Der Zusammenhang von Johannes 8–12
Im Johannes-Evangelium haben wir von Kapitel 3–17 drei große Themen vor uns: Leben (s. Kap 3–7), Licht (s. Kap 8- 12) und Liebe (s. Kap 13–17). In den Kapiteln 8–12 wird uns der Herr Jesus also besonders als das Licht vorgestellt. Der Geist Gottes zeigt uns in diesen Kapiteln aber auch, wie der Herr Jesus damals auf der Erde war und führt uns in der Herrlichkeit dieser Person bis in das 1000-jährige Reich.
In den ersten Versen von Johannes 8 stellt sich der Herr Jesus in seiner Person vor und wird verworfen. In den folgenden Versen wird Er in dem, was Er gesprochen hat, in seinen Worten, abgelehnt und soll sogar gesteinigt werden. In Kapitel 9 hingegen geht es nicht allein um seine Person und sein Wort, auch seine Werke werden hier abgelehnt: Der Blindgeborene, der sichtbare Beweis der Werke Gottes durch den Herrn Jesus, wird aus der Synagoge hinausgeworfen.
Das führt dazu, dass der Herr Jesus in Kapitel 10 diejenigen, die aus dem Judentum – von dem Er hier verworfen wird – an Ihn glauben, aus dem jüdischen Hof hinausführt. Aber Er führt sie nicht in einen neuen Hof hinein, sondern verbindet sie mit solchen, die nie in diesem jüdischen Hof gewesen sind, und hat nun eine neue, wunderbare Herde, die Er durch sein Werk auf Golgatha zusammenführt.
Doch damit diese eine Herde – damit ist die Versammlung Gottes gemeint – entstehen konnte, war noch etwas Weiteres nötig: Sein irdisches Volk Israel musste beiseitegestellt werden. Das finden wir in Kapitel 11 im Tod von Lazarus vorgebildet. Gibt es dann keine Hoffnung mehr für Israel? Doch! Römer 11 zeigt, dass aus diesem toten Volk wieder Leben bewirkt werden wird, was wir in der Auferweckung von Lazarus dargestellt sehen.
In Kapitel 12 sehen wir, dass der Herr Jesus in der Zwischenzeit der Verwerfung Israels hier auf der Erde seine Versammlung hat. Vorgebildet in der Gemeinschaft beim Abendessen im Haus in Bethanien sehen wir den Herrn Jesus als den Mittelpunkt der dort Versammelten. In Lazarus haben wir ein Bild der Gemeinschaft, in Martha ein Bild des Dienstes, und in Maria ein Bild der Anbetung.
Und was kommt nach der Zeit der Versammlung? Der Herr Jesus wird mit seinem irdischen Volk wieder anknüpfen. Das sehen wir in der Szene in Kapitel 12, wo Er als der Messias von seinem Volk angenommen wird. Im weiteren Verlauf dieses Kapitels kommen dann auch die Griechen zu Ihm: Der Herr Jesus wird im 1000-jährigen Reich auch die Nationen segnen. Der verherrlichte Sohn des Menschen wird der Zentralpunkt von allem sein. Gott hat immer dieses Ziel verfolgt, dass sein Sohn für jede Familie der Menschen der Mittelpunkt und Ausgangspunkt jedes Segens sein wird. Und Er wird dieses Ziel erreichen. Doch wer diesen Sohn verwirft, der geht ewig verloren. Damit endet Kapitel 12.
Einleitende Gedanken zu Johannes 9
In Kapitel 8 stand vor uns, dass der Herr Jesus das Licht der Welt ist. Er stellte jeden Menschen in das göttliche Licht und wurde deshalb von den Juden abgelehnt. Trotzdem blieb der Herr in seiner Heilands-Liebe weiter tätig, auch wenn sein Volk Steine aufhob und Ihn aus dem Tempel vertreiben wollte. Hier in diesem Kapitel 9 finden wir die Seite, dass Er als das Licht auch Veränderung bewirkt. Auch in der Natur sehen wir, dass die Sonne nicht nur ihr Licht scheinen lässt, sondern dass sie dadurch auch in den Pflanzen eine Veränderung hervorruft. So finden wir hier, dass dieses Licht Werke tut, Werke, die verändern – aber auch Werke, die man ablehnen kann. Und genau das macht sein irdisches Volk.
In diesen Kapiteln haben wir also den ewigen Sohn Gottes vor uns, der als Mensch das Licht der Welt ist. Dadurch, dass Er die Menschen in das Licht stellt, wird ihre ganze Verantwortlichkeit ersichtlich (s. Joh 8). Hier offenbart Er die Werke Gottes in Gnade; und Gottes Gnade offenbart sich im Licht (s. Joh 9). Als der ewige Sohn Gottes hatte Er in Johannes 8,58 noch gesagt: „Ehe Abraham wurde, bin ich“; aber als Mensch ging Er dann als der Verworfene aus dem Tempel hinaus.
Am Ende von Kapitel 8 geht Er hinaus, am Ende von Kapitel 9 findet Er denjenigen, in dem Er diese Veränderung bewirkt hat, als einen ebenfalls Hinausgeworfenen. Das ist dann die Überleitung zu Kapitel 10, wo der Herr erklärt, dass Er seine eigenen Schafe herausführt.
„Und als er vorüberging, sah er einen Menschen, blind von Geburt“ (V. 1).
Der Blindgeborene, den der Herr hier sieht, ist einerseits derjenige, an dem die Werke Gottes offenbar werden sollen. Andererseits ist er auch ein Bild von jedem natürlichen Menschen – blind von Geburt an. Ganz speziell ist dieser Blindgeborene natürlich auch ein Bild der Juden; und dadurch, dass er am Ende glaubt, ein Bild des jüdischen Überrestes, der den Herrn Jesus annimmt und dadurch aus dem jüdischen Schafhof herausgeführt wird, um mit dem Herrn Jesus selbst verbunden zu werden (vgl. Jes 33,17; 35,5).
Die Gnade Gottes ist der Ausgangspunkt für alles Heilsgeschehen im Leben eines Menschen. Das zeigt uns dieser Vers in Verbindung mit dem Ende von Kapitel 8 in drei Punkten. Erstens befand sich der Blindgeborene außerhalb des Tempels, denn der Herr Jesus war aus dem Tempel hinausgegangen und sah außerhalb des Tempels beim Vorübergehen einen Menschen. Der natürliche Mensch kann sich nicht in der Gegenwart Gottes aufhalten, er ist entfremdet dem Leben Gottes und hat keine Möglichkeit, Gott als Anbeter zu nahen. Zweitens haben wir den Blick der Gnade und Liebe des Herrn Jesus, der den Blindgeborenen sah. Der Herr Jesus ist hier der Handelnde; Er ist es, von dem in souveräner Gnade alles ausgeht. Der Blindgeborene ruft nicht, er sieht den Erlöser nicht – aber der Heiland sieht ihn! Und drittens ist dieser arme Mensch von Geburt an blind, er hat keinen Blick für die Person des Herrn Jesus, kein Licht, kein geistliches Verständnis, sondern ist verfinstert am Verstand.
An wie vielen Menschen gehen wir Tag für Tag vorüber, vielleicht sogar an Glaubensgeschwistern, ohne sie wahrzunehmen oder zu grüßen? Was bewegt unsere Herzen dabei? Die Jünger hatten über den Blindgeborenen ganz andere Gedanken als der Herr.
„Und seine Jünger fragten ihn und sagten: Rabbi, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren wurde?“ (V. 2).
Die Frage der Jünger könnte sich auf 2. Mose 20,5 und 34,7 beziehen, wo Gott gesagt hat, dass Er die Ungerechtigkeit der Väter heimsucht an den Kindern. Es ist ein typisch jüdisches Denken: Wer krank wurde, in Armut geriet oder starb, musste gesündigt haben. Wir sehen hier auch, was das Gesetz kann und was es nicht kann: Das Gesetz kann Sünde aufdecken, aber es kann keine Heilung schenken oder Leben geben. Doch der Mensch gewordene Sohn hier auf der Erde kann das, was das Gesetz nicht kann: Er kann die Blindheit als eine Folge der Sünde wegnehmen, und Er kann Leben geben.
Wird diese Frage nicht manchmal auch heute unberechtigterweise gestellt? Dabei kann es sogar eine gewisse Auszeichnung demjenigen gegenüber sein, dem der Herr eine bestimmte Not auferlegt. Lazarus war krank geworden um der Herrlichkeit Gottes willen, damit der Sohn Gottes durch diese Krankheit verherrlicht werde (s. Joh 11,4.40). Welch eine Wertschätzung, die der Herr einem solchen damit erweist!
Einen anderen Gesichtspunkt von Prüfungen in unserem Leben sehen wir in Johannes 15,2: Der Vater nimmt in unserem Leben etwas weg – manchmal durch einen schmerzhaften Prozess –, was uns hindert, mehr Frucht für Ihn zu bringen. Der Vater züchtigt uns zum Nutzen, damit wir seiner Heiligkeit teilhaftig werden (s. Heb 12,10). Und aus 1. Petrus 1,6.7 erkennen wir, dass solche Nöte die Bewährung unseres Glaubens hervorbringen sollen, und das wird einmal zur Verherrlichung des Herrn Jesus im ganzen Universum sichtbar werden. In 2. Korinther 1,3.4 finden wir zwei weitere Aspekte unserer Bedrängnisse und Nöte: Zum einen erfahren wir persönlich den direkten Trost Gottes in unseren schwierigen Umständen; zum anderen können wir dann Betroffenen, die vielleicht durch ähnliche Umstände zu gehen haben, etwas von diesem empfangenen Trost weitergeben. Schwierigkeiten dienen schließlich auch dazu, dass wir unser Vertrauen nicht auf uns, sondern auf Gott setzen (s. 2. Kor 1,9).
Gut ist zumindest, dass die Jünger hier den Herrn fragen. Sie nennen Ihn Rabbi, d. h. Lehrer; sie wollen von Ihm unterwiesen werden und drücken nicht einfach ihre Schlussfolgerung als Behauptung aus. Deshalb antwortet der Herr auch nicht mit Schärfe, sondern gnadenvoll.
Völlig aus der Luft gegriffen war allerdings die Frage, ob der Blindgeborene selbst gesündigt hätte. Wie sollte jemand vor der Geburt sündigen können, um so direkt bei der Geburt von Gott als Strafe dafür mit Blindheit geschlagen zu werden? Auf so fehlgeleitete Gedanken kann man nur kommen, wenn man sich vom Wort Gottes löst. Was wir hier aber unbedingt festhalten wollen, ist die Tatsache, dass auch ein ungeborenes Leben Menschenwürde hat; jedes Kind im Mutterleib ist ein vollwertiger Mensch, auch wenn er vor der Geburt noch nicht verantwortlich handeln kann. Es ist zutiefst beschämend, dass gerade in unserer christlichen Gesellschaft die Rechte des ungeborenen Lebens mehr und mehr eingeschränkt werden.
Wir haben niemals Anlass oder das Recht, bei einer Krankheit oder sonstigen Not eines unserer Mitgeschwister die Vermutung anzustellen, es müsse Sünde im Leben des Betreffenden vorgelegen haben. Vielleicht mag jemand, der leidet, selbst den Grund dafür wissen. Aber im Beurteilen von anderen müssen wir sehr sehr vorsichtig sein! Der Herr wählt den einen oder anderen aus, um seine Herrlichkeit an dieser Person zu offenbaren. Bei Paulus blieb der Dorn im Fleisch bis ans Ende seines Lebens bestehen, um ihn beständig die Gnade und die Kraft Gottes in seiner persönlichen Schwachheit erfahren zu lassen (s. 2. Kor 12,7–10).
Wir wollen andererseits aber nicht übersehen, dass Gottes Wort sehr häufig über die Verbindung von Krankheit und Sünde spricht. Es wäre also genau das andere Extrem, würden wir meinen, Krankheit und Sünde hätten gar nichts miteinander zu tun. Jede Krankheit und auch der Tod sind eine Folge der Sünde; aber wir dürfen nie irgendeine Krankheit bei anderen einer bestimmten Sünde in deren Leben zuschreiben wollen. Gerade im seelsorgerlichen Dienst brauchen wir da viel Weisheit und Zurückhaltung.
„Jesus antwortete: Weder dieser hat gesündigt noch seine Eltern, sondern damit die Werke Gottes an ihm offenbart würden“ (V. 3).
Wenn der Herr Jesus hier antwortet, dass weder der Blindgeborene noch seine Eltern gesündigt haben, dann ist das natürlich nicht absolut zu verstehen, sondern nur im Zusammenhang mit der gestellten Frage der Jünger. Ohne jeden Zweifel waren sie alle von Natur aus Sünder, und wir gehen sicher nicht zu weit, wenn wir sagen, dass sie auch in ihrem Leben sündige Taten begangen haben.
Als Johannes der Täufer im Gefängnis saß und ins Zweifeln geraten war, hatte er dem Herrn die Frage stellen lassen, ob Er der Kommende sei oder ob sie auf einen anderen warten sollten. Der Herr ließ ihm durch seine Jünger antworten, welche vielfachen Auswirkungen seine Anwesenheit unter seinem Volk hatte, und als Erstes nennt Er dabei: „Blinde werden wieder sehend“ (s. Mt 11,2–6; Lk 7,18–23). Alle Werke, die der Herr Jesus als Messias Israels als Zeichen und Wunder tat, waren Werke, die ein Vorgeschmack von dem zukünftigen Zeitalter des 1000-jährigen Reiches waren (s. Heb 6,5). Hätten die Juden den Herrn Jesus bei seinem ersten Kommen angenommen, dann wäre seine Gegenwart ja nahtlos in das 1000-jährige Reich übergegangen.
Aber in diesem Johannes-Evangelium befinden wir uns nicht wie in den übrigen Evangelien im Reich, deshalb spricht der Herr nicht von diesem Gesichtspunkt, sondern hier sollen die Werke Gottes durch die von Ihm gewirkten Zeichen offenbar werden. In der Person des Herrn Jesus, des Mannes aus Nazareth, war Gott auf der Erde. Er hatte selbst gesagt: „Mein Vater wirkt bis jetzt, und ich wirke“ (Joh 5,17); und: „Dies ist das Werk Gottes, dass ihr an den glaubt, den er gesandt hat“ (Joh 6,29). Durch Ihn geschahen also sowohl äußerliche Werke als auch innerliche Werke an den Herzen der Menschen.
Auch an diesem Blindgeborenen geschahen zwei Werke Gottes: Der Herr hatte ihn sehend gemacht, ihm sein natürliches Augenlicht geschenkt; und als Zweites hatte Er ihm das Leben gegeben. Beides kann nur Gott bewirken. Und gerade die Gottheit des Herrn Jesus hatten die Juden in Kapitel 8 abgelehnt. Interessant ist im Zusammenhang des Johannes-Evangeliums eine Stelle aus Psalm 146,7.8. Dort lesen wir, dass Gott den Hungrigen Brot gibt (s. Joh 6), dass Er die Gebundenen löst (s. Joh 8) und dass Er die Augen der Blinden auftut (s. Joh 9).
Wenn der Herr Jesus jetzt also dieses Werk ausführt, beweist Er damit, dass Er der Sohn Gottes ist – direkt nachdem Er von den Juden in diesem Charakter verworfen wurde und gesteinigt werden sollte. Wenn der Mensch gewordene Sohn Gottes auf dieser Erde Werke tut, dann können das nichts anderes als Werke Gottes sein.
Die Evangelien berichten konkret von sieben Personen, die durch den Herrn Jesus von ihrer Blindheit geheilt wurden (s. Mt 9,27 ff.; 12,22; 20,30 ff.; Mk 8,22 ff.; Joh 9,1 ff.). Jedes Mal geschah ein Werk Gottes an ihnen, das der Herr Jesus als Mensch getan hat. In Johannes 15,24 sagt der Herr ausdrücklich, dass es Werke waren, die kein anderer getan hat. Der ewige Sohn ist als Mensch hier auf der Erde, aber Er offenbart Gott in seiner vollkommenen Gnade.
Doch dieser Blinde hier ist der Einzige, von dem es ausdrücklich heißt, dass er blind von Geburt war. Später lesen wir, dass er auch ein Bettler war (s. V. 8). Waren wir nicht alle in diesem erbärmlichen Zustand, blinde Bettler? Und wenn der Herr Jesus uns nicht gesehen hätte, wären wir es immer noch. Aber wie bei diesem Blindgeborenen wollte Er auch bei uns, dass wir sehend werden und dass wir zur Anbetung geführt werden.
„Ich muss die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat, solange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann“ (V. 4).
Hier geht der Herr noch einen Schritt weiter: Es ging nicht nur darum, dass die Werke Gottes sichtbar würden, sondern sie sollten durch Ihn, den Herrn, gewirkt werden. Noch war es Tag, noch war der Herr Jesus hier auf der Erde, noch war es möglich, auf der Erde die Werke Gottes zu wirken. Es geht also nicht nur um Werke Gottes allgemein, sondern um die Person des Herrn Jesus, der diese Werke wirkt.
Dieser Vers führt uns auch wieder in wunderbarer Weise vor Augen, dass durch den Herrn Jesus Werke Gottes gewirkt werden, aber gleichzeitig wird Er als der abhängige, gesandte Mensch vorgestellt. Dreifach zeigt dieser Vers seine Abhängigkeit als Mensch von dem Vater:
- „Ich muss … wirken“: Gott, der Sohn, muss gar nichts, aber als Mensch musste Er Dinge tun (s. z. B. Joh 3,14; 10,16).
- „Ich muss die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat“: Es ist genauso wahr, dass es seine Werke waren, aber Er nennt sie hier „die Werke dessen, der mich gesandt hat“.
- „… der mich gesandt hat“: Immer wieder wird der Herr Jesus in diesem Evangelium als der von Gott oder von dem Vater Gesandte vorgestellt. Obwohl Er sich völlig seiner Gottheit bewusst ist, kann Er in keinem Augenblick diesen Platz des Gehorsams und der Abhängigkeit als Mensch verlassen.
Was meint der Herr mit der „Nacht, da niemand wirken kann“? Ist damit die Zeit seiner Abwesenheit gemeint (vgl. Röm 13,12)? Kann heute niemand wirken? Wird nicht in der heutigen Gnadenzeit gewirkt? Wird nicht auch später in der Drangsalszeit durch das Evangelium des Reiches gewirkt? Selbst im 1000-jährigen Reich wird durch das ewige Evangelium noch gewirkt. Mit der Nacht kann der Herr also nicht die Zeit direkt nach seinem Verlassen der Welt meinen. Es kann eigentlich nur der Tod des Menschen gemeint sein. Finsternis beschreibt einen moralischen Zustand, während Nacht einen anderen Sinn hat. In Johannes 12,35 sagt der Herr: „Noch eine kleine Zeit ist das Licht unter euch. Wandelt, während ihr das Licht habt, damit nicht Finsternis euch ergreife!“ In der Zeit, in der der Herr Jesus auf der Erde war, kamen Menschen, die Ihn annahmen, aus der Finsternis in das Licht. Und genau das geschieht auch heute noch. Die Gläubigen der Gnadenzeit sind berufen worden „aus der Finsternis zu seinem wunderbaren Licht“ (1. Pet 2,9).
Es gibt hier auf der Erde niemals eine Zeitepoche, die Nacht in dem Sinn ist, dass ein Mensch sich nicht mehr bekehren kann. Nacht in diesem Vers kann also keine moralische Bedeutung haben, die die Zeit im Anschluss an das Leben des Herrn hier auf der Erde beschreibt, sondern es kann sich nur auf den Tod beziehen. Nachdem ein Mensch gestorben ist, kann er nichts mehr tun. Der Herr warnt hier seine Zuhörer, dass einmal ein Punkt kommen wird, ab dem sie nichts mehr zu ihrer Errettung zu tun vermögen.
„Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt“ (V. 5).
In Kapitel 8, wo wir fast die gleiche Aussage des Herrn gelesen hatten (s. V. 12), liegt der Schwerpunkt auf dem, was der Herr Jesus ist; in Kapitel 9 liegt der Schwerpunkt stark auf dem, was Er bewirkt. In Kapitel 8 ist es das Zeugnis seiner Worte, in Kapitel 9 das Zeugnis seiner Werke. Unter beiden Gesichtspunkten ist der Herr als das Licht der Welt nicht beschränkt auf das Volk der Juden, sondern ist das Licht für die ganze Welt. Und obwohl dieser Wirkungskreis so gewaltig umfassend ist, kümmert Er sich hier doch um einen einzelnen Menschen.
Gott, der Sohn, ist als Mensch auf dieser Erde. Und wenn dieser menschgewordene Sohn Gottes hier auf der Erde Werke tut, kann es nicht anders sein, als dass das Werke Gottes sind. Und wenn Gott Licht ist, dann kann es nicht anders sein, als dass der menschgewordene Sohn Gottes auf der Erde das Licht der Welt ist, solange Er in der Welt ist. In 2. Korinther 4,4 finden wir das, was auch den Zustand der Juden hier ausmachte: In der Person des Herrn Jesus schien das Licht in der Finsternis, und die Finsternis erfasste es nicht, weil ihr Sinn durch Satan, den Gott dieser Welt, verblendet war. Und in 2. Korinther 4,6 sehen wir dann genau das, was der Blindgeborene hier erlebt: Am Ende des Kapitels erkennt er den Herrn Jesus als den Sohn Gottes (s. V. 35–38).
Jetzt ist der Herr Jesus nicht mehr in der Welt, jetzt ist Er also auch nicht mehr das Licht der Welt. In dem Augenblick, wo Er diese Welt verließ, war sein direktes Licht nicht mehr erkennbar. Doch jetzt sind die Gläubigen das Licht der Welt (s. Mt 5,14).
„Als er dies gesagt hatte, spie er auf die Erde und bereitete einen Brei aus dem Speichel und strich ihm den Brei auf die Augen; und er sprach zu ihm: Geh hin, wasche dich in dem Teich Siloam (was übersetzt wird: Gesandt). Da ging er hin und wusch sich und kam sehend wieder“ (V. 6.7).
In Markus 8 finden wir auch die Heilung eines Blinden durch den Gebrauch des Speichels des Herrn Jesus, aber es handelt sich dabei nicht um die gleiche Begebenheit wie hier. Dort findet die Heilung während des Dienstes des Herrn in Galiläa statt (Bethsaida), während sich diese Szene hier in Jerusalem am Ende des Dienstes des Herrn in Judäa ereignet.
In dieser symbolischen Handlung sehen wir, dass der Herr Jesus, der Sohn Gottes, als Mensch auf die Erde gekommen ist und in wahrer Demut gewirkt hat. In dem Speichel erkennen wir, dass in Ihm Leben spendende Kraft ist. Und diesen Speichel verbindet der Herr mit der Erde und bereitet daraus einen Brei. Speichel hat in der Heiligen Schrift meistens eine negative Bedeutung und ist ein Bild des Bösen, das aus dem natürlichen Menschen hervorkommt (s. z. B. 1. Sam 21,14; Jes 50,6). Vor jemandem auszuspucken oder ihn sogar anzuspucken ist ein Zeichen äußerster Verachtung. Nur bei dem Herrn Jesus war das, was aus Ihm hervorkam, nichts Böses. Bei Ihm kam Segen hervor. Und doch war das in den Augen der Menschen abstoßend und verächtlich. „Der natürliche Mensch aber nimmt nicht an, was des Geistes Gottes ist, denn es ist ihm Torheit“ (1. Kor 2,14).
Dieser Brei, auf die Augen des Blinden gestrichen, machte ihn nicht sofort sehend. So half auch die bloße Anwesenheit des Herrn Jesus auf der Erde den Menschen nicht weiter, wenn sie Ihn nicht annahmen. Die Veränderung trat bei dem Blinden erst ein, als er dem Wort des Herrn gehorchte und Ihn damit als den vom Vater Gesandten annahm. Das ist übrigens die erste aktive Handlung des Blindgeborenen in diesem Abschnitt, bis dahin hatte ausschließlich der Herr Jesus gehandelt. Der Blinde beweist auf das Wort des Herrn hin sofort Glaubensgehorsam. Hätte er nicht gehorcht, hätte er sein natürliches Augenlicht nicht erhalten und wäre auch im Zustand geistlicher Blindheit geblieben.
Damals wie heute ist das der einzige Weg, um Heilung zu erfahren. Das Handeln des Herrn in Niedrigkeit war gefolgt von dem Glaubensgehorsam an das, was der Herr zu ihm gesagt hatte – und dadurch erfährt der Blindgeborene die Herrlichkeit des Gesandten vom Vater. Unter der Wirkung des angewandten Wassers – ein Bild des Wortes Gottes in der Kraft des Heiligen Geistes – erkennt der Blinde, dass der Mensch Jesus Christus der Gesandte des Vaters, der Sohn Gottes, ist.
Der Blindgeborene gibt dem Herrn Jesus eine neue Gelegenheit, Werke Gottes zu wirken und dadurch Gott zu offenbaren. Das war ja der große Zweck des Kommens des Herrn auf diese Erde, das war sein Auftrag, den Er ausführte, während Er als das Licht hier auf der Erde war. Dieser Mensch, der hier gelebt hat, der Mensch Jesus Christus, war der Gesandte des Vaters (darauf deutet der Teich Siloam hin) und hat Werke Gottes gewirkt, um Gott zu offenbaren und um Menschen, die Ihn im Glauben annehmen würden, zu retten.
Diesem Abschnitt können wir auch eine weitere Bedeutung entnehmen, die heute noch zutrifft: In dem Blindgeborenen sehen wir uns Menschen in unserem natürlichen Zustand – blind. Wir können uns selbst nicht erkennen, wer wir sind und wir wissen nicht, wer Gott ist und wer der Herr Jesus ist. Doch auch heute kann an jedem Menschen ein Werk Gottes getan werden. Wenn ein Mensch den Herrn Jesus als den Gesandten des Vaters, den Heiland der Welt, im Glauben annimmt (s. 1. Joh 4,14), dann wird er geistlicherweise sehend. So wird auch der Auftrag des Apostels Paulus in Apostelgeschichte 26,17.18 beschrieben: „… zu denen ich dich sende, um ihre Augen aufzutun, damit sie sich bekehren von der Finsternis zum Licht und von der Gewalt des Satans zu Gott, damit sie Vergebung der Sünden empfangen …“ Hier wird sehr deutlich, dass das sittlich-moralische Auftun der Augen direkt mit der Bekehrung in Verbindung gebracht wird.
Diese beiden Verse illustrieren in schöner Weise die Wahrheit aus 1. Timotheus 2,4.5: Gott will, dass alle Menschen errettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen, dass sie die Wahrheit über Gott und die Wahrheit über sich selbst erkennen – und das verschlimmert erst einmal ihren Zustand, so wie hier der Brei auf den Augen des Blindgeborenen die Sache überhaupt nicht verbesserte. Den eigenen sündigen Zustand und die Heiligkeit Gottes zu erkennen, verschlimmert den Zustand des Menschen. Aber wenn dann der Gesandte, der Mittler zwischen Gott und Menschen, der Herr Jesus, hineinkommt, dann wird man sehend.