es in der biblischen Prophetie drei wesentliche Gesichtspunkte:

  • die wichtigste Person ist der Herr Jesus, der Sohn Gottes, der Messias Israels

  • das wichtigste Volk ist Sein irdisches Volk Israel, zu dem Er gehört und über das Er herrschen wird

  • alle Entwicklungen, die notwendig sind und die Gott so lenkt, dass der Herr Jesus einmal über Israel herrschen wird. Dieser Gesichtspunkt nimmt den größten Raum in der biblischen Prophetie ein: Bewegungen, die Gott herbeiführen wird, damit Sein Sohn einmal im 1000-jährigen Reich den ersten Platz einnehmen wird.

Es gibt in der Tat kein wichtigeres Buch im Blick auf die Prophetie als das Buch Daniel. Wenn wir dieses Buch nicht hätten, würden wir viele Passagen des prophetischen Wortes – vor allen Dingen im Neuen Testament – nicht verstehen können. Die prophetische Rede des Herrn in Lk 21 könnten wir ohne Daniel nicht verstehen; wir wüssten nämlich nicht, was die Zeiten der Nationen eigentlich sein sollen. Und in der Offenbarung wird nicht nur Daniel zitiert, sondern es ist geradezu die Grundlage für alles, was dort geschildert wird. Wenn wir verstehen wollen, was die Offenbarung zeigt, brauchen wir unbedingt das Buch Daniel.

Und dieses Buch Daniel ist nicht nur sehr wichtig, sondern es ist auch mehrfach als authentisch bezeugt und bestätigt worden. Der Teufel hatte Angriffe auf dieses Buch gestartet, um einerseits den Propheten selbst aber auch seine Botschaft in Misskredit zu bringen. Deshalb bezeugt das Wort Gottes selbst den Propheten Daniel als eine geschichtliche Person, und seine Botschaft als Offenbarung Gottes. In Mt 24,15 z.B. nennt der Herr Jesus selbst Daniel mit Namen und bestätigt ihn als einen Propheten. In Mt 21,44 spielt der Herr ganz offensichtlich auf das Bild aus dem Traum Nebukadnezars an, wo dieses Bild in seiner letzten Erscheinungsform an den Füßen zerschmettert werden wird. Und in Mt 26,64 gebraucht der Herr Jesus eine Schilderung aus Daniel 7 für die Ankündigung Seiner Ankunft. In Heb 11,33+34 wird eindeutig auf die Begebenheiten von Daniel in der Löwengrube und den drei Freunden im brennenden Feuerofen angespielt.

Es ist bemerkenswert, wie viel Mühe sich Gott macht, dieses Buch zu legitimieren. Hesekiel und Jeremia waren Zeitgenossen Daniels. In Hes 14,13+20 spricht Gott selbst von seinem Knecht Daniel und stellt ihn auf eine Stufe mit Noah und Hiob. Er hat in der Endzeit des Alten Testaments die gleichen moralischen Qualitäten bewiesen, wie die beiden Patriarchen ganz aus der Anfangszeit der Geschichte des Alten Testamentes. Daniel ist eine wirklich außergewöhnliche Person, er ist der einzige Mensch im Wort Gottes, der mehrmals „Vielgeliebter“ genannt wird. Wir wissen viel über seine Herzensübungen, über seine Gedanken und seine Empfindungen. Von ihm werden uns – wie auch von Joseph – keine Fehler berichtet. Gott hat es für gut befunden, keine Schwäche dieses Mannes aufzuzeichnen.

Grundsätzliches über biblische Prophetie:

Prophetie und Geschichte liegen dicht beieinander. Aber zuerst steht die Prophetie, und dann hat sich in der Geschichte die Prophetie erfüllt. Und in dieser Reihenfolge müssen wir uns auch hier diesem Thema nähern. Zunächst haben wir es hier mit Prophezeiungen zu tun darüber, wie sich die Dinge entwickeln würden, und dann hat es sich genauso in der Geschichte erfüllt. Wir dürfen also dieses Kapitel nicht anhand der geschichtlichen Entwicklungen auslegen, sondern nur anhand des Wortes Gottes. Rückblickend sehen wir heute in der geschichtlichen Entwicklung eine Bestätigung der Auslegung – aber Ausgangspunkt und Basis aller Erklärungen ist das Wort Gottes. Wir dürfen nie versuchen, die Prophetie mit der Geschichte zu erklären! Das ist ein total falscher Weg. Die Geschichte wird das bestätigen, was die Prophetie gesagt hat; aber die Auslegung der Prophetie hängt niemals auch nur im Geringsten von der Geschichte ab.

Für Gott ist Prophetie vorausgesagte Geschichte! Wir sehen Geschichte nur im Nachhinein, wenn sie sich ereignet hat. Aber Gott sagt sie uns in Seinem Wort im Voraus. Und das ist ja auch der größte Angriff gegen das Buch Daniel, dass man ihm wegen dieser wortwörtlichen Voraussagen vorwirft, es könne unmöglich vor diesen ganzen Ereignissen geschrieben worden sein, es muss erst hinterher geschrieben worden sein. Damit zieht man die ganze Autorität der Bibel in Zweifel und kommt dahin, dass sogar in den großen Kirchen die Bibel als Märchenbuch angesehen wird. Aber wir dürfen daran festhalten, dass Gottes Wort in Ewigkeit fest steht in den Himmeln (Ps 119,89). Für uns heute besteht die größte Gefahr nicht in Verfolgung, sondern in Verführung. Mit äußerster Raffinesse wird unseren Kindern in den Schulen Zweifel am Wort Gottes beigebracht. Deshalb müssen wir uns ernstlich darum bekümmern, welchen Einflüssen sie in den Schulen ausgesetzt sind, damit wir sie in den guten Wegen des Herrn unterweisen können – so wie Daniel es in seinem Elternhaus vor der Zeit der Wegführung nach Babylon erfahren haben muss, sonst hätte er nicht so stehen können, wie er stand.

Wir finden zwar in der Bibel an keiner Stelle ein einheitliches Gesamtbild der prophetischen Schau bis hin zum 1000-jährigen Reich, aber die Einzelheiten in den verschiedenen prophetischen Büchern passen wie die einzelnen Teile eines Puzzles zusammen, und wie bei einem Puzzle können sie unter Aufwendung von etwas Mühe zusammengelegt werden. Man darf natürlich nicht den Fehler machen, wie es auch in weiten Teilen der Christenheit geschehen ist, dass man die einzelnen Teile dieses Puzzles mit Gewalt zusammenzwängt, auch wenn sie nicht zusammengehören. Das prophetische Wort in seiner richtigen Auslegung ist wie eine Lampe, die an einem dunklen Ort leuchtet (2. Pet 1,19). Möchte es in unseren Herzen leuchten, bis der Tag anbricht und wir das volle Licht genießen werden, und möchte es bis dahin die Wirkung auf uns haben, dass die Person des Herrn Jesus und Sein Kommen für uns lebendiger in unseren Herzen wird!