Und zuletzt trat vor mich Daniel, dessen Name Beltsazar ist, nach dem Namen meines Gottes, und in dem der Geist der heiligen Götter ist; und ich trug ihm den Traum vor: Beltsazar, du Oberster der Wahrsagepriester, da ich weiß, dass der Geist der heiligen Götter in dir ist und dass kein Geheimnis dir zu schwer ist, so sage mir die Gesichte meines Traumes, den ich gesehen habe, und seine Deutung. Was nun die Gesichte meines Hauptes auf meinem Lager betrifft, so sah ich:“ (Vers 5–7a)

Nebukadnezar holt den Daniel scheinbar nur aus Verlegenheit, weil er mit seinen eigenen Leuten nicht weiter kam. Daraus wird deutlich, dass er mit Daniel keine Wesensverbindung hatte, er war ihm ein Fremder geblieben. Der Traum war ein Traum des Himmels, aber die Philosophen dieser Welt kennen nur die Gedanken dieser Erde, sie können nicht deuten, was vom Himmel kommt. Ist das aber nicht auch eine Auszeichnung für Daniel, dass er getrennt von ihnen erwähnt wird? Obwohl Nebukadnezar ihn zu einem dieser Männer gemacht hatte, gehörte er doch nicht zu ihnen. Man konnte ihn unterscheiden von den anderen, offensichtlich war er in seinem Lebenswandel geprägt durch Trennung. Von uns wird auch gesagt, dass wir wohl in der Welt sind, aber nicht von der Welt sind (Joh 17,11+14). Wie weit entsprechen wir dem in unserem praktischen Verhalten?

Nebukadnezar wusste ganz genau Bescheid, dass in dem Daniel ein Mann da war, der fähig war, Dinge zu erläutern und zu deuten, die seinen eigenen Schriftgelehrten verborgen blieben. Er nimmt also jetzt Zuflucht zu einem Mann, zu dem keine Wesensverbindung bestand und redet ihn mit seinem heidnischen Namen Beltsazar an. Er hätte lieber seine natürlichen Hilfsquellen benutzt und Daniel gar nicht gebraucht, so wie es auch bei uns noch sein kann, dass wir zu den geistlichen Quellen erst dann Zuflucht nehmen, wenn die natürlichen Hilfsmittel versagen. Aber da sich sein Herz ängstigte und ihm keine Ruhe mehr ließ, nimmt er es in Kauf, diesen Beltsazar zu holen und zu ihm zu sprechen.

Und siehe, ein Baum stand mitten auf der Erde, und seine Höhe war gewaltig. Der Baum wurde groß und stark, und seine Höhe reichte bis an den Himmel, und er wurde gesehen bis an das Ende der ganzen Erde; sein Laub war schön und seine Frucht zahlreich, und es war Nahrung an ihm für alle; die Tiere des Feldes fanden Schatten unter ihm, und die Vögel des Himmels wohnten in seinen Zweigen, und alles Fleisch nährte sich von ihm. Ich sah in den Gesichten meines Hauptes auf meinem Lager: Und siehe, ein Wächter und Heiliger stieg vom Himmel herab. Er rief mit Macht und sprach so: Haut den Baum um und schneidet seine Zweige weg; streift sein Laub ab und streut seine Frucht umher! Die Tiere unter ihm sollen wegfliehen und die Vögel aus seinen Zweigen! Doch seinen Wurzelstock lasst in der Erde, und zwar in Fesseln aus Eisen und Kupfer, im Gras des Feldes; und vom Tau des Himmels werde er benetzt, und mit den Tieren habe er Teil am Kraut der Erde. Sein menschliches Herz werde verwandelt und das Herz eines Tieres werde ihm gegeben; und sieben Zeiten sollen über ihm vergehen. Durch Beschluss der Wächter ist dieser Ausspruch, und ein Befehl der Heiligen ist diese Sache, damit die Lebenden erkennen, dass der Höchste über das Königtum der Menschen herrscht und es verleiht, wem er will, und den Niedrigsten der Menschen darüber bestellt. Diesen Traum habe ich, der König Nebukadnezar, gesehen; und du, Beltsazar, sage seine Deutung, da alle Weisen meines Königreichs mir die Deutung nicht kundzutun vermögen; du aber vermagst es, weil der Geist der heiligen Götter in dir ist.“ (Vers 7b-15)

Dieses Kapitel ist sehr lang, aber viele Verse sind reine Wiederholung des Traumes von Nebukadnezar. Deshalb ist es hilfreich, bei der Betrachtung des Traumes von Nebukadnezar auch gleich die Deutung durch Daniel mit zu betrachten. Die Verse 7 bis 15 beinhalten also den Traum Nebukadnezars, und die Verse 16 bis 24 dann die Deutung des Traums durch Daniel, die fast eine wortwörtliche Wiederholung des Traumes sind. Es ist eigentlich erstaunlich für Gottes Wort, das ja nicht dadurch gekennzeichnet ist, dass es sich ständig wiederholt oder ganze Abschnitte einfach wiederholt werden. Aber hier ist es so. Es muss Gott sehr wichtig sein, sodass Er die Beschreibung fast Wort für Wort wiedergibt. Hilfreich ist deshalb vielleicht die nachfolgende Gliederung der Verse des Traumes und seiner Deutung:

Nebukadnezars Traum

Daniels Wiederholung

Daniels Deutung

der Baum

Verse 8+9

Verse 17+18

Vers 19

der Wächter+Heilige

Verse 10+11

Vers 20

Verse 21–22

der Wurzelstock

Vers 12+13

Vers 23

Vers 23

der Höchste herrscht

Vers 14

Vers 22

Wenn es um diesen Traum geht, dann wird in diesem Kapitel mit ziemlichem Nachdruck deutlich gemacht, warum Gott dem Nebukadnezar diesen Traum gegeben hat. Dreimal wird eine Begründung für diesen Traum gegeben:

  • die Lebenden sollen erkennen, dass der Höchste über das Königtum der Menschen herrscht und es verleiht, wem Er will und den Niedrigsten der Menschen darüber bestellt (Vers 14); aus Vers 34 wird deutlich, dass Nebukadnezar unter dem Niedrigsten sich selbst versteht; Gott hatte ihn aus seiner Überhebung erniedrigt

  • Nebukadnezar selbst soll erkennen, dass der Höchste über das Königtum der Menschen herrscht und es verleiht, wem Er will (Vers 22b)

  • Nebukadnezar soll erkennen, dass die Himmel herrschen (Vers 23)

Der Traum ist also nicht nur eine Botschaft für Nebukadnezar, sondern ausdrücklich auch eine Botschaft für die Lebenden, die hier etwas zur Kenntnis nehmen sollen, nämlich diesen allgemeinen Grundsatz Gottes, dass Er den erniedrigt, der sich selbst erhöht, und den erhöht, der sich selbst erniedrigt. Aber in diesem Niedrigsten der Menschen können wir auch eine Andeutung auf den Herrn Jesus sehen. Gerade in Ps 8,5–7 wird uns Seine Niedrigkeit beschrieben und wie Er dann zum Herrscher über alles gemacht worden ist. Er hatte sich selbst zu nichts gemacht (Phil 2,7+8), den tiefsten Platz eingenommen – und Gott hat Ihn deshalb erhoben und erhöht und Ihn sehr hoch gemacht (Jes 52,13). Er wird einmal derjenige sein, der die Regierung antritt; wenn im 1000-jährigen Reich die Himmel herrschen werden, dann wird der Herr Jesus, der einst der Niedrigste war, der sich selbst zu nichts gemacht hat, die Herrschaft antreten!

Da entsetzte sich Daniel, dessen Name Beltsazar ist, eine Zeit lang, und seine Gedanken ängstigten ihn. Der König hob an und sprach: Beltsazar, der Traum und seine Deutung ängstige dich nicht. Beltsazar antwortete und sprach: Mein Herr, der Traum gelte deinen Hassern und seine Deutung deinen Feinden!“ (Vers 16)

Daniel muss beim Erzählen des Traumes sofort seine Deutung in allen Einzelheiten verstanden haben, sonst hätte er sich wohl nicht gleich entsetzt. Ein solche tiefe Betroffenheit finden wir bei ihm mehrfach (Dan 7,28; 8,27). Wir können oft über Prophetie sprechen mit ihren sehr ernsten Einzelheiten, ohne dass es uns betroffen macht, was die Menschen treffen wird, auf die sich die Prophetie bezieht. Wir haben oft ein viel zu geringes Empfinden dafür, dass z.B. die Gerichte in der Offenbarung einmal Menschen treffen werden, die vielleicht heute schon leben, die wir kennen. Löst das Empfindungen bei uns aus diesen Menschen gegenüber? Versuchen wir, die Menschen zu überreden, weil wir den Schrecken des Herrn kennen (2. Kor 5,11+20)? Daniel jedenfalls versuchte das in Dan 4,24; er hatte die Empfindungen Jeremias und suchte eher den Frieden der Stadt, wohin der Herr sie weggeführt hatte (Jer 29,7). Hier muss er nun etwas sehen, was Gericht für diesen Herrscher bedeutete, und das erschütterte ihn. Ähnlich ging es wohl dem Samuel, als er dem Priester Eli das Gericht ankündigen sollte (1. Sam 3,15); er hatte noch ein Empfinden für die von Gott verliehene Autorität Elis in seiner Stellung als Priester, und er als Jüngling sollte jetzt diesem Priester entgegentreten.

War es denn nun gut und richtig, dass er hier starr vor Entsetzen wurde? Verständlich war es bestimmt, denn der König Nebukadnezar war ihm nicht egal, er hatte offensichtlich ein gewisses Mitgefühl mit ihm. Und was er jetzt dem König zu sagen hatte, war eine gewaltige Herausforderung, war etwas, was den König zutiefst treffen würde, und dazu brauchte es Mut. Vielleicht können wir eine gewisse menschliche Schwäche bei Daniel sehen, wenn er wünscht, dass der Traum lieber nicht für den König sondern für einen seiner Feinde bestimmt sein sollte.

Es ist ja auffällig, dass Daniel in diesem Vers fast nur Beltsazar genannt wird. Wenn er hier dem König antwortet, ist das wohl das einzige Mal, dass nur der heidnische Name erwähnt wird ohne die Hinzufügung seines eigentlichen Namens Daniel. Vielleicht auch ein kleiner Beleg dafür, dass er in diesem Augenblick, beängstigt und bedroht durch die ernsten Dinge, die er sieht, selbst nicht ganz auf der Höhe des Glaubens ist. Aber dies verändert sich sofort wieder wenn er dem König die Deutung anzeigt. Aber wenn wir daran denken, dass dieses ganze Kapitel ein Brief Nebukadnezars ist, dann fällt doch auf, dass dieser König Babylons selbst Daniel zweimal bei seinem alten jüdischen Namen nennt (Vers 5 und 16). Der, der dem Daniel einen neuen Namen gegeben hatte, um alles auszulöschen, was noch an den wahren Gott erinnerte, nennt ihn noch zweimal bei diesem alten Namen.