Daniel antwortete vor dem König und sprach: Das Geheimnis, das der König verlangt, können Weise, Beschwörer, Wahrsagepriester und Sterndeuter dem König nicht anzeigen. Aber es ist ein Gott im Himmel, der Geheimnisse offenbart; und er hat dem König Nebukadnezar kundgetan, was am Ende der Tage geschehen wird. Dein Traum und die Gesichte deines Hauptes auf deinem Lager waren diese: Dir, o König, stiegen auf deinem Lager Gedanken auf, was nach diesem geschehen wird; und der, der die Geheimnisse offenbart, hat dir kundgetan, was geschehen wird. Mir aber ist nicht durch Weisheit, die in mir mehr als in allen Lebenden wäre, dieses Geheimnis offenbart worden, sondern deshalb, damit man dem König die Deutung kundtut und du die Gedanken deines Herzens erfährst.“ (Vers 27–30)

Daniel steht jetzt wohl zum dritten Mal vor dem König, als 20-jähriger vor dem mächtigsten Mann der Erde! Was würde er auf die Frage des Königs antworten? Würde er sich oder das Volk Gottes ins beste Licht rücken, Ehre für sich selbst suchen? Wir sehen in seiner Antwort, dass wahre Erkenntnis niemals aufbläht. Wahre Erkenntnis führt zu Demut. Daniel verbirgt sich selbst hinter Gott und gibt Ihm die Ehre. Ein wahrer Diener des Herrn strebt nicht selbst in den Vordergrund. Es ist ja nicht nur eine Gefahr für uns, Ehre in der Welt zu suchen, Ehre unter Brüdern kann auch ein Antrieb für uns sein!

Daniel zeigt dem König dann auch nicht nur den Traum und dessen Deutung an, sondern er spricht auch von dem, was diesem Traum vorausgegangen war, was die persönlichen Befindlichkeiten und inneren Beweggründe bei Nebukadnezar waren, die dazu geführt hatten, dass Gott ihm diesen Traum gezeigt hatte. Der König hatte sich offenbar Gedanken und Sorgen über die zukünftige politische Entwicklung seines eigenen babylonischen Reiches gemacht, was seine Nachfolger wohl einmal machen würden. Gott gibt ihm in seinem Traum aber eine Schau, die weit über das hinausgeht, was er eigentlich hatte wissen wollen.

Die Antwort Daniels erstreckt sich auf drei Teile:

  • Vers 27–30: Daniel zeigt hier, wer die Quelle dieser Offenbarung ist. Er weist weit von sich, dass er das etwa sei. Die Quelle von allem ist der Gott im Himmel. Und die Absicht, die Gott mit dieser Offenbarung verband ist, dass Nebukadnezar wissen sollte, was am Ende der Tage geschehen würde. Und dann zeigt Daniel, dass Gott Interesse hat an diesem heidnischen König. Danach verbirgt sich Daniel; Offenbarung führt sowohl zur Anbetung als auch auf Seiten des Dieners zu einer wirklichen Demut.

  • Vers 31–36: hier wird das Bild in seinen ganzen Einzelheiten gezeigt

  • Vers 37–45: die außerordentlich wichtige Deutung des Bildes

Nebukadnezar sollte wissen, was am Ende der Tage geschehen wird. Mit diesen Worten wird angedeutet, dass dieser Traum eine Offenbarung Gottes war, die nicht nur Nebukadnezar betreffen würde, sondern ihre Auswirkungen bis an das Ende der Tage hat. Damit ist das Ende der Zeiten der Nationen gemeint, was mit dem Ende des wiederhergestellten römischen Reiches erreicht sein wird. Dieser Ausdruck wird mehrfach im Alten Testament gebraucht, zum ersten Mal in 1. Mo 49,1; und auch diese Prophetie von Jakob erstreckt sich bis in die Endzeit (vgl. auch die Weissagung Bileams in 4. Mo 24,14). So gewaltig ist der Umfang dessen, was Gott Nebukadnezar offenbaren wollte. Es ist eine gewaltige Sache, dass Gott Seinen ganzen Ratschluss, der münden wird in die Regierung Christi auf Erden, in diesen kurzen Worten offenbart! Das Ende der Tage darf also nicht verwechselt werden mit den letzten Tagen (z.B. 2. Tim 3,1; 2. Pet 3,3) aus dem Neuen Testament, wo es um die letzten Tage des christlichen Bekenntnisses geht.

Dreimal finden wir in diesen Versen den Ausdruck offenbaren und dreimal auch den Ausdruck kundtun. Es ist etwas bis dahin nie Dagewesenes, dass Gott sich in solch einer gewaltigen weltverändernden Angelegenheit nicht Seinen Propheten offenbart, sondern diesem ungläubigen König, den Er selbst in Seiner Vorsehung dazu erkoren hat, das Haupt von Gold zu sein (vgl. Vers 38). Nebukadnezar ist zwar nicht die einzige ungläubige Person, die jemals eine Offenbarung von Gott bekommen hat (z.B. Bileam, die Frau von Pilatus), aber es ist schon etwas sehr Außergewöhnliches, dass Gott ungläubigen Menschen Dinge offenbart.

Du, o König, sahst: Und siehe, ein großes Bild; dieses Bild war gewaltig und sein Glanz außergewöhnlich; es stand vor dir, und sein Aussehen war schrecklich. Dieses Bild, sein Haupt war aus feinem Gold; seine Brust und seine Arme aus Silber; sein Bauch und seine Lenden aus Kupfer; seine Schenkel aus Eisen; seine Füße teils aus Eisen und teils aus Ton.“ (Vers 31–33)

Es sind nicht vier Bilder von vier Königreichen, sondern ein einheitliches, zusammenhängendes Bild, so dass die vier Königreiche, die aufeinander folgen, ein einheitliches Ganzes bilden und nicht in vier einzelnen Teilen gesehen werden. Es geht um einen einheitlichen Zeitabschnitt, in dem vier Weltreiche aufeinander folgen. Es geht hier um Veränderungen in der Weltgeschichte, die für das Verständnis der ganzen Prophetie des Alten Testamentes und des Neuen Testamentes von fundamentaler Bedeutung sind. Mit der Geschichte Nebukadnezars ist eine völlig neue Zeitperiode angebrochen. Sie beginnt mit der Wegführung Judas in die babylonische Gefangenschaft, und das Ende dieses Bildes ist, dass der Herr hier auf der Erde das letzte Reich, das hier beschrieben wird, selbst beseitigen und an dessen Stelle Sein eigenes 1000-jähriges Reich errichten wird. In diesem Zeitabschnitt der Zeiten der Nationen wechselt übrigens auch ein heilsgeschichtlicher Zeitabschnitt, die Haushaltung des Gesetzes endet, und mit dem ersten Kommen des Herrn auf diese Erde (während des vierten Weltreiches) beginnt die Haushaltung der Gnade.

Dass das Bild groß und gewaltig war, zeigt die ganze Ausdehnung dieser Reiche, es handelt sich um Weltreiche. Und dass das Aussehen schrecklich war, deutet auf die Grausamkeiten hin, die in diesen Weltreichen ausgeübt wurden; das, was Gott gegeben hatte, wurde in den Händen der Menschen wieder verderbt. Die ganze Beschreibung des Bildes weist auf einen Menschen hin, und das zeigt deutlich, dass jetzt die Macht von Gott in die Hand von Menschen gegeben wird.

Das Bild wird von oben nach unten beschrieben und in vier Bereichen von jeweils abnehmendem Wert aber zunehmender Härte des Metalls vorgestellt. Es gibt in diesen Weltreichen einen fortschreitenden Verfall, und der hat seinen Grund darin, dass die Menschen immer weiter abgewichen sind von der Quelle ihrer verliehenen Macht, von Gott selbst. Je weiter man sich von Gott entfernt, umso mehr weicht man auch in der Art und Weise der Ausübung dieser Macht von Gott ab. Daniel sagte dem Nebukadnezar in Dan 4,24, dass er statt Sünden Gerechtigkeit und statt Ungerechtigkeiten Barmherzigkeit gegen Elende üben sollte, wenn sein Friede Dauer haben soll. Gerechtigkeit und Barmherzigkeit sollten nach dem Willen Gottes die Prinzipien seiner Herrschaft sein. Die Geschichte lehrt leider gerade das Gegenteil!

  • Haupt von feinem Gold: das babylonische Weltreich; ca. 606 – 538 v.Chr. = ca. 68 Jahre

  • Brust und Arme von Silber: das medo-persische Weltreich; ca. 538 – 336 v.Chr. = ca. 202 Jahre

  • Bauch und Lenden aus Kupfer: das griechische Weltreich; ca. 336 – 30 v.Chr. = ca. 306 Jahre

  • Schenkel aus Eisen und Füße teils aus Eisen, teils aus Ton: das römische Weltreich; ca. ab 30 v.Chr.

In Lk 21,24 spricht der Herr Jesus prophetisch von der Dauer der Zeiten der Nationen. Diese Zeiten haben ihren Anfang genommen mit Nebukadnezar, und das Reich Christi wird diese Zeiten und die Macht der Nationen beenden. Zwischen Lk 21,24 und Lk 21,25 liegt die Zeit der Gnade, eine Zeit von unbestimmter Länge, die nicht im Alten Testament gezeigt wird, höchsten in schwachen Andeutungen. Das große Standbild ist also ein Bild, das verschiedene Stadien der Zeiten der Nationen zeigt, die mit dem babylonischen Reich begannen und mit der Erscheinung Christi in Herrlichkeit enden werden. Dieser Stein, der das alles zerschmettern wird, ist also ein Hinweis auf das Kommen des Herrn in Macht und Herrlichkeit (vgl. Mt 24,30; Heb 1,6; Off 19,11 ff.), um in der äußersten Endzeit des wiedererstandenen römischen Reiches die Rechte Gottes hier auf der Erde zu verwirklichen.

Du schautest, bis ein Stein sich losriss ohne Hände und das Bild an seinen Füßen aus Eisen und Ton traf und sie zermalmte. Da wurden zugleich das Eisen, der Ton, das Kupfer, das Silber und das Gold zermalmt, und sie wurden wie Spreu der Sommertennen; und der Wind führte sie weg, und es wurde keine Stätte für sie gefunden. Und der Stein, der das Bild geschlagen hatte, wurde zu einem großen Berg und füllte die ganze Erde. Das ist der Traum; und seine Deutung wollen wir dem König ansagen:“ (Vers 34–36)

Es ist auffallend, dass die Beschreibungen der vier aufeinander folgenden Weltreiche hier relativ knapp gehalten wird, während das Erscheinen des Steines und die damit verbundenen Auswirkungen sehr ausführlich beschrieben werden. Ausführlicher wird das in der Deutung in den Versen 44+45 auch nicht mehr dargestellt. Dieser Stein wird das monumentale Bild vollständig und plötzlich zerstören. Ohne Zweifel ist das ein Bild von dem Herrn Jesus (vgl. 1. Mo 49,24). Wenn dann gesagt wird, dass dieser Stein das Bild an seinen Füßen trifft, dann weist das darauf hin, dass das zur Zeit des wiederhergestellten römischen Reiches geschehen wird. Und die Zerstörung dieser Weltreiche wird dann nicht von oben nach unten sondern von unten nach oben geschildert – das ganze Bild wird zerstört werden, das Ende des römischen Reiches wird auch das Ende aller anderen ehemaligen Weltreiche sein. Dass der Stein zu einem Berg wird und die ganze Erde erfüllt, ist ein Hinweis auf das 1000-jährige Reich (Ps 72,8). Der Stein riss sich los ohne Hände, ohne menschliche Vermittlung und nicht von dieser Schöpfung (vgl. Heb 9,11). Dieses Eingreifen Gottes liegt völlig außerhalb alles dessen, was der Mensch sehen oder gar beeinflussen könnte. Es bleibt bei dieser Zerstörung der Weltreiche kein riesiger Trümmerhaufen übrig, es wird alles verweht werden; und was übrigbleibt, ist die Herrlichkeit des Herrn!

Frage: Warum wird es hier so geschildert, als würden erst durch den Stein alle vier Weltreiche zusammenbrechen? Sind sie denn nicht vorher schon zusammengebrochen? In der zurückliegenden Geschichte sind sie natürlich als Weltmacht schon einmal zerstört worden, zunächst das babylonische, dann das medo-persische und dann das griechische Weltreich. Aber als Restbestände werden sie unter anderem Namen eine Existenz bewahren in allen Ländern – bis heute. Alle vier Länder, die in diesem Bild gezeigt werden, bestehen heute und bis ganz zum Schluss als Restbestände. Es besteht z.B. Persien, es besteht der Irak, und wir sehen heute, dass all diese Länder wieder aktiv werden. Zeigt uns das nicht, wie nahe das Ende sein mag? Ein atemberaubender Gedanke! Ein zweiter Gedanke zu dieser Frage ist, dass es hier um das moralische Verderben geht, das diese vier Weltreiche kennzeichnete. Und das wiedererstehende römische Weltreich wird eine moralische Zusammenfassung dessen sein, was Satan in den vorhergehenden Weltreichen schon bewirkt hat. Das wird alles ein Ende finden, wenn dieser Stein die Füße trifft.

Durch das bis in Vers 34 wird wohl angedeutet, dass Nebukadnezar sich das Standbild eine Zeit lang in seinem Traum anschauen konnte. Aber dieses bis ist sicher auch ein Hinweis auf den gleichen Zeitpunkt, der in Ps 110,1 beschrieben wird, wo der Herr Jesus dann aufstehen wird und Sein Reich antreten wird.

Das ist der Traum. Wir können uns vorstellen, dass Nebukadnezar atemlos zugehört haben muss; und auch uns geht es heute nicht viel anders. Empfinden wir nicht eine gewisse Ehrfurcht angesichts dieser Mitteilungen des Geistes Gottes durch Daniel? Es handelt sich um ganz gewaltige Ereignisse! Sie betreffen zwar diese Welt und haben letzten Endes mit der Hoffnung des Christen nichts zu tun. Aber die Dinge sind trotzdem für uns wichtig. Sind wir nicht manchmal etwas leichtfertig, wenn es um Dinge geht, die nicht direkt uns angehen? Aber sie gehen unseren Herrn Jesus an und Seine endgültige Herrschaft. Seinetwegen ist uns das alles doch wichtig. Gott erwartet von uns, dass uns das interessiert, was Seinen geliebten Sohn angeht.