Darauf wurde Daniel vor den König geführt. Der König hob an und sprach zu Daniel: Bist du Daniel, einer der Weggeführten von Juda, die der König, mein Vater, aus Juda hergebracht hat? Und ich habe von dir gehört, dass der Geist der Götter in dir ist und dass Erleuchtung und Verstand und außergewöhnliche Weisheit bei dir gefunden werden. Und nun sind die Weisen, die Sterndeuter, vor mich geführt worden, damit sie diese Schrift läsen und mir ihre Deutung kundtäten; aber sie vermögen nicht, die Deutung der Sache anzuzeigen. Ich habe aber von dir gehört, dass du Deutungen zu geben und Knoten zu lösen vermagst. Nun, wenn du diese Schrift zu lesen und mir ihre Deutung kundzutun vermagst, so sollst du mit Purpur bekleidet werden, mit einer goldenen Kette um deinen Hals, und du sollst als Dritter im Königreich herrschen“ (Daniel 5,13–16).

Nach dem Tod Nebukadnezars war Daniel also offenbar völlig von der Bildfläche verschwunden, mindestens 15 bis 20 Jahre waren seitdem vergangen, denn hier in Kapitel 5 sind wir ja am letzten Abend des ersten Weltreiches und Daniel muss hier schon ein sehr alter Mann von 85 bis 90 Jahren gewesen sein. Wahrscheinlich war Daniel während dieser Jahre von den Nachfolgern Nebukadnezars verkannt worden (vgl. 2. Mo 1,8), war innerhalb von zwei oder drei Generationen völlig aus dem Gedächtnis verschwunden. Aber Gott sorgt dafür, dass dieser vielgeliebte Mann (Dan 10,11), der Ihm sein ganzes Leben lang treu gedient hatte, gerufen wird, um dem König dessen Endgericht zu verkündigen und damit auch das Ende des ersten der vier Weltreiche.

Wenn nun Daniel vor Belsazar geführt wird, begrüßt ihn der König mit einer verächtlichen und demütigenden Anrede: „einer der Weggeführten von Juda“. Aber es liegt darin auch eine schöne und ernste Belehrung für uns. In Daniel 2,25 wurde Daniel schon einmal mit dieser Bezeichnung damals vor den Nebukadnezar gebracht. Die Nationen dieser Welt sind von dem Volk Gottes abhängig, wenn es sich um die Zukunft, die Wahrheit, das ewige Leben handelt. Nur ein Mann aus dem Volk Gottes konnte helfen. Auch wir sollten jederzeit zur Verantwortung bereit sein gegen jeden, der Rechenschaft von uns fordert (1. Pet 3,15). Nur die Christen können der Welt ein Zeugnis von der Wahrheit und von der Gnade Gottes bringen! Sind wir uns dessen noch bewusst?

Vers 15 darf nicht ohne Vers 8 gelesen werden. Vers 8 sagt ganz klar, dass die Weisen die Schrift nicht lesen konnten und nicht zu deuten vermochten. Wenn dann der König davon zu Daniel spricht, dass sie die Deutung nicht anzuzeigen vermochten, wäre es zu oberflächlich, daraus zu schließen, dass sie die Schrift doch hätten lesen können. Gottes Wort widerspricht sich nicht, und der König erzählt dem Daniel hier in Vers 15 das Endergebnis der Bemühungen seiner Weisen.

In Vers 16 stellt Belsazar dem Daniel den Lohn in Aussicht, den er ihm geben würde, wenn Daniel ihm die Deutung der Schrift anzeigen könnte. Vielleicht fragen wir uns, warum er ihm nicht den zweiten, sondern nur den dritten Platz in seinem Reich verspricht. Wir müssen dabei bedenken, dass Nabonid der eigentliche König über dieses Reich nach dem Tod Nebukadnezars war, der aber die Regierungsgewalt seinem Sohn Belsazar übergeben hatte. Also der erste und der zweite Platz in diesem Reich wurden schon durch Nabonid und Belsazar eingenommen.

Da antwortete Daniel und sprach vor dem König: Deine Gaben mögen dir verbleiben, und deine Geschenke gib einem anderen; jedoch werde ich dem König die Schrift lesen und ihm die Deutung kundtun“ (Daniel 5,17).

Im Verhältnis zu Daniel 2 fällt hier die Spontanität der Antwort Daniels auf. In Daniel 2,16–18 hatte er sich noch von dem König eine Frist erbeten, um im Gebet die Erklärung von Gott zu erfahren. Hier ist er unmittelbar bereit zur Antwort und hat auch direkt die Klarheit über die Bedeutung der Schrift. Dabei müssen wir berücksichtigen, dass er zu diesem Zeitpunkt schon die Gesichte aus Daniel 7 und 8 vor Augen hatte (Dan 7,1; 8,1) und deren prophetische Bewertung kannte. Er war von Gott schon auf diesen Augenblick vorbereitet worden. Auch wir können übrigens im Licht der prophetischen Belehrung eine Bewertung des moralischen Zustandes der uns umgebenden Welt jetzt schon vornehmen, ihre Werte, ihre Gesinnung, die ganze Atmosphäre dieser Gesellschaft.

Mit sehr kühnen Worten lehnte Daniel zunächst die Gaben des Königs ab, obwohl ihm sicher bewusst war, dass er hier vor dem mächtigsten Monarchen dieser Welt stand. Eine sehr mutige Sprache, die uns diesen Daniel immer mehr zum Vorbild werden lässt. Ein wenig erinnert er uns an Abram vor dem König von Sodom in 1. Mose 14,23: „Damit du nicht sagst: Ich habe Abram reich gemacht.“ Er wusste aber auch, dass es mit diesem Reich noch in dieser Nacht zu Ende gehen würde und dass diese Gaben Belsazars keinen Bestand hätten.

Du, o König – der höchste Gott hatte Nebukadnezar, deinem Vater, das Königtum und die Größe und die Ehre und die Herrlichkeit verliehen; und wegen der Größe, die er ihm verliehen hatte, bebten und fürchteten sich alle Völker, Völkerschaften und Sprachen vor ihm. Wen er wollte, tötete er, und wen er wollte, ließ er leben; und wen er wollte, erhöhte er, und wen er wollte, erniedrigte er. Als aber sein Herz sich erhob und sein Geist sich bis zur Vermessenheit verstockte, wurde er vom Thron seines Königtums gestürzt, und man nahm ihm seine Würde. Und er wurde von den Menschenkindern ausgestoßen, und sein Herz wurde wie das der Tiere, und seine Wohnung war bei den Wildeseln; man gab ihm Kraut zu essen wie den Rindern, und sein Leib wurde vom Tau des Himmels benetzt – bis er erkannte, dass der höchste Gott über das Königtum der Menschen herrscht und darüber bestellt, wen er will“ (Daniel 5,18–21).

Der Hauptgedanke dieser Verse ist, dass Gott wirklich über allem steht. Daniel macht das noch einmal an dem Beispiel Nebukadnezars klar. Gott hatte ihm diese Machtfülle verliehen, Gott hatte ihn wegen seiner Überhebung herabgestürzt, und Gott herrscht über das Königtum der Menschen und bestellt darüber, wen Er will!

Wir finden hier keine Aufforderung mehr an den Belsazar, mit seinen Sünden zu brechen, sondern nur noch eine ganz ernste Ankündigung des Gerichts. Aber wenn Gott richtet, dann gibt er im Allgemeinen vorher die Gründe an, warum Er so handelt. Das ist der Grund, warum hier Daniel nicht sogleich die Deutung angibt. Er muss diesem Mann zunächst zeigen, warum diese Schrift an der Wand erschienen ist.

Und er beginnt damit, sich an das Gewissen des Belsazar zu wenden, und spricht von dem, was sein Vater oder Vorfahre Nebukadnezar erlebt hatte, als sich sein Herz erhoben hatte. Hochmut war ein Merkmal Nebukadnezars gewesen, er hatte vergessen und nicht anerkannt, dass seine ganze Größe und unumschränkte Macht von dem Höchsten selbst erhalten hatte. Dann wurde er ausgestoßen und kam unter die Tiere. Hatte Belsazar aus der Geschichte seines Vaters gelernt? Nein! Eine ernste Mahnung für uns; wir tun gut daran, aus der Geschichte unserer Väter zu lernen!

Hier wird die unvergleichliche Machtfülle Nebukadnezars vorgestellt: Größe, Ehre und Herrlichkeit – Attribute, die sonst nur Gott selbst zugeschrieben werden (vgl. 1. Chr 29,11.12). Gott hatte von diesen Eigenschaften, die eigentlich Ihn selbst kennzeichnen, dem Nebukadnezar gegeben. Und auch, dass Nebukadnezar tötete, wen er wollte, und am Leben ließ, wen er wollte, wird sonst von Gott gesagt (vgl. 5. Mo 32,39; 1. Sam 2,6). Und dann erhob sich sein Herz – und das ist die Geschichte Satans; der höchste Engelsfürst hatte sich ebenso erhoben.

Der Heilige Geist berichtet dann hier zum zweiten Mal über das Gericht, die tiefe Erniedrigung, die über Nebukadnezar gekommen war, und er endet in Vers 21 mit nahezu den gleichen Worten, die damals Daniel dem Nebukadnezar gegenüber gebraucht hatte (Dan 4,29). Von der höchsten vorstellbaren Höhe hinabgestürzt in eine nicht vorstellbare Erniedrigung! Es ist ein ganz wesentlicher Gedanke, dass der große Gott souverän ist und souverän handelt, so wie Er will! Hinter allem steht immer Gott, auch heute, wo wir auch Zeuge werden von abscheulichen Bluttaten, wie sie in der Geschichte der Menschheit kaum einmal verübt worden sind.

Und du, Belsazar, sein Sohn, hast dein Herz nicht gedemütigt, obwohl du dies alles gewusst hast. Und du hast dich über den Herrn des Himmels erhoben; und man hat die Gefäße seines Hauses vor dich gebracht, und du und deine Gewaltigen, deine Frauen und deine Nebenfrauen, ihr habt Wein daraus getrunken. Und du hast die Götter aus Silber und Gold, aus Kupfer, Eisen, Holz und Stein gerühmt, die nicht sehen und nicht hören und nicht wahrnehmen; aber den Gott, in dessen Hand dein Odem ist und bei dem alle deine Wege sind, hast du nicht geehrt. Da wurde von ihm diese Hand gesandt und diese Schrift gezeichnet“ (Daniel 5,22–24).

Daniel zeigt ihm den wahren Charakter seines bösen Tuns. Er hatte eine schuldhafte Ignoranz an den Tag gelegt, war arrogant und hochmütig; er hatte alles gewusst und hatte sich doch nicht gedemütigt. Hören und Wissen allein nützt nichts, es erhöht nur die Verantwortung; und weil Belsazar nicht entsprechend gehandelt hatte, muss ihn das Gericht treffen. Wir sehen hier, dass Gott auch bei Belsazar auf eine Demütigung gewartet hat. Aber der hatte sich für den Herrn des Himmels nicht interessiert und sich im Gegenteil sogar über Ihn erhoben. Das ist die eigentliche frevelhafte Tat Belsazars. In Daniel 11,36 finden wir bei einem anderen, noch zukünftigen König, dem Antichristen, ganz ähnliche Züge wie hier bei Belsazar.

In Vers 23 wirft Daniel dem Belsazar seine böse Tat mit fast den gleichen Worten vor, wie sie in dem eigentlichen Bericht in Vers 2 und 3 geschildert werden. Und das, obwohl er bei diesem Fest und dieser Gottlosigkeit ja gar nicht dabei gewesen ist. Woher wusste er das alles so wortgenau, wer hat ihm das gesagt? Aus Kapitel 6 wissen wir, dass er einen gewohnheitsmäßigen Umgang mit seinem Gott hatte. Und in der Stille vor Gott hatte er diese Klarheit darüber bekommen, was sich dort in dem Festsaal des Königs abspielte. Das ist Weissagung, eine Offenbarung, die er von Gott bekommen hatte. Wenn wir heute Dinge klar sehen wollen, müssen auch wir uns nahe bei Gott aufhalten! Zu einer Deutung gehört die Gemeinschaft mit Gott (1. Kor 2,14.15).

Dann folgt eine sehr wichtige Aussage, die für alle Geschöpfe Gottes gilt, besonders aber für alle Gläubigen: „…in dessen Hand dein Odem ist.“ Eine ähnliche Aussage trifft Paulus auf dem Aeropag in Apostelgeschichte 17,25 über den Schöpfer-Gott: „Da er selbst allen Leben und Odem und alles gibt“. Drei Dinge also gibt Gott:

  • Leben, das natürliche Leben

  • Odem oder Atem, das ist die Aufrechterhaltung des Lebens; Gott gibt Leben, und Er hält es auch aufrecht; Er wirkt, dass wir atmen können. Danken wir noch dafür, dass wir atmen können? Keine Luft zu bekommen, ist etwas Erschütterndes!

  • alles; das meint alles, was wir sonst noch brauchen

Wir sehen bei Daniel hier drei schöne Charakterzüge in der Art und Weise, wie er zu dem König spricht. Zunächst einmal spricht er furchtlos und kühn und sehr deutlich; dann hält er auch eine gewisse Distanz zu dem König in seiner Ansprache. Man hat schon fast den Eindruck, als hätte er genötigt werden müssen, um überhaupt vor den König zu treten (Dan 5,12.13: er werde gerufen; er wurde geführt). Und als Drittes lehnt er die Geschenke ab; als Prophet Gottes war er nicht käuflich oder beeinflussbar. Denken wir noch einmal daran, dass er hier schon ein alter Mann geworden war – fest und treu bis ins hohe Alter!