Einleitende Gedanken zu Johannes 11

Die Kapitel 8–13 des Johannes-Evangeliums haben einen inneren Zusammenhang. In diesem Evangelium ist der Herr Jesus von Anfang an der Verworfene (s. Joh 1,11). In den Kapiteln 8–10 finden wir das in deutlichen Einzelheiten vorgestellt. In Kapitel 8 geht es um die Verwerfung seiner Person (s. Joh 8,19) und auch seiner Worte, wegen derer Er gesteinigt werden sollte (s. Joh 8,59). In Kapitel 9 sehen wir dann die Ablehnung seiner Werke darin, dass die Juden den geheilten Blindgeborenen aus der Synagoge hinauswerfen (s. Joh 9,34).

Nachdem die Ablehnung des Herrn durch die Juden so offensichtlich geworden ist, verlässt Er in Kapitel 10 den jüdischen Schafhof, indem Er seine eigenen Schafe mitnimmt. In den Kapiteln 11 und 12 zeigt Gott noch einmal eine wunderbare Zusammenstellung von verschiedenen Herrlichkeiten seines Sohnes. Wo sein eigenes Volk keine Wertschätzung dieser einzigartigen Person hatte, greift Gott selbst ein und lässt nicht zu, dass sein Sohn vor den Menschen als der Verworfene stehen bleibt. Er selbst stellt den Menschen die Herrlichkeiten seines Sohnes in einer Weise vor, wie sie zuvor nicht sichtbar geworden sind. In diesem Kapitel 11 wird Er als der Sohn Gottes vorgestellt (s. Joh 11,4), in Kapitel 12 sehen wir zunächst seine Herrlichkeit als König Israels (s. Joh 12,13) und dann als Sohn des Menschen (s. Joh 12,23). Am Ende von Kapitel 12 haben wir dann die traurige Aussage, dass die Juden trotz allem nicht an Ihn glauben (s. Joh 12,37).

Es ist sehr auffallend, dass der Herr Jesus in den vorhergehenden Kapiteln gerade in diesen drei Herrlichkeiten verworfen wird. In Johannes 8,28 spricht der Herr Jesus davon, dass die Juden den Sohn des Menschen an das Kreuz erhöhen würden. In Johannes 8,58 stellt Er sich ihnen als der ewige Sohn Gottes vor, deshalb wollten sie Ihn steinigen. Und wenn jemand Ihn als Christus bekennen würde, sollte er aus der Synagoge ausgeschlossen werden (s. Joh 9,22).

Deshalb beschäftigt sich der Herr Jesus dann in den folgenden Kapiteln nur noch mit den Seinen und bereitet sie mit wunderbaren Zusagen auf die Zeit vor, wo Er nicht mehr bei ihnen sein würde. Er führt sie in neue Beziehungen zu den Personen der Gottheit ein, die sie bis dahin überhaupt nicht kennen konnten.

Hier in Kapitel 11 wird besonders die Macht und Kraft dieser Herrlichkeit des Sohnes Gottes deutlich. Wir sehen hier wenigstens drei Blickwinkel, unter denen wir dieses Geschehen betrachten können. Ganz praktisch ist das ganze Kapitel geprägt von Tod, und es lässt in erster Linie den erscheinen, der die Auferstehung und das Leben ist. Zweitens sehen wir in diesem Geschehen auch ein prophetisches Bild des Volkes Israel. Dieses Volk ist durch die Verwerfung des Herrn Jesus unter das Urteil des Todes gekommen; aber wir wissen aus alttestamentlichen Bibelstellen, dass ein Überrest dieses Volkes einmal auferstehen wird, dass es einmal eine nationale Wiederherstellung eines Überrestes dieses Volkes geben wird (vgl. Dan 12,2). Lazarus allerdings ist nicht ein prophetisches Bild des Volkes Israel in dessen moralisch traurigem Zustand, sondern in dessen bestem Zustand. Das Volk Israel ist nicht nur in seinem Fehlverhalten von Unmoral und Götzendienst unter das Urteil des Todes gekommen, sondern es musste als Volk grundsätzlich unter dieses Urteil kommen, weil es ein sündiges Volk war. Die Annahme dieses Überrestes wird sein wie Leben aus den Toten (s. Röm 11,15). Der dritte Blickwinkel in diesem Kapitel zeigt uns den Zustand jedes einzelnen Menschen, der hier auf dieser Erde geboren wird – tot in Sünden und Vergehungen, unbrauchbar für Gott. Aber gerade für solche ist der Eine gekommen, der den Tod zunichtegemacht, aber Leben und Unverweslichkeit ans Licht gebracht hat (s. 2. Tim 1,10).

Gott gibt hier über den Herrn Jesus also ein weiteres Zeugnis, das unwiderlegbar ist. Es geht hier nicht nur um Krankheit und deren Heilung, sondern viel schlimmer: Der Tod und sogar die Verwesung waren schon eingetreten. Deshalb wird ein noch größerer Beweis seiner Macht und Herrlichkeit gegeben. Die positive Resonanz darauf finden wir in Kapitel 12 in drei Bereichen: in der Versammlung (s. Joh 12,1–8), in seinem irdischen Volk (s. Joh 12,12–19) und unter den Nationen (s. Joh 12,20–23). Diese drei Bereiche oder Gruppen finden wir auch am Ende dieses Evangeliums im Bild noch einmal: die Versammlung (s. Joh 20,19–23), den Überrest Israels (s. Joh 20,24–29) und die Nationen, die in das Reich eingehen werden (s. Joh 21,4–8).

Nach der vollständigen Ablehnung seines Sohnes zeigt Gott also in diesem Kapitel 11 noch einmal, wer dieser Verworfene wirklich ist, zeigt etwas von der Herrlichkeit des Sohnes Gottes. In Kapitel 11 sehen wir, was der Herr für die drei Geschwister in Bethanien war – sie gehen zu Ihm; und in Kapitel 12 sehen wir dann, was die drei Geschwister in Bethanien für den Herrn waren – Er ist bei ihnen.

Eine gewisse Einteilung dieses Kapitels können wir wie folgt vornehmen:

  • Vers 1–6: die konkrete Situation in Bethanien als Ausgangspunkt für die Entfaltung der Herrlichkeit des Herrn Jesus
  • Vers 7–16: der Herr Jesus bleibt zunächst an dem Ort, wo Er sich befindet – aber Er erklärt das auch
  • Vers 17–37: der Herr Jesus kommt nach Bethanien mit einem dreifachen Trost:
  • Er gibt Belehrungen über sich selbst
  • Er deutet an, dass Er sich dieser Lage annehmen wird
  • Er vergießt Tränen
  • Vers 38–44: der Herr Jesus handelt und erweckt Lazarus zum Leben
  • Vers 45–57: die Person des Herrn Jesus als der Entscheidungspunkt für jeden Menschen

Wir können dieses Kapitel auch ganz aktuell sehen: Der Herr Jesus ist als der Verworfene abwesend, es tritt eine Notsituation ein und die Lösung dieser Not steht in Verbindung mit seinem Kommen. Ist das nicht auch ein Bild unserer Zeit, in der wir leben? Der Herr Jesus ist noch verworfen, Er ist im Himmel, und viele Nöte nehmen in unserem Leben ihren Lauf. Und die endgültige Lösung dieser Not steht in Verbindung mit seinem Kommen zur Entrückung, wenn seine Auferstehungsmacht im Blick auf uns wirksam werden wird.

Krankheit bei denen, die der Herr liebt – doch der Herr bleibt (Vers 1–6)

„Es war aber ein Gewisser krank, Lazarus von Bethanien, aus dem Dorf der Maria und ihrer Schwester Martha“ (V. 1).

Der Ausgangspunkt dieses Kapitels ist noch nicht der Tod selbst, sondern die Krankheit von Lazarus. Menschlich gesprochen bestand noch Hoffnung auf Heilung. Die Schwestern hatten ja recht, wenn sie später zu dem Herrn sagten, dass Lazarus nicht gestorben wäre, wenn der Herr da gewesen wäre; denn in der Gegenwart des Herrn ist niemand gestorben. Aber wir sollen in diesem Kapitel lernen, dass dieses eingetretene Problem – sowohl für Israel als Nation als auch für den Menschen allgemein – nicht zu lösen ist. Der Zustand des Menschen ist hoffnungslos.

Die Bedeutung des Namens Lazarus ist: Gott ist Helfer, oder Gott hilft. Es ist die griechische Form des hebräischen Namens Elieser. Die Bedeutung seines Namens wird für Lazarus zur eigenen Lebenserfahrung. Wie tief hat er erlebt, dass Gott wirklich Hilfe ist und Hilfe gibt.

Wenn wir von diesen drei Geschwistern lesen, fällt auf, dass sie nicht immer in gleicher Weise erwähnt werden; in Vers 5 z. B. haben wir die Erwähnung der drei in einer anderen Reihenfolge als hier in Vers 1. Hier wird Lazarus zuerst genannt, weil er derjenige ist, um den es geht. Den ersten Teil dieses Satzes finden wir häufiger in den Evangelien, ohne dass ein Name hinzugefügt wird (s. z. B. Lk 16,19). Daraus können wir hier schließen, dass Lazarus einer der Seinen war, einer, der den Herrn angenommen hatte, denn der Herr ruft seine eigenen Schafe mit Namen (s. Joh 10,3).

Interessant ist, dass Lazarus an keiner der Stellen, an denen er erwähnt wird, etwas sagt; wir lesen nie davon, dass er etwas Tiefschürfendes spricht – er sagt überhaupt nichts. Martha am meisten und auch Maria haben ihre Worte, aber Lazarus ist ein stiller Bruder. Und doch hat er einen Eindruck hinterlassen. Bethanien ist heute eine Stadt im Westjordanland, und sie trägt den spöttischen arabischen Namen Al-Eizariya, was man mit 'Ort des Lazarus' übersetzt. Lazarus hat also einen Eindruck wegen seiner Verbindung zu dem Herrn Jesus hinterlassen. Das kann uns allen doch als Ermutigung dienen: Es kommt nicht so sehr auf unsere vielen Worte an, sondern auf unsere Verbindung zu dem Herrn Jesus. Wir können sicher sein, dass es viele Christen gibt, die in ihrem Leben zu den Stillen gehören, die aber ihr Leben in einer ganz engen Verbindung mit dem Herrn Jesus führen. Am Richterstuhl des Christus wird einmal gesehen werden, was für einen Eindruck sie hinterlassen haben.

Aus der Reihenfolge in Lukas 10,38–42 können wir schließen, dass Martha die ältere der beiden Frauen war und Maria ihre jüngere Schwester, es ist dort eher die natürliche Reihenfolge. Hier dagegen haben wir eine eher geistliche Reihenfolge des tieferen Verständnisses von der Person des Herrn Jesus, was ja auch der Klammersatz im nächsten Vers noch ausführlicher zeigt.

Zeitgenossen der drei Geschwister hätten Bethanien sicher nicht als das Dorf der Maria und ihrer Schwester Martha beschrieben. Es zeigt aber, worauf es dem Herrn Jesus ankommt und worauf sein Blick und sein Herz gerichtet sind: nämlich auf diejenigen, die Ihm angehören. Diese Beschreibung gibt uns die moralische Zuordnung Bethaniens, in Vers 18 finden wir die geografische Zuordnung: Es war das Bethanien, das ganz in der Nähe Jerusalems lag. Am Ende von Kapitel 10 hatten wir gesehen, dass sich der Herr Jesus gerade an dem anderen Bethanien jenseits des Jordan aufhielt (vgl. Joh 10,40 mit Joh 1,28).

„(Maria aber war es, die den Herrn mit Salböl salbte und seine Füße mit ihren Haaren abtrocknete; deren Bruder Lazarus war krank)“ (V. 2).

Warum wird diese Handlung der Maria hier schon erwähnt, da sie sich doch erst in Kapitel 12 ereignet? Überall, wo das Evangelium verkündigt werden würde, würde das, was Maria an dem Herrn getan hat, auch verkündigt werden (s. Mt 26,13; Mk 14,9). Da das Johannesevangelium erst sehr spät geschrieben wurde, hatten die Empfänger dieses Evangeliums von dieser Handlung der Maria sicher schon gehört. Und weil in Vers 2 zum ersten Mal in diesem Evangelium dieses Haus in Bethanien erwähnt wird, stellt Johannes unter der Leitung des Heiligen Geistes gleich klar, von welcher Maria hier gesprochen wird.
Hier wird nicht nur die Tat der Salbung erwähnt, sondern auch ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Maria die Füße des Herrn mit ihren Haaren abgetrocknet hatte. Das zeigt besonders ihre Haltung der Unterordnung und Demut bei dieser Tat. Sie musste sich mit ihren langen Haaren über die Füße des Herrn Jesus beugen, um sie abtrocknen zu können. Beides gehört zusammen: das, was wir tun, und in welcher Haltung wir es tun!

Die Vorwegnahme des Berichts von der anbetenden Handlung Marias in diesem Kapitel der Krankheit und des Todes von Lazarus zeigt uns aber auch ganz praktisch, dass Leid, Krankheit und Tod auch in das Haus solcher einziehen, die durch besondere Weihe und Hingabe an den Herrn Jesus gekennzeichnet sind. Auch in solchen Häusern gibt es das Problem, dass Gebete nicht sofort erhört werden. Wir sind ja manchmal nicht ganz frei von dem falschen Gedanken, dass uns ein Leben in besonderer Treue Übungen ersparen könnte. Aber wir sehen hier, dass auch solche Gläubigen nicht von derartigen Glaubensprüfungen verschont bleiben, wenn der Herr es für gut befindet. Das bewahrt uns andererseits auch vor dem Gedanken, dass das Vorhandensein von Krankheiten auf ganz konkrete Ursachen im Leben dieser Gläubigen zurückzuführen sei. Vor beiden falschen Annahmen müssen wir uns hüten.

Es gibt manche Antworten auf diese drängende Frage, warum in das Leben von Gläubigen auch Krankheit und Tod einziehen können. Aus Hebräer 12,6 lernen wir, dass der Herr den züchtigt, den Er liebt. In 1. Korinther 11,30 sehen wir, dass es auch eine Art Gericht sein kann, und dass unser Verhalten dazu führen kann, dass Gott uns in Züchtigung bringt. In 1. Petrus 1,6.7 wird die Bewährung unseres Glaubens in diesen Prüfungen betont, die zu Lob und Herrlichkeit und Ehre in der Offenbarung Jesu Christi ist. Aber hier in Johannes 11 haben wir noch einen weiteren, sehr schönen Gedanken in Verbindung mit solchen Nöten: Gott zeichnet den einen oder anderen dadurch aus oder erachtet ihn für würdig, dass Er ihm Prüfungen auferlegt, die Er einem anderen nicht auferlegen kann. Er allein weiß, wem Er dieses oder jenes auferlegen kann; vielleicht verherrlicht Er sich bei einem Stillen mehr als durch einen Bruder, der jahrzehntelang Vorträge gehalten hat. Durch stilles Dulden, Darunterbleiben und Ja sagen zu den Wegen Gottes in meinem Leben wird Gott verherrlicht. Es werden Wesenszüge Gottes in denen offenbar, die Er mit solchen Prüfungen belegt.

Dieser Vers verbindet Kapitel 11 und 12 auch untrennbar miteinander, denn beide Kapitel nehmen gegenseitig Bezug aufeinander (s. Joh 11,2; 12,1). Kapitel 11 zeigt die Herrlichkeit der Person des Sohnes Gottes, und Kapitel 12 zeigt uns dann die Antwort von Maria, die dieser Herrlichkeit des Herrn ihre Huldigung erweist. Diese Resonanz muss es auch in unserem Leben geben. Wenn Gott uns etwas von der Herrlichkeit seines Sohnes zeigt, sollte es bei uns eine Antwort in Anbetung und Huldigung geben. Es scheint daher, als würde der Heilige Geist mit diesem Vers schon darauf hindeuten, welches Ziel der Herr mit den Ereignissen dieses Kapitels verfolgt – der Vater sucht Anbeter (Joh 4,23).

„Da sandten die Schwestern zu ihm und ließen ihm sagen: Herr, siehe, der, den du lieb hast, ist krank“ (V. 3).

Die Schwestern senden zu dem Herrn Jesus, sie wissen, wo ihre Not am besten aufgehoben ist. Der Herr befand sich noch an dem anderen Bethanien jenseits des Jordan, ca. 50 km entfernt. Trotzdem wussten sie offenbar ganz genau, wo Er sich aufhielt, sie müssen seine Wege mit Interesse verfolgt haben, weil sie in ihren Herzen mit Ihm beschäftigt waren. Aber sie gingen nicht selbst; sicher sahen sie als die leiblichen Schwestern für sich noch Aufgaben in Bezug auf den kranken Bruder. Sie müssen aber auch ein gutes Verhältnis zu denen gehabt haben, die sie mit dieser Botschaft sandten, denn diese sind auf ihre Bitte hin auch gegangen.

Wichtig ist jedoch, dass sie ihre Not dem Herrn Jesus vorlegen, und auch ganz einfach nur die Tatsache schildern. Sie bitten um nichts, und sie machen auch keine Vorschläge. Sie gehen nicht weiter, als dass sie Ihm ihre Not schildern, sie schütten ihr Herz vor Ihm aus (s. Ps 62,9). Darin bringen sie ihr Vertrauen zu Ihm und ihre Abhängigkeit von Ihm zum Ausdruck. So ist es auch mit unseren Gebeten: Der Herr weiß natürlich längst schon alles, was uns bewegt, aber Er freut sich auch über unser Vertrauen und unsere Abhängigkeit.

Jede Krankheit ist eine allgemeine Folge des Sündenfalls und eine Erprobung unseres Glaubens. Und wir sollen einerseits – wie die Schwestern hier – diese Not vertrauensvoll dem Herrn bringen. Aber andererseits dürfen wir auch in Anspruch nehmen, was wir an medizinischer und auch praktischer Hilfe in einer solchen Situation bekommen können. Wir wollen in diesen Dingen auch ausgewogen sein: Wir setzen unser Vertrauen nicht auf die Ärzte, sondern auf den Herrn. Doch wir dürfen auch das in Anspruch nehmen, was wir an Hilfen bekommen.

In dem Wort, das die Schwestern hier für die Liebe des Herrn gebrauchen, wird besonders die Zuneigung betont; die tiefe Zuneigung des Herrn zu solchen, die zu seinen Schafen gehören. Man könnte hier auch sagen: „Siehe, dein Freund ist krank.“ Es bestand also zwischen dem Herrn Jesus und Lazarus eine enge Verbindung.

Dieser kurze Satz ist ein regelrechtes Modell für ein glaubensvolles Gebet, denn es lehrt uns mehrere Dinge. Das erste Element ist, dass sie Ihn Herr nennen. Wenigstens unserer inneren Haltung nach muss ein Gebet so beginnen. Es bedeutet, Ihn als Autorität über sich anzuerkennen; Er hat jede Vollmacht und verfügt über alles, und wir überlassen Ihm voller Vertrauen auch alles. Je inniger unsere Beziehung zu dem Herrn Jesus ist, umso größer wird unsere Ehrfurcht vor Ihm sein. Je mehr wir mit der Person des Herrn Jesus Gemeinschaft pflegen, umso größer wird Er – und wir werden umso kleiner!

Anschließend folgt das siehe; damit wecken wir sein Interesse und gehen davon aus, dass Er das gleiche Interesse an dem Anliegen hat wie wir. Dann berufen die Schwestern sich drittens auf die Liebe des Herrn zu ihrem Bruder. Es gibt auf dieser Erde nichts, was dem Herzen des Herrn näher ist, als die, die Er liebt, für die Er sein Leben gegeben hat. Sollte Er für die nicht ein herzliches Interesse haben, für die Er am Kreuz gestorben ist? Und als Viertes schildern sie den Anlass ihrer Not: Lazarus ist krank. In dem griechischen Wort klingt an, dass sich die Sache (diese Krankheit) erschöpft, dass es zu Ende gehen kann; sie betonen damit den ganzen Ernst und die Dringlichkeit der Situation.

Wie beten wir im Blick auf Krankheit oder andere Nöte? Ist nicht oft unsere erste Bitte, dass der Herr das wegnehmen möge? Hätten wir mehr den Gedanken, dass Er sich darin verherrlichen kann, dann kann es gerade in tiefem Leid der Fall sein, dass, wenn Er dunkle Wolken über unser Leben führt, Er auch seinen Bogen in diese Wolken setzt und dadurch etwas von seiner Treue und seiner Herrlichkeit zeigt. Und das ist letztlich für uns zum großen Segen.

„Als aber Jesus es hörte, sprach er: Diese Krankheit ist nicht zum Tod, sondern um der Herrlichkeit Gottes willen, damit der Sohn Gottes durch sie verherrlicht werde“ (V. 4).

Der Herr Jesus hat die Botschaft der Schwestern gehört. Diese Gewissheit dürfen auch wir in unseren Umständen haben: Wir sagen unserem Herrn die Not, und wir sind sicher, dass Er uns hört. Ehrfurcht und Vertrauen in unseren Gebeten finden immer eine Antwort. Wir teilen unserem Herrn in Ehrfurcht vor Ihm unsere Not mit und vertrauen darauf, dass Er handelt. Natürlich wusste der Herr schon längst vorher um die Krankheit von Lazarus; Er musste nicht erst durch die Botschaft der Schwestern davon hören. Der ewige Gott, der Sohn, der alles weiß, hört zugleich als der vollkommene Mensch, der ein Bewusstsein von den befürchteten Folgen dieser Krankheit hat, zu – wunderbare und unergründliche Person!

Auf diese Botschaft gibt es auch eine Antwort, und wir können in den nächsten Versen eigentlich drei Punkte finden: Zuerst spricht der Herr Jesus davon, was die Absicht Gottes in dieser Krankheit ist. Als Zweites wird uns die Liebe des Herrn zu diesen drei Geschwistern versichert. Und als Drittes finden wir, dass der Herr Jesus noch zwei Tage an dem Ort bleibt, wo Er war. Auch wenn der Herr nicht so handelt, wie es die Schwestern sicher erwartet hatten, wird doch vorausgeschickt, dass Er sie liebt.

Der Herr sagt mit seinen Worten übrigens nicht, dass Lazarus nicht sterben würde, sondern Er sagt, dass das Endergebnis dieser Krankheit nicht der Tod ist, dass sie nicht den Tod als finalen Zustand zum Ziel hat. Diese Krankheit hat ein ganz anders Ziel, sie ist um der Herrlichkeit Gottes willen, damit der Sohn Gottes durch sie verherrlicht werde. Die Schwestern konnten aus diesen Worten des Herrn in der griechischen Sprache entnehmen, dass, egal was auch immer in der nächsten Zeit geschehen würde, auf keinen Fall der Tod das Endergebnis sein würde. Nicht Tod, sondern Herrlichkeit als das Endergebnis, genügt das nicht für ein gläubiges Herz? Es war nötig, dass Lazarus starb, damit diese Herrlichkeit Gottes als der, der über dem Tod steht, sichtbar werden konnte.

Hier haben wir eine spezielle Gelegenheit, die wir nicht so ohne Weiteres in unsere Lebensumstände übertragen können. Gott wollte durch die Auferweckung des Lazarus seine Oberhoheit über den Tod deutlich machen, und die ganz persönliche Herrlichkeit seines Sohnes, der die Auferstehung und das Leben ist, vor allen sichtbar machen.

Es wird hier nicht gesagt: „um der Herrlichkeit Gottes willen, und damit der Sohn Gottes durch sie verherrlicht werde.“ Hier ist gemeint, dass die Herrlichkeit Gottes in dem Sohn auf dieser Erde sichtbar wird. Der Sohn soll so geehrt werden wie der Vater (s. Joh 5,23). Die Herrlichkeit Gottes auf der Erde sollte hier in der einen Person sichtbar werden, das war die Absicht Gottes. Es ist das Bestreben des Vaters, dass seine göttliche Herrlichkeit hier auf der Erde durch den Sohn sichtbar wird. Und der Sohn wiederum tut alles, damit die Herrlichkeit Gottes gesehen wird. Wunderbare Beziehung zwischen dem Vater und dem Sohn, und dem Sohn und dem Vater!

Die Herrlichkeit des Sohnes Gottes würde ganz besonders durch Toten-Auferstehung sichtbar werden (vgl. Röm 1,4), darin, dass Er Kraft und Macht hat über den Tod. Natürlich bezieht sich Römer 1,4 zuerst auf seine eigene Auferstehung, aber die Formulierung ist durch den Heiligen Geist so gewählt, dass auch schon im Dienst des Herrn Jesus sichtbar wurde, dass Er Macht über den Tod hat.

Aus den Worten des Herrn an Martha in Vers 40 können wir entnehmen, dass den Schwestern diese Botschaft aus Vers 4 auch überbracht worden war. Wie werden sie diese Worte verstanden oder aufgenommen haben? Es wurde doch immer schlimmer mit ihrem Bruder, und er starb doch. Wie oft werden sie über diese Worte nachgesonnen und sich gefragt haben, was der Herr damit gemeint haben könnte. Diese Botschaft forderte ihren Glauben heraus; einen Glauben, der nicht auf das Sichtbare schaut, sondern das als Wirklichkeit nimmt, was man nicht sehen kann. In diesen Worten kam ja deutlich zum Ausdruck, dass die Krankheit ihres Bruders kein Schicksalsschlag war, sondern dass Gott damit ein Ziel hatte, nämlich, seine Herrlichkeit zu zeigen. Ihre Verantwortung bestand nun darin, darauf zu warten, wie sich in dieser ausweglosen Situation wohl die Herrlichkeit Gottes zeigen würde. War das nicht auch ein Trostwort für die Schwestern?

In diesem Kapitel sollte sich die größte Offenbarung der Macht und Herrlichkeit des Sohnes Gottes im Johannesevangelium erweisen. Der Herr Jesus stand im Begriff, sich als die Auferstehung und das Leben zu offenbaren; als derjenige, der die Kraft hat, einen Menschen, der seit vier Tagen im Tod liegt, in das Leben zurückzurufen. Aber das sagt Er nicht, sondern spricht davon, dass die Krankheit um der Herrlichkeit Gottes willen geschieht. Wahrhaftig eine beispiellos bescheidene Ausdrucksweise angesichts dieser gewaltigen Machterweisung. Er suchte diese Gelegenheit nicht für sich selbst, sondern um der Herrlichkeit Gottes willen.

Die Antwort des Herrn Jesus zeigt auch seine Allwissenheit; Er hatte ein vollkommenes Wissen um die ganze Situation in diesem Haus in Bethanien. Das gibt uns Mut, wenn wir uns darauf stützen, dass der Herr auch in unserem Leben jedes Detail kennt. Der zweite Teil seiner Antwort macht deutlich, dass Er auch mit jedem Detail in unserem Leben eine Absicht hat; jede einzelne Not in unserem Leben dient einer bestimmten Absicht Gottes.

Jesus hörte (s. V. 4) – Jesus liebte (s. V. 5) – Jesus kam (s. V. 17) – Jesus vergoss Tränen (s. V. 35) – Jesus spricht (s. V. 39). Wunderbare Beschreibungen der Anteilnahme des Herrn Jesus, die auch uns gilt, wenn es in unserem Leben Zeiten der Not gibt.

„Jesus aber liebte Martha und ihre Schwester und Lazarus“ (V. 5).

In dieser Aufzählung der drei Geschwister steht Maria im Hintergrund, es wird noch nicht einmal ihr Name erwähnt. Martha steht in dieser Aufzählung an erster Stelle. Sie war es, die von dem Herrn bei einer anderen Gelegenheit einen liebevollen Tadel erhalten hatte, und das wird auch in diesem Kapitel noch einmal so sein. Aber die Liebe des Herrn ist nicht davon abhängig, ob Er uns vielleicht einmal tadeln muss. Seine Liebe zu Martha wird hier zuerst erwähnt. Und es ist dieselbe Liebe, die Er auch zu Maria und zu Lazarus hat, auch wenn der Herr noch weiter wartet.

Nachdem der Herr die Botschaft von der Krankheit des Lazarus gehört hatte, beginnt dieser Vers mit einem „aber“. Wir hätten erwartet, dass Er sich sofort auf den Weg nach Bethanien gemacht hätte oder Lazarus aus der Ferne geheilt hätte, aber genau das Gegenteil ist der Fall. Wir lesen im nächsten Vers, dass der Herr noch zwei Tage wartete. Der Vers 5 zeigt uns also, dass dieses Warten auch ein Teil der Liebe des Herrn zu den drei Geschwistern war.

In diesem Vers steht ein anderes Wort für Liebe als in Vers 3. Dort ging es um die Liebe eines Freundes, um natürliche menschliche Zuneigungen. Hier in diesem Wort haben wir ein höheres Niveau, hier geht es um die göttliche Liebe, die nicht nur liebt, weil Not da ist. Die göttliche Liebe braucht keinen Anlass in dem Gegenstand ihrer Liebe, sie liebt, weil sie Liebe ist.

„Als er nun hörte, dass er krank sei, blieb er noch zwei Tage an dem Ort, wo er war“ (V. 6).

Der Verlauf des ganzen Kapitels zeigt uns vier Gründe, aus denen der Herr Jesus noch diese beiden Tage an seinem Ort blieb. Der Hauptgrund ist sicher die Darstellung der Herrlichkeit Gottes. Aber Er hatte auch die Absicht, den Glauben der Jünger zu stärken (s. V. 15) und den Glauben Marthas zu stärken (s. V. 40). Außerdem blieb Er auch noch um der Volksmenge willen (s. V. 42). Wenn es in unserem Leben Situationen gibt, die wir nicht verstehen, dürfen wir uns daran erinnern, dass der Herr auch mit diesen Situationen eine Absicht verfolgt. Er möchte sich verherrlichen, aber auch unseren Glauben stärken, indem Er uns besondere Erfahrungen seiner Liebe machen lassen will, die wir wohl ohne solche notvollen Umstände nicht machen würden.

Der Herr blieb also noch zwei Tage an seinem Ort. Warum zwei Tage? Aus Vers 11 können wir entnehmen, dass Er gewartet hat, bis Lazarus gestorben war. Er brauchte ungefähr zwei Tage für den Weg nach Bethanien, und als Er dann in Bethanien ankam, lag Lazarus schon vier Tage in der Gruft (s. V. 17) und seine Verwesung hatte wahrnehmbar eingesetzt. Er wartete also, um durch das Wunder der Auferweckung seine göttliche Herrlichkeit noch strahlender hervorkommen zu lassen.

Der Herr ließ sich nie von natürlichen Gefühlen oder von äußeren Umständen leiten. Das erinnert uns an das Speisopfer, das ja das vollkommen reine und makellose Leben des Herrn Jesus als Mensch auf der Erde vorstellt, und nicht mit Honig dargebracht werden durfte (s. 3. Mo 2,11). Er hat nie etwas getan, ohne das Licht des Vaters darüber zu haben (s. V. 9); sein oberster Antrieb war immer die Verherrlichung des Vaters.

In diesen Versen steht die Seite seiner vollkommenen Menschheit vor uns. Der Herr Jesus war in diesen zwei Tagen, die Er noch wartete, innerlich vollkommen ruhig, weil Er noch keinen Auftrag des Vaters hatte. In seiner Abhängigkeit war Er so vollkommen, dass Er einerseits das Richtige tat, aber andererseits tat Er das Richtige auch zum richtigen Zeitpunkt. Und erst als das Licht des Willens des Vaters seinen Weg erhellte, ging Er in völliger Übereinstimmung mit diesem Willen und in völliger Abhängigkeit nach Bethanien. Bei Ihm gab es keinen Konflikt zwischen seiner Zuneigung zu Lazarus und der Abhängigkeit von dem Willen seines Vaters. Bei Ihm war immer alles in vollkommener Harmonie. Bei uns ist der Wunsch, unseren Weg in Abhängigkeit von dem Willen des Vaters zu gehen, mit Übungen und Fragen verbunden; aber der Herr Jesus war in diesen Dingen innerlich völlig ruhig – einzigartig steht Er als der vollkommene Mensch vor uns, der in dem Licht des Willens des Vaters seinen Weg gegangen ist!

Er wusste, in welch dringlicher Erwartung die Schwestern auf die Rückkehr der Boten gewartet haben mussten, und Er kannte ihre Empfindungen, als die Boten ohne Ihn in Bethanien ankamen. Er wusste auch, was es sie für sein musste, ihren schwerkranken Bruder bis in den Tod hinein zu versorgen und doch zu erleben, dass er trotz ihrer liebevollen Bemühungen starb. Das alles war dem Herrn in seinem vollkommenen innigen Mitgefühl (s. Jak 5,11) völlig bewusst, und wie sehr wird Er in diesen vier Tagen für sie gebetet haben. Und doch blieb Er – wie wohltuend, dass der Heilige Geist hier betont, dass Er diese drei Geschwister nicht nur freundschaftlich liebte, sondern mit seiner wunderbaren göttlichen Liebe.

Wenn der Herr also unmittelbar nach der Botschaft der Schwestern losgegangen wäre, wäre Er erst zwei Tage nach dem Tod von Lazarus angekommen. Er hätte Lazarus also auf keinen Fall lebend in Bethanien angetroffen. Natürlich hätte Er Lazarus auch aus der Ferne heilen können, wie Er es in anderen Fällen getan hatte. Aber warum hat Er dann noch zwei Tage gewartet, wenn Er sowieso nicht rechtzeitig angekommen wäre? Die Antwort liegt darin, dass Lazarus vier Tage im Grab sein sollte – ein noch nie dagewesener Fall, weder im Alten Testament noch im Neuen Testament. Und gerade durch die Auferweckung eines schon so lange Gestorbenen würde die Macht und die Herrlichkeit Gottes besonders herausgestellt werden.