„Jesus hörte, dass sie ihn hinausgeworfen hatten; und als er ihn fand, sprach er zu ihm: Glaubst du an den Sohn Gottes?“ (V. 35).
Von Vers 8 an haben wir nichts mehr von Worten oder Handlungen des Herrn Jesus selbst gehört. Offenbar war Er bei den verschiedenen Verhören, zu denen der Blindgeborene genötigt wurde, nicht anwesend. Er trat nur da auf, wo Gott Ihm einen Auftrag gab. Doch jetzt hört Er von dem, was mit ihm geschehen war, und dann findet Er ihn. Wo findet Er den Blindgeborenen? Draußen, außerhalb des jüdischen Systems, da, wo Er selbst hingegangen war (s. Joh 8,59). Dort begegnet Er dem, der auch außerhalb des jüdischen Systems ist. Zwei Ausgestoßene begegnen sich, von denen der Herr der Erste war, Ihm galt der Hauptangriff des Feindes.
Der, der sehend geworden war, dessen Zeugnis von seinem Heiland und Retter zunehmend deutlicher geworden war und der dafür hinausgeworfen wurde, der soll jetzt noch weitergebracht werden in der Erkenntnis dieser wunderbaren Person. Der, der um des Herrn willen hinausgeworfen worden ist, den wollte dieser Herr nicht allein lassen.
Nachdem der Herr ihn gefunden hat, beginnt Er ein wunderbares Zwiegespräch mit dem Blindgeborenen, in dem Er sich ihm als Sohn Gottes offenbart, in seinem wirklichen Wesen. Die Juden glaubten nicht an Ihn als den Sohn Gottes; würde der Blindgeborene glauben? Auf ihn trifft zu, was wir in Sprüche 4,18 lesen: „Aber der Pfad der Gerechten ist wie das glänzende Morgenlicht, das stets heller leuchtet bis zur Tageshöhe.“ Es gab bei ihm einen Augenblick, wo das Licht des Morgens in seine Seele fiel; und unter dem Druck der Verhöre nahm dieses Licht der Erkenntnis stetig zu. Und jetzt kommt er bei der Tageshöhe an. Er ist auf dem Weg des Lichts zu der Quelle des Lichts gekommen – zu dem Sohn Gottes! Er wuchs in der Gnade und Erkenntnis unseres Herrn und Heilandes Jesus Christus (s. 2. Pet 3,18).
Mehrere alte Handschriften haben hier die Worte 'Sohn des Menschen' (s. Fußnote Elberfelder Übersetzung, Edition CSV) statt Sohn Gottes. Diese unterschiedlichen Handschriften halten sich ungefähr die Waage. Bei der angemessenen Übersetzung ist es also nicht so sehr eine Frage des Handschriften-Befundes, sondern des Inhaltes. Obwohl der Herr Jesus im Johannesevangelium als der Sohn Gottes vorgestellt wird, spricht Er gerade hier mehr als in jedem anderen Evangelium von sich als dem Sohn des Menschen. Dennoch ist es das Evangelium des Sohnes Gottes und nicht das Evangelium des Sohnes des Menschen. Es ist also an dieser Stelle eine Frage der geistlichen Entscheidung, welchen Handschriften zu folgen ist. Das Johannesevangelium zeigt doch, dass wir hingeleitet werden sollen zu dem Glauben an den Sohn Gottes (s. Joh 20,31), und nicht zu dem, zu was Er sich gemacht hat. Wir sollen nicht allein an den Erniedrigten glauben, sondern an den Sohn Gottes. Nur Gott kann für sich beanspruchen, dass man an Ihn glaubt. Sohn des Menschen ist an sich ein prophetischer Ausdruck (s. z. B. Ps 8, Dan 7), der hier an dem Sinn dessen, was dem Blindgeborenen widerfährt, vorbeigeht. Es ist die gleiche Person, aber wir sollen nicht nur zum Glauben an seine Erniedrigung und an seine prophetische Stellung geführt werden, sondern zu seiner ewigen Herrlichkeit als Sohn Gottes.
Sohn Gottes beschreibt die höchste Herrlichkeit des Herrn Jesus. Das ist weit mehr als ein Prophet, das ist auch mehr als der von Gott gezeugte Sohn Gottes (s. Lk 1,35), es ist seine ewige Beziehung als Sohn innerhalb der Gottheit. Als Sohn Gottes ist Er der Einzige, der Gott offenbaren konnte. „Wer den Sohn nicht ehrt, ehrt den Vater nicht, der ihn gesandt hat“ (Joh 5,23). In vielen Gruppierungen von Gläubigen ist dieses Ehren des Sohnes und des Vaters überhaupt nicht bekannt. Johannes schreibt in seinem ersten Brief sogar davon, dass es das antichristliche Wirken ist, den Vater und den Sohn zu leugnen (s. 1. Joh 2,22b). Hinter den Kulissen wirkt er und möchte verhindern, dass diese höchste Herrlichkeit des Herrn Jesus zum Ausdruck kommt.
„Er antwortete und sprach: Und wer ist es, Herr, damit ich an ihn glaube?“ (V. 36).
Der Blindgeborene hatte den Herrn Jesus bis zu diesem Augenblick noch nicht gesehen. Und doch nennt er Ihn jetzt Herr. Viele gibt es, die „Herr, Herr!“ sagen, und es doch nicht so meinen (s. Mt 7,21; Lk 6,46). Doch dieser Mann unterstellt und unterwirft sich dem Herrn völlig. Er erkennt die ganze Autorität des Herrn als Mensch und als Sohn Gottes absolut an.
„Jesus sprach zu ihm: Du hast ihn ja gesehen, und der mit dir redet, der ist es“ (V. 37).
Der erste Schritt war, dass der Herr Jesus diesen Mann gefunden hatte, das ganze Wirken ging von Ihm aus. Mit seinen leiblichen Augen hatte der Blindgeborene den Herrn in diesem Augenblick zum ersten Mal gesehen. Aber durch die Werke des Herrn an ihm hatte er Ihn schon vorher gesehen. Das Werk, das der Herr an ihm getan hatte, offenbarte sofort, dass Er der Sohn Gottes war. Das sah er jetzt in Vollendung, weil diese Person direkt vor seinen Augen stand. Also hatte dieser Mann mit seinem geistlichen Auge den Herrn schon gesehen, bevor er Ihn mit seinen geheilten leiblichen Augen sah. Geht es uns nicht auch so? Jetzt sehen wir den Herrn Jesus mit unseren Augen des Glaubens, aber bald dürfen wir Ihn mit den Augen unseres verherrlichten Leibes sehen (s. 1. Joh 3,2) – und darauf freuen wir uns!
Für den Ausdruck 'gesehen' wird im griechischen Text ein Verb verwendet, das in diesem Kapitel nur an dieser Stelle steht. Es weist zum einen auf das Sehen des Auges hin, aber andererseits auch auf das Sehen im übertragenen Sinn. Der Blindgeborene hatte nicht nur gesehen, sondern auch erkannt, wer der Herr Jesus ist. Die Werke, die der Herr an ihm getan hatte, und auch die Worte, die Er jetzt mit ihm sprach, bezeugten, dass Er nicht nur ein Prophet war, sondern dass Er der Sohn Gottes war.
Mit ganz ähnlichen Worten hatte sich der Herr Jesus der Frau am Jakobsbrunnen zu erkennen gegeben (s. Joh 4,26). Sehen wir darin nicht auch etwas von seiner völligen Herablassung zu den Menschen? Eben noch hatte Er von sich als dem ewigen Sohn Gottes gesprochen, und jetzt sagt Er zu dem Blindgeborenen: „Der mit dir redet …“ Der ewige Sohn hat als Mensch auf dieser Erde mit ihm gesprochen. Wie tief hat Er sich doch zu uns herabgeneigt!
„Er aber sprach: Ich glaube, Herr; und er warf sich vor ihm nieder“ (V. 38).
Wir lernen in dieser Unterredung des Herrn mit dem Blindgeborenen zwei wichtige Grundsätze, die bis heute ihre volle Gültigkeit haben: Die volle Erkenntnis der Person des Herrn Jesus ist nur möglich außerhalb jedes religiösen Systems. Und wahre Anbetung der Person des Herrn Jesus ist auch nur möglich außerhalb der religiösen Systeme. Das mussten auch die gläubigen Hebräer lernen (s. Heb 13,13–16). Dieser Mann musste aus dem jüdischen System herausgeführt werden, damit er zur vollen Erkenntnis gelangen konnte, dass dieser der Sohn Gottes ist. Auch wir müssen zu Ihm hinausgehen, außerhalb des Lagers der religiösen Systeme; dann können wir durch Ihn Gott stets ein Opfer des Lobes darbringen.
Geistliches Wachstum bei dem Blindgeborenen entstand auch durch den Druck, dem er seitens der Juden ausgesetzt war. Doch um zu einem Anbeter zu werden, bedarf es der persönlichen Offenbarung des Herrn Jesus. Die Feindschaft und Ablehnung der Juden konnten ihn nicht dahin bringen, den Herrn Jesus als den zu erkennen, der Er wirklich ist. Dazu musste sich der Herr Jesus selbst in seiner ganzen Herrlichkeit vor sein Herz stellen.
Glaube war bei dem Blindgeborenen schon in Vers 7 notwendig; dort glaubte er dem Wort des Herrn, ging im Glaubensgehorsam zum Teich Siloam und wurde geheilt. Hier finden wir, dass der Glaube auch das Mittel ist, um den Herrn Jesus in dem zu erkennen, wer und was Er wirklich ist. Nicht menschliche Intelligenz, nicht theologische Ausbildung, keine logischen Gedankenführungen – allein der Glaube lässt uns erkennen, wer Er wirklich ist (vgl. Joh 14,10).
Sich vor Ihm niederzuwerfen bedeutet also, Ihn anzubeten. Johannes verwendet diesen Ausdruck ausschließlich für göttliche Verehrung und Anbetung. Das ist auch noch eine weitere Entscheidungshilfe für die Frage, ob in Vers 35 Sohn Gottes oder Sohn des Menschen zu lesen ist.
„Und Jesus sprach: Zum Gericht bin ich in diese Welt gekommen, damit die Nichtsehenden sehen und die Sehenden blind werden“ (V. 39).
In Johannes 8,15 hatte der Herr gesagt, dass Er niemanden richten würde, und in Johannes 3,17 lesen wir, dass Gott seinen Sohn nicht in die Welt gesandt hat, damit Er die Welt richte. Warum sagt Er jetzt doch, dass Er zum Gericht in die Welt gekommen ist? Es war nicht das eigentliche Ziel seines Kommens, dass es zum Gericht sein sollte; aber das Resultat, die Auswirkung der Ablehnung der Juden, war, dass sein Kommen für sie tatsächlich Gericht bedeuten würde.
Wir haben hier die letzte Botschaft des Herrn an alle Zuhörer vor uns, in der Er den Unterschied deutlich macht zwischen dem Unglauben, der verwirft, und dem Glauben, der annimmt. Man könnte den Ausdruck 'Gericht' auch als Unterscheidung verstehen. So finden wir es auch in Matthäus 25,31 ff., wo der Herr Jesus auf seinem Thron der Herrlichkeit sitzend vorgestellt wird. Auch dort wird Er Böcke und Schafe voneinander scheiden. Und die Konsequenz aus dieser Unterscheidung wird sein, dass die einen als Gesegnete in das Reich eingehen werden und die anderen als Verfluchte in das ewige Feuer kommen werden.
Der Blindgeborene ist ein Beispiel für die Nichtsehenden; die Juden hingegen als in ihren Augen Sehende, vermeintlich Sehende, würden blind werden. Ein ähnliches Wortspiel finden wir in 1. Korinther 1,18 ff., wo mit der Weisheit und der Torheit zwei gleiche Worte mit völlig gegensätzlichem Inhalt gebraucht werden: Die (vermeintliche) Weisheit der Menschen ist Torheit bei Gott, und das (in den Augen der Menschen) Törichte Gottes ist weiser als die Menschen.
Bei dem Gericht geht es also nicht unbedingt nur um eine Strafe für Ungehorsam und Widerstand, sondern einfach um die Unterscheidung zwischen dem einen und dem anderen, die aber letzten Endes dann auch im Gericht für die vermeintlich Sehenden enden wird. Das Kommen des Herrn Jesus als Licht der Welt hat diese unterscheidende Wirkung, dass es zwei Möglichkeiten gibt: Man kann einerseits anerkennen, dass man geistlicherweise nicht sieht, dass man blind ist – dann wird man durch den Glauben an den Herrn Jesus sehend. Man kann andererseits aber auch denken, dass man sehend sei und deshalb die Person des Herrn Jesus nicht annehmen. Das macht die eigene Blindheit offenbar und führt dazu, dass man in seiner Sünde bleibt (s. V. 41). Wer den Herrn Jesus auf diese Weise ablehnt, besiegelt, dass er unter dem Urteil Gottes steht und dem ewigen Gericht entgegengeht (vgl. Joh 3,18.19).
„Einige von den Pharisäern, die bei ihm waren, hörten dies und sprachen zu ihm: Sind denn auch wir blind? Jesus sprach zu ihnen: Wenn ihr blind wäret, so hättet ihr keine Sünde; nun aber, da ihr sagt: Wir sehen, bleibt eure Sünde“ (V. 40.41).
Allein mit dieser Frage machen die Pharisäer deutlich, dass sie meinen, Sehende zu sein. Und das zeigt nur, dass sie tatsächlich blind sind. Sie hatten das zwar nicht wortwörtlich gesagt, aber ihre Frage hatte ihre Überzeugung im Blick auf sich selbst deutlich gezeigt. Die Sünde ist die Ursache für ihre Blindheit; und weil sie den Herrn Jesus ablehnen, bleiben sie auch in diesem Zustand. Würden sie ihren blinden Zustand in einer anerkennenden und bußfertigen Haltung zugeben, könnte Gott handeln und ihre Sünde wegnehmen. Wenn man im Glauben anerkennt, in welchem Zustand man von Natur aus vor Gott ist, dann gibt es eine Möglichkeit zur Heilung. Aber wenn das nicht der Fall ist, würde die Sünde bleiben (vgl. Joh 8,24).
Es geht hier bei dem Ausdruck Sünde also nicht um die Tatsünden, die man begangen hat. In Johannes 15,22 ff. sagt der Herr im Blick auf die Welt zu seinen Jüngern: „Wenn ich nicht gekommen wäre und zu ihnen geredet hätte, so hätten sie keine Sünde; jetzt aber haben sie keinen Vorwand für ihre Sünde.“ Um welche Art von Sünde geht es da? „Wer mich hasst, hasst auch meinen Vater.“ Johannes beschreibt in seinem Evangelium die Sünde in dieser Eigenschaft, dass man den Sohn Gottes, den Sohn des Vaters, ablehnt und hasst und in diesem Hass auch den Vater hasst. Die Offenbarung des Vaters in dem Sohn abzulehnen, ist die schwerwiegendste Sünde, die es überhaupt nur geben kann. Wer also meint, er sehe und lehnt dabei den Sohn Gottes ab, auf dem bleibt diese Sünde. Auch in Johannes 8,21 hatte der Herr den Pharisäern gesagt, dass sie in ihrer Sünde sterben würden – der Sünde ihrer Ablehnung des Herrn Jesus als dem Erretter und damit die Offenbarung ihrer tiefen Sündhaftigkeit.
Diesen Wortwechsel könnten wir zum besseren Verständnis wie folgt ergänzen: „Sind denn auch wir blind (blind geworden durch das Nichtannehmen des Herrn Jesus)?“ „Wenn ihr blind wäret (wie der Blindgeborene, der anerkannt hatte, dass er nichts hatte und nichts wusste und Ihn annahm), dann hättet ihr keine Sünde (dann wäre die Sünde der Ablehnung des Herrn nicht vorhanden). Aber weil ihr sagt: Wir sehen (ihr seht mich aber nur vermeintlich), bleibt eure Sünde (die Sünde der Ablehnung meiner Person).“