„Ich bin der gute Hirte; und ich kenne die Meinen und bin gekannt von den Meinen, wie der Vater mich kennt und ich den Vater kenne; und ich lasse mein Leben für die Schafe“ (V. 14.15).

Diese drei Bilder von Dieb, Mietling und Wolf sollen zeigen, wie einzigartig der gute Hirte ist. Er ist der, der das Leben für seine Schafe lässt – und da steht Er einzig da! Wenn es jetzt um Beziehungen geht, dann hat der Mietling eben gerade keine Beziehung zu den Schafen. Doch der gute Hirte hat Kenntnis, und zwar Kenntnis durch bestehende Beziehungen. Diese Beziehungen beruhen auf Gegenseitigkeit, denn die Schafe haben durch den Besitz des ewigen Lebens auch Kenntnis von diesem Hirten.

Die beiden Verse zeigen uns etwas von dem „Leben in Überfluss“. Hier werden uns verschiedene Beziehungen vorgestellt, die wir gerade durch den Besitz des ewigen Lebens genießen können: die Beziehung des guten Hirten zu seinen Schafen, die Beziehung der Schafe zu dem guten Hirten, die Beziehung des Vaters zum Sohn, und die Beziehung des Sohnes zum Vater. Und das Wunderbare ist, dass Er die Beziehung zwischen Hirte und Schafen auf die gleiche Ebene stellt wie die Beziehung zwischen Vater und Sohn. Welche vollkommene Wertschätzung hat der Vater für seinen Sohn und umgekehrt! Und der Herr benutzt jetzt genau das als Vergleich, um zu zeigen, welche Wertschätzung und Beziehung zwischen Ihm und seinen Schafen besteht: Die Schafe sind die Gegenstände des Herzens des Herrn Jesus, wie der Sohn auf der Erde Gegenstand des Herzens des Vaters ist.

Das muss uns doch fast die Sprache verschlagen! Wir werden hier hineingenommen in die Beziehungen der Personen der Gottheit untereinander. Etwas Ähnliches lesen wir in Johannes 17,23, wo der Herr selbst sagt, dass der Vater uns mit der Liebe liebt, mit der Er auch den Sohn liebt. Die Beziehung zwischen uns und dem Herrn ist also von gleicher Art und gleicher Qualität wie die Beziehung zwischen dem Vater und dem Sohn. Das ist zutiefst beeindruckend!

In Matthäus 11,27 sagt der Herr Jesus: „Niemand erkennt den Sohn als nur der Vater.“ Der Gegenstand, an dem der Vater seine Freude hat, ist der Sohn. So dürfen auch wir Wertschätzung und Kenntnis von Ihm als dem Hirten haben, von der Person, die das ganze Interesse des Vaters hat.

Der Herr Jesus kennt die Seinen nicht nur mit Namen, so dass Er weiß, wer wir sind; Er kennt auch unsere Neigungen, unsere Bedürfnisse, und ebenso unsere Schwachheiten – Er kennt uns durch und durch. Und die Schafe kennen die Vollkommenheit des Hirten, sie kennen seine Macht und Weisheit und Liebe. Paulus sagt am Ende seines Glaubenslaufs und Dienstes für den Herrn, als er im Gefängnis saß und auf seine Hinrichtung wartete: „Ich weiß, wem ich geglaubt habe“ (2. Tim 1,12). Er hatte eine tiefe Erkenntnis seines Herrn.

Vers 15 offenbart einen wichtigen Zusammenhang: Dadurch, dass der Herr sagt, dass Er den Vater kennt, und daran anfügt, dass Er sein Leben für die Schafe lässt, zeigt Er, dass Er genau das tut, was dem Herzen des Vaters entspricht. Er kennt den Vater und weiß um die Gedanken der Liebe in seinem Herzen; und indem Er sein Leben lässt, handelt Er in völliger Übereinstimmung mit dem Herzen voller Liebe des Vaters.

Der Herr Jesus steht hier auf der Erde als Mensch in seiner Beziehung zu dem Vater vor uns. Als der ewige Sohn hat Er immer eine Beziehung zu dem Vater, unveränderlich ist Er der geliebte Sohn des Vaters. Und dann ist dieser ewige Sohn Mensch geworden und hat auch als Mensch auf der Erde eine Beziehung zu dem Vater gehabt. In diese Beziehung sind wir nun ebenfalls gebracht. Doch trotz dieser Gleichheit der Beziehungen wacht der Heilige Geist mit Eifersucht darüber, die Einzigartigkeit und Vorrangstellung des Herrn Jesus zu betonen. Er ist der Erstgeborene vieler Brüder (s. Röm 8,29), Er nimmt in allem immer den Vorrang ein.

Wie kennt denn der Sohn den Vater? Die vollkommene Kenntnis des Vaters führt bei dem Sohn zu völligem Vertrauen. In Johannes 16,32 sagt Er: „Ich bin nicht allein, denn der Vater ist bei mir“; in Johannes 11,42: „Ich aber wusste, dass du mich allezeit erhörst“. Selbst in Gethsemane betet Er angesichts der Leiden des Kreuzes zu seinem Vater: „Mein Vater, wenn es möglich ist …“ (Mt 26,39). Das erste Wort, das wir am Kreuz von dem Herrn Jesus hören, ist: „Vater“ (Lk 23,34). Und auch nach den drei Stunden der Finsternis hören wir dieses Wort wieder aus seinem Mund (s. Lk 23,46). Das ist Vertrauen. Möchte auch bei uns die Kenntnis, die wir von unserem Hirten haben, zu einem solchen Vertrauen zu Ihm führen!

Der Schlusssatz dieser beiden Verse ist nicht einfach nur eine Wiederholung von Vers 11. Der Herr legt größten Wert darauf, dass die Seinen in dieselbe Beziehung gebracht werden, in der Er mit seinem Vater lebt. Das ist wirklich „Leben in Überfluss“ – und dafür lässt Er sein Leben, um uns dies zu bewirken.

„Und ich habe andere Schafe, die nicht aus diesem Hof sind; auch diese muss ich bringen, und sie werden meine Stimme hören, und es wird eine Herde, ein Hirte sein“ (V. 16).

Wenn wir diesen Vers lesen, denken wir sofort an uns, die Gläubigen aus den Nationen. Für die jüdischen Zuhörer, vor denen der Herr diese Worte sprach, war das allerdings etwas sehr Ungewöhnliches, was ihr Vorstellungsvermögen weit überstieg. Er spricht jetzt über Schafe, die nicht aus dem jüdischen Schafhof sind, also über Menschen, die nicht zum Judentum gehören, die aus den Nationen kommen. Die Nationen kannten einen solchen umzäunten Hof, eine solche bevorzugte Stellung wie die der Juden nicht. Es gab nur den einen Hof, das Volk der Juden.

Wenn er diese Gläubigen aus den Nationen andere Schafe nennt, dann bedeutet dieses Wort andere von der gleichen Art. Diese Schafe aus den Nationen sind nicht Schafe zweiter Klasse, sie stehen absolut in der gleichen Stellung mit den Schafen, die der Herr aus den Juden hat. Die jüdischen Schafe waren aus dem durch das Gesetz eingezäunten Schafhof, für sie gab es ein nationales und religiöses Band. Bei den Schafen aus den Nationen gab es das nicht. Sie waren zerstreut und nicht irgendwie untereinander verbunden.

Auffallend ist, dass der Herr sagt: „Ich habe andere Schafe …und auch diese muss ich bringen.“ Hatte Er sie zu diesem Zeitpunkt denn schon? Nein, aber Er denkt hier an den ewigen Ratschluss Gottes, und in diesem Ratschluss Gottes waren die Gläubigen aus den Nationen bereits seine Schafe. Aus Galater 3,8 sehen wir, dass Gott auch bei der Berufung Abrahams an die späteren Gläubigen aus den Nationen gedacht hatte. Prophetisch spricht Er auch in Jesaja 49,6 davon, wenn Er trotz seiner vielen Bemühungen um sein irdisches Volk nur diese wenige Frucht sah; dort bekommt Er die göttliche Antwort, dass Er auch zum Licht der Nationen gesetzt sei, um seine Rettung zu sein bis an das Ende der Erde. Sicher hat dieser Ausspruch seine vollgültige Erfüllung im 1000-jährigen Reich, aber genau diese prophetische Aussage wird vom Apostel Paulus auf seiner ersten Missionsreise als ein Auftrag des Herrn verstanden, sich mit dem Evangelium der Gnade zu den Nationen zu wenden. Am Ende dieser ersten Missionsreise erzählen Paulus und Barnabas der Versammlung von Antiochien „alles, was Gott mit ihnen getan und dass er den Nationen eine Tür des Glaubens aufgetan habe“ (s. Apg 13,47; 14,27). Eine ähnliche prophetische Aussage aus Jesaja 52,15 wendet der Apostel Paulus in Römer 15,20.21 auf die Verkündigung des Evangeliums unter den Nationen an. Interessant, dass auch Petrus schon in seiner ersten Predigt in Jerusalem von diesem Ratschluss Gottes spricht (s. Apg 2,39), obwohl er selbst noch gar keine Belehrung darüber erfahren hatte. Doch durch den Heiligen Geist war sein Glaubensblick schon geöffnet für die, die in der Ferne sind.

Wenn dieser Ratschluss Gottes in Bezug auf die Gläubigen aus den Nationen erfüllt werden sollte, dann gab es nur einen Weg: Der Herr Jesus musste sie bringen. Geschichtlich finden wir das also in der Apostelgeschichte erfüllt, wo sich das Evangelium von Jerusalem aus nach Samaria und noch weiter darüber hinaus ausbreitete. In dem Kämmerer aus Äthiopien und dem Hauptmann Kornelius haben wir historische Beispiele für die ersten Schafe aus den Nationen, die gebracht wurden.

Der Lehre nach wird das in Epheser 2 ausgeführt, wo wir lesen, dass Christus unser Friede ist, „der aus beiden [Gläubigen aus den Juden und Gläubigen aus den Nationen] eins gemacht und abgebrochen hat die Zwischenwand der Umzäunung“ (Eph 2,14). In Epheser 2 haben wir den Gesichtspunkt des einen Leibes vor uns; aber wir sehen eine schöne Harmonie zwischen den Schreibern des Neuen Testaments, denn die Glieder des einen Leibes sind identisch mit den Schafen der einen Herde. Wir empfinden deutlich, dass es ein und derselbe Geist ist, der diese unterschiedlichen Schreiber leitete und dennoch wunderbare Übereinstimmungen bewirkte, auch wenn dieser Gegenstand von verschiedenen Seiten beleuchtet wird.

Bezüglich der Vorhersagen des Alten Testaments müssen wir aber folgenden Unterschied beachten: Menschen aus den Nationen würden das Evangelium der Gnade Gottes hören und dadurch gerettet werden. Das war in den Schriften des Alten Testaments angekündigt. Es ist also eine Teilerfüllung alttestamentlicher Vorhersagen, dass Menschen aus den Nationen in den Segen geführt werden, der uns durch das Evangelium gebracht wird. Wenn es aber um die Wahrheit der einen Herde geht, um die Wahrheit der Versammlung Gottes, dann war das im Alten Testament ein Geheimnis. Diese beiden Seiten finden wir im Römerbrief. Römer 1,1–5 zeigt uns, dass das Evangelium Gottes zum Glaubensgehorsam unter allen Nationen gepredigt wird, und dieses Evangelium hatte Gott durch seine Propheten des Alten Testaments in heiligen Schriften zuvor verheißen. In Römer 16,25.26 finden wir dann diesen anderen Gesichtspunkt, dass es einen Teil dieses Evangeliums gibt, der ewige Zeiten hindurch verschwiegen war, aber jetzt durch die prophetischen Schriften des Neuen Testaments allen Nationen zum Glaubensgehorsam kundgetan wird. Das bezieht sich auf die Wahrheit von der Versammlung, der einen Herde.

Diese eine Herde oder dieser eine Leib ist eine wunderbare Tatsache, die wir nie aus dem Auge verlieren dürfen! Angesichts der Zersplitterung in der Christenheit stehen wir vielleicht manchmal in der Gefahr, diesen Gedanken auf uns zu beschränken, die wir bemüht sind, die damit in Verbindung stehenden Wahrheiten auch praktisch zu verwirklichen. Aber lasst uns immer daran festhalten, dass der Herr hier an alle wahren Gläubigen aus allen Nationen in der Zeit der Gnade denkt, wenn Er von der einen Herde spricht. Wir sind keine besondere Gruppe innerhalb dieser einen Herde oder dieses einen Leibes. Ein anderes Bild für diese wunderbare Einheit ist die eine Perle (s. Mt 13,46), die es auch heute noch gibt. Der Herr sieht die Schönheit dieser Einheit, und wir dürfen sie auch nie aus dem Blick verlieren. Als das Volk Israel am Ende seiner Wüstenreise in einem traurigen und beschämenden Zustand war, lässt Gott doch durch Bileam die ganze Schönheit und Einheit des Volkes beschreiben (s. 4. Mo 24,2–6). So sah Gott sein damaliges Volk, und so sieht der Herr Jesus heute seine Versammlung.

Das Zusammenführen von Schafen, die ehemals dem jüdischen Schafhof angehörten, mit anderen Schafen von außerhalb zu einer neuen Herde bedeutet gleichzeitig heilsgeschichtlich das Beiseitesetzen Israels als Nation. Und es konnte erst geschehen nach dem Tod und der Auferstehung des Herrn Jesus und seiner Rückkehr als verherrlichter Mensch zu seinem Vater in den Himmel. Von dort hatte Er in Apostelgeschichte 2 den Heiligen Geist auf diese Erde gesandt, wodurch diese eine Herde gebildet wurde. Paulus benutzt übrigens auch das Bild einer Herde, wenn er von der Versammlung spricht.

Wenn er in Milet zu den Ältesten von Ephesus spricht, sagt er in Apostelgeschichte 20,28: „Habt acht auf euch selbst und auf die ganze Herde, in der euch der Heilige Geist als Aufseher gesetzt hat, die Versammlung Gottes zu hüten, die er sich erworben hat durch das Blut seines Eigenen.“

Dann spricht der Herr von der Tatsache, dass die Schafe des guten Hirten seine Stimme hören werden. Wieder sind diese Worte keine Aufforderung (s. Joh 10,3), denn es ist typisch für ein Schaf des Herrn Jesus, dass es seine Stimme hört. Die Schafe aus dem jüdischen Hof hatten die Stimme des Hirten eine Zeit lang direkt gehört. Das war bei den anderen Schafen aus den Nationen nicht so, denn Er hatte seine Stimme nur in Israel hören lassen. Auch hier hilft die schon angeführte Stelle aus Epheser 2 weiter, weil wir dort den gleichen Gedanken haben. Wir hatten dort gelesen, dass der Herr aus Juden und Nationen eins gemacht hatte. Dann heißt es dort in Vers 17 weiter: „Und er kam und verkündigte Frieden, euch, den Fernen, und Frieden den Nahen.“ Es wird so ausgedrückt, als ob der Herr Jesus persönlich denen in der Ferne den Frieden verkündigt hatte. Aber Er tat das durch den Heiligen Geist (vgl. Joh 14,18), der die verschiedenen Werkzeuge zu diesem Dienst benutzte. Und so hörten und hören noch immer die Schafe aus den Nationen die Stimme des guten Hirten.

Diese Schafe werden nicht in einen neuen Hof geführt. Das Eins-Sein dieser Schafe wird bewirkt durch die persönliche Ausstrahlung und Anziehungskraft des Hirten. Er ist der Mittelpunkt der Herde. Wenn wir bewusst verwirklichen, dass es seine Autorität und seine Anziehungskraft ist, werden wir die gesegneten Folgen dessen erleben! Wir verstehen außerdem auch, dass jeder neue oder andere Zaun für diese eine Herde völlig gegen Gottes Gedanken wäre. Jedes Denken in Gruppen, jede Organisation irgendeiner Form ist absolut abzulehnen. Und überall da, wo etwas wie ein Zaun oder Hof wieder installiert werden soll, haben wir keinen Platz, denn es steht der Tatsache von dem einen Hirten und der einen Herde entgegen.

„Darum liebt mich der Vater, weil ich mein Leben lasse, damit ich es wiedernehme“ (V. 17).

Zum dritten Mal in diesen inhaltsreichen Versen spricht der Herr Jesus hier davon, dass Er sein Leben lassen würde. Bisher hatten wir dabei den Blickwinkel auf die einzelnen Schafe (s. V. 11) oder auf die eine Herde (s. V. 15) gehabt. Doch hier geht der Gedanke noch weiter. Hier zeigt uns der Herr, dass die Tatsache, dass Er sein Leben lässt, für den Vater ein neuer Anlass ist, Ihn zu lieben. Dass der Vater den Sohn liebt, haben wir schon mehrmals in diesem Evangelium vor uns gehabt (s. z. B. Joh 3,35) und werden es auch noch einige Male finden. Hier wird es jedoch mit der Tatsache verbunden, dass der Sohn sein Leben lässt. Der Vater hat den Sohn schon vor Grundlegung der Welt geliebt (s. Joh 17,24); und auch als Er als Mensch auf der Erde war, hat der Sohn dem Vater wiederholt neue Beweggründe gegeben, Ihn zu lieben. Mehrmals hat der Vater diese Zuneigung zu seinem geliebten Sohn vom Himmel her ausgesprochen (s. Mk 1,11; 9,7). Und doch sagt der Herr Jesus hier: „Darum liebt mich der Vater.“ Welch ein würdiger Träger der Liebe des Vaters! Mit aller Ehrfurcht können wir sagen, dass es wie eine Schuld des Vaters war, dem Sohn auf seine Hingabe eine solche Antwort zu geben.

Wir nehmen hier Anteil an der Wertschätzung des Vaters für das, was sein Sohn zu tun im Begriff stand. Es ist die Beschreibung des Werkes des Herrn in dem Charakter des Brandopfers, das ganz für Gott war (s. 3. Mo 1,9). Es geht hier nicht um den Charakter des Sündopfers, das den Bedürfnissen des schuldigen Menschen entspricht. Hier geht es um den Anteil des Werkes des Herrn Jesus, das nur für den Vater war. Und ganz besonders am Kreuz war Er Brandopfer; in den widrigsten Umständen, gegenüber den größten entgegenstehenden Mächten der Finsternis. Da hat Er bewiesen und gezeigt, was der Vater Ihm wert ist und hat in allem Ihm die Ehre gegeben, indem Er nicht von dem Weg des Gehorsams abgewichen ist – Er hat Ihn gehrt bis in den Tod. Mit Ehrfurcht und Anbetung und aller gebührenden Vorsicht dürfen wir sagen, das der Herr Jesus bereit gewesen wäre, Brandopfer zu sein, selbst wenn Er für keinen Menschen Sündopfer geworden wäre.

Angenehm für Gott und teuer war Dein Opfer, Jesu Christ,
dessen Duft im Leidensfeuer lieblich aufgestiegen ist.
Oh, wie Du Sein Herz erfreutest, als Du Dich im Tod Ihm weihtest,
als Dein Opfer vor Ihn kam, das Er wohlgefällig nahm!
Herr, Dein Kreuz, die schwerste Probe, machte völlig offenbar,
einzigartig, Gott zum Lobe, was in Deinem Herzen war:
Dein Entschluss, des Vaters Willen bis zum Letzten zu erfüllen,
Deine Liebe, Dich im Tod ganz zu geben Deinem Gott!
Er, nur Er kann voll ermessen Deines Opfers Wert und Preis.
Niemals wird Sein Herz vergessen, was Er hoch zu schätzen weiß:
Wie Dein Opfer sich verzehrte, Ihn verherrlichte und ehrte.
Tief befriedigt kann Er nun, Herr, in Deinem Opfer ruhn![1]

Es ist der geliebte Sohn des Vaters, der hier sein Leben lässt. Hier steht die Würde seiner Person vor uns; gerade Er lässt sein Leben an dem Ort, wo die Sünde alles verdorben hatte; Er hat alles getan, um die Majestät und Größe des Vaters zu ehren. Wir empfinden, dass es heiliger Boden ist, auf dem wir hier in diesen Versen stehen. Wir werden hier in die Gedanken des Vaters über den Sohn und des Sohnes über den Vater eingeführt – es gibt kaum etwas Erhabeneres im ganzen Wort Gottes! Es ist, als wäre uns ein Blick gestattet in die Bundeslade. In diesen beiden Versen liegen die Gottheit und die Menschheit des Herrn Jesus ganz nah beieinander. „Ich lasse mein Leben“ kann nur jemand sagen, der Gott ist; aber Er kann sein Leben nur lassen, weil Er zur gleichen Zeit wahrer Mensch ist.

Zeigt uns dieser Satz mit den beiden Begründungen (weil, damit), dass es zwei neue Anlässe für den Vater gibt, den Sohn zu lieben? Einmal in seiner Selbsthingabe bis in den Tod, und dann in seiner Auferstehung? Der Satzbau macht doch deutlich, dass das 'weil' die Begründung für die Liebe des Vaters ist. Aber wenn Er bereit ist, zur Ehre des Vaters in den Tod zu gehen und darin seine höchste und äußerste Hingabe zu beweisen, dann durfte das nicht die letzte Station für Ihn gewesen sein. Er hat die eigene göttliche Kraft, aufzuerstehen, damit nicht auch der kleinste Schatten eines Zweifels auf diesen äußersten Schritt fallen könnte, als wäre Er nicht auch im Besitz der Macht und des Rechts, aus den Toten aufzuerstehen.

„Niemand nimmt es von mir, sondern ich lasse es von mir selbst. Ich habe Gewalt, es zu lassen, und habe Gewalt, es wiederzunehmen. Dieses Gebot habe ich von meinem Vater empfangen“ (V. 18).

Hier haben wir weitere Tiefen und Höhen dieser wunderbaren Person vor uns. Wir sehen einerseits seine vollkommene Freiwilligkeit, indem Er sein Leben von sich selbst lässt. Andererseits zeigt uns dieser Vers aber auch seine vollkommene Unterwürfigkeit, weil Er darüber ein Gebot des Vaters empfangen hatte. Das sind Herrlichkeiten dieser Person, die wir kaum ergründen können. „Dein Wohlgefallen zu tun, mein Gott, ist meine Lust; und dein Gesetz ist im Innern meines Herzens“ (Ps 40,9).

Wir können bei diesen Worten, dass der Herr Jesus sein Leben lässt, an zwei Seiten denken: In seiner Liebe zu seinem Gott und Vater hat Er am Kreuz von Golgatha sein Leben gelassen. Es war zur tiefen Freude des Vaters, zu sehen, wie der Herr Jesus sich geopfert hat, wie Er in völliger Hingabe sein Leben dargelegt hat, ausgeschüttet hat in den Tod. Aber wir können auch die Seite sehen, was Er dort in der Hingabe seines Lebens getan hat, dass Er Gott in seinem Tod unendlich verherrlicht hat. Sind nicht beide Gesichtspunkte der Anlass für den Vater, Ihn zu lieben? Durch seinen Tod hat Er den Tod zunichtegemacht und Leben und Unverweslichkeit ans Licht gebracht (s. 2. Tim 1,10). Er ist der Anfang der neuen Schöpfung, wir sind jetzt jenseits des Todes. Und weil durch das Hingeben seines Lebens alles nach den Gedanken Gottes vollbracht war, konnte Er das Leben auch wiedernehmen.

Es gab niemanden, der dem Herrn Jesus das Leben nehmen konnte. Was die Verantwortung der Menschen betrifft, so haben sie Ihn umgebracht, sind seine Mörder geworden (s. Apg 2,23; 3,15; 7,52). Was aber das eigentliche Sterben des Herrn Jesus betrifft, konnte niemand Ihn antasten. Er selbst übergab den Geist (s. Lk 23,46; Joh 19,30). Die Menschen konnten Ihm das Leben nicht nehmen – und der Vater tat es nicht. Er hat es selbst gegeben, und das macht die Hingabe seines Lebens umso wertvoller.

Es gab also nur Einen, der diese Freiheit dazu besaß, und es gab auch nur Einen, der die Kraft und Souveränität besaß, das Leben zu geben und auch das Leben wiederzunehmen. Er hatte die Gewalt dazu, weil Er Gott, der Sohn, ist; der das Recht hat über das Leben (s. Joh 5,26); aber Er konnte es nur tun, weil Er Mensch war. Ein Gestorbener kann kein Leben wiedernehmen. Als Mensch war Er gestorben, aber auch im Tod hatte Er als Gott Gewalt, sein Leben wiederzunehmen.

Das, wozu Er selbst das Recht hat, hat Er jedoch als ein Gebot aus der Hand des Vaters angenommen. Auch in diesem Punkt war Er bereit, sich im Gehorsam unter den Vater zu stellen. Wie groß ist diese Person! Was Er in seiner Freiwilligkeit tat, entsprach genau dem Willen des Vaters; und indem Er tat, was Gott wollte, entsprach das genau dem, was Er freiwillig getan hat. Der Herr Jesus war in einen Bereich eingetreten, in den der Tod Einzug gehalten hatte; und in diesem Bereich legte Er sein Leben nieder – aber Er tat es im Blick darauf, dieses Leben wiederzunehmen. Dadurch bewies Er, dass der Tod besiegt ist, dass die neue Schöpfung begonnen hat. Diese wunderbare Tat war also gleichzeitig ein Akt freiwilliger Hingabe und ein Akt vollkommenen Gehorsams.

„Wiederum entstand ein Zwiespalt unter den Juden dieser Worte wegen. Viele aber von ihnen sagten: Er hat einen Dämon und ist von Sinnen; warum hört ihr ihn? Andere sagten: Diese Reden sind nicht die eines Besessenen; kann etwa ein Dämon der Blinden Augen auftun?“ (V. 19–21).

Nach diesem Höhepunkt in den Worten des Herrn Jesus folgt hier im Bericht des Johannes ein regelrechter Absturz. Als Antwort auf das hellstmögliche Strahlen des Lichtes folgt die größtmögliche Finsternis! Härteste Ablehnung folgt auf eine derartige Tiefe der vorgestellten Gedanken. Diese so tiefgehenden Worte des Herrn Jesus lösen wieder einen Zwiespalt unter den Juden aus. Schon in Johannes 9,16 gab es einen Zwiespalt wegen seines Werkes an dem Blindgeborenen, und darauf bezieht sich ja die eine der beiden Gruppen in Vers 21. Dieser Zwiespalt entstand unter denen, die in dem jüdischen Hof geblieben waren. Sie konnten von der Herrlichkeit seiner Person nichts verstehen und auch nicht von dem Segen, der durch Ihn für solche gekommen war, die Ihm hinaus aus dem Hof gefolgt waren.

Die größere Gruppe in Vers 20 zeigt größtmögliche Ablehnung und Verwerfung der Person des Herrn Jesus. Die Minderheit in Vers 21 dagegen war durch die Heilung des Blindgeborenen in gewissem Sinn in ihren Gewissen getroffen worden und zum Nachdenken gekommen – aber weiter ging es bei ihnen offenbar auch nicht. Der alte Simeon hatte von dem Herrn Jesus schon gesagt, dass „dieser gesetzt ist zum Fall und Aufstehen vieler in Israel und zu einem Zeichen, dem widersprochen wird“ (Lk 2,34).

Die Äußerungen der größeren Gruppe bedeuten eigentlich, dass nach ihrer Auffassung die Worte des Herrn Jesus satanisch motiviert seien. Eine schreckliche Lästerung der Person unseres Herrn! Es ging nicht nur um den Vorwurf, der Herr würde in der Kraft von Dämonen Wunder vollbringen (s. z. B. Mt 12,24; Mk 3,22), sondern sie schrieben Ihm zu, dass Satan selbst in Ihm wohnen würde. Ein furchtbarer Angriff gegen seine Person. Wir lesen dies jetzt schon zum vierten Mal im Johannesevangelium (s. Joh 7,20; 8,48.52; Joh 10,20).

Die kleinere Gruppe verbindet immerhin die Worte des Herrn Jesus mit seinen Taten. Ihre Fragestellung macht deutlich, dass die Antwort darauf ein klares Nein sein muss. Seine Taten mussten göttlichen Ursprungs sein (s. 2. Mo 4,11), deshalb konnten seine Worte nicht satanischen Ursprungs sein. Aber wie weit diese Äußerungen auch ein inneres Werk bei ihnen auslösten, können wir dem biblischen Bericht nicht entnehmen.

Schon in Vers 6 hatten wir gesehen, dass die Juden dieses Gleichnis von den Schafen und dem Schafhof nicht verstanden hatten. Aber der Zwiespalt entstand bei diesem Gleichnis noch nicht. Erst nachdem der Herr von den anderen Schafen gesprochen hatte, und auch davon, sein Leben zu lassen und es wiederzunehmen – wodurch Er sich als Sohn Gottes dargestellt hatte –, kam es hier zu diesem Zwiespalt. Damals wie heute ist es so, dass sich an den Worten des Herrn Jesus die Geister scheiden.


Fußnoten:

  1. Lied 183 aus „Kleine Sammlung Geistlicher Lieder“